Die Zeit berühren. Walter Kaufmann
Читать онлайн книгу.war gewiß, würden schon ihrer Sprache wegen nicht mehr ausrichten als ich.
»Redet nicht so verquer«, bat ich sie, »sonst landen wir nirgends und erfrieren im Wald.«
Schlomo zog die Schultern ein und betrachtete mich über die Achsel. »Wer wird reden«, fragte er. »Du wirst reden.«
Der Eisenbahner, der im Fenster des Bahnwärterhauses lehnte, sah mich lange an. »Keine Bleibe, was«, meinte er. »Drei obdachlose Judenjungen.«
Dabei hatten die Brodskis noch kein Wort gesagt. Ich spürte, daß sie mir etwas vorwarfen, fand sie im Recht und trat einen Schritt zurück.
»Wird keinen Sinn haben, hier um Quartier zu bitten«, meinte ich zu dem Eisenbahner.
Statt einer Antwort sagte er das von den drei Affen, von denen einer nichts hört, der zweite nichts sieht, der dritte nichts sagt.
»Könnt ihr es so halten?« fragte er.
Es war warm im Bahnwärterhaus, im Kanonenofen brannte knackend das Holz, und wir schliefen fest auf dem harten Boden, hörten weder den Streckenmelder noch das Rattern der Züge. Es war schon hell, als uns der Eisenbahner mit dampfendem Muckefuck weckte.
Wir tranken die Becher leer und dankten ihm.
»Drei Affen«, warnte er uns. »Ihr wißt Bescheid.«
»Werden wir es nicht wissen«, sagte Schlomo achselzuckend und stieß uns dabei an.
Der Mann stutzte. »Was soll das heißen?«
»Von uns erfährt keiner was«, versprach ich schnell.
»Besser auch«, sagte der Mann, »und nun ab mit euch.«
Er sammelte die Becher ein. Und dann radelten wir nach Köln zurück.
Wallstraße
Berlin 1979
Es war behaglich in der Wohnküche, Gespräche flossen dort leichter, dieses aber kam nur zustande, weil wir unter vier Augen waren – und es hat mich erschüttert.
War ich auch Deutschen meiner Generation stets mit Vorsicht begegnet, Johannes R. nicht. Seiner Offenheit, seines freundlichen Wesens wegen hatten sich die Grenzen zwischen uns schnell aufgehoben. Ich mochte ihn, war ihm zugetan, auch vom Äußeren war er mir angenehm – ein mittelgroßer Mann mit dichtem grauen Haar, hoher Stirn und buschigen Brauen über tiefliegenden blauen Augen, die aufmerksam, dabei nicht ohne Schalk, in die Welt blickten. Er galt als ein Graphiker, der mit sparsamsten Strichen zum Wesentlichsten vorzudringen verstand und allen Büchern, die er ausstattete, einen besonderen Glanz verlieh. Zu einem Zusammenwirken zwischen uns aber war es nie gekommen. In seinen Zeichnungen lag meist etwas Humoriges, oft auch Komisches, das zu meinen Arbeiten nicht passen wollte. Im Leben aber paßten wir gut zusammen, waren gleichermaßen gesellig und den Künsten aufgeschlossen. Auch liebten wir beide das Meer und verbrachten manch gemeinsame Woche dort.
Natürlich war er, wie fast alle Männer seines Jahrgangs, im Krieg gewesen. Nie aber hatte ich ihn mir im Einsatz vorstellen können, und seine Erinnerungen an Franzosenmädchen und norwegische Bauernfamilien, die ihn, den jungen Soldaten, wie einen Sohn aufgenommen hatten, waren mir glaubhaft erschienen – er wird auch damals schon gesellig gewesen und mochte sehr wohl in die Haut eines Franzosen geschlüpft sein, der Zivilkleider und eine Baskenmütze trug, oder in die eines rustikalen Norwegers in Kordhosen und kariertem Hemd.
An jenem Abend aber, Angesicht zu Angesicht in der Wohnküche, sah ich ihn plötzlich breitbeinig in Stiefeln vor mir, Johannes R. in Wehrmachtsuniform, neunzehn Jahre jung und mit der Maschinenpistole im Anschlag – und zwanzig Meter vor ihm stürzen Männer, Frauen und Kinder in die Gräben von Babi Jar.
Warum beichtet er, preßt er sich, aschfahl im Gesicht, jene grauenvollen Erinnerungen von der Seele, und warum hat er in all den Jahren geschwiegen?
Die Fragen stehen mir in den Augen und er erkennt sie.
»Weil ich nicht länger schweigen kann«, beteuert er. »Und du sollst wissen, ich war nicht freiwillig dort, es war Befehl. Aber keiner konnte mir befehlen, daß ich irgendwen töte. Glaub mir das! Meine Kugeln gingen über die Köpfe.«
Wenige Wochen später verstarb Johannes R. an Krebs im Krankenhaus – und hat meine Zweifel an seinen Worten mit in den Tod genommen.
Herz Jesu Fehrbelliner
Berlin 1989
Freitagabend war es, dunkel längst im November, als ich vor einem plötzlichen Regenguß Zuflucht suchte. Ich sah mich um, im matten Licht glänzten milchig die Fenster der Herz Jesu Kirche, schwach hörte ich Orgelklänge und Gesang, und als ich eintrat, mich leise dem Altar näherte, war ich einbezogen in die Messe. Der Pfarrer bemerkte mich gleich und seine Blicke blieben wohlwollend, auch als ich mich nicht bekreuzigte, nicht betend niederkniete, und es mochte sein, daß er meinetwegen Worte von der Güte und Gerechtigkeit des Herrn gegen jedermann in seine Predigt fügte. Was er noch sagte, drang nicht in mich ein. Zu beziehungslos schien es mir zu den Ereignissen, die das Land erschütterten. Als die Gebete gebetet, die Lieder gesungen waren und ich den Pfarrer den goldenen Kelch hoch emporheben sah und wie er den alten Frauen und Männern, die zur Heiligen Kommunion gekommen waren, vom Leibe Jesu gab, war er mir fremd und fern. Längst hatte er mir seine Anteilnahme entzogen und wie von weither nur berührte mich jetzt die Messe. Bald schon verebbten die Orgelklänge unter dem hohen, steinernen Gewölbe, und ehe noch der Kirchendiener die Kerzen gelöscht und den Kelch fortgetragen hatte, war die kleine Schar der Gläubigen gegangen.
Ich aber blieb. Gebannt vom Anblick einer jungen Frau, die noch immer inbrünstig betete, blieb ich halb verborgen von einem Pfeiler in der Kirche zurück. Sie war eine schöne Frau mit blondem, hochgestecktem Haar über wohlgeformter Stirn, ihr Mund war wohlgeformt, und ihre Augen, die jetzt sehr dunkel wirkten, blickten nach innen. Lange hielt sie die Augen mit den Händen verdeckt und senkte dabei den Kopf. Jetzt aber kniete sie aufrecht und mit erhobenem Kopf, die gefalteten Hände vor die Brust gepreßt. Und weil die Zeiten waren, wie sie waren, sah ich unter den Tausenden, die seit dem Sommer außer Landes geflohen waren, einen ihr nahestehenden Menschen, die Tochter, den Sohn, den Mann, glaubte zu ahnen, daß sie sich selbst mit dem Aufbruch ins Ungewisse trug.
Weit hinter uns waren die Schritte des Kirchendieners zu hören und daß eine Tür ins Schloß fiel, und weil ich fürchtete, sie würde aufblicken und mich sehen, ging ich schnell davon. Sie abzupassen und zu befragen, verbot sich, und doch ist mir, als wüßte ich, was sie so insbrünstig beten ließ.
Knokke
Belgien 1929
Die Anrede »kleiner Mann« war mir schon vor meinem fünften Jahr geläufig, und spätestens seit jenem Sommer, als ich in Madonnas Obhut war, hielt ich ihn für treffend. Sie war achtzehn, zierlich, mit großen braunen Augen und braunem Haar, war mein Kindermädchen und ich nannte sie Donna. Ich wollte nicht, daß man sie für mein Kindermädchen hielt – hätte aber nicht sagen können, für was sonst. Ich fand sie schön und es paßte mir, daß ich erkrankte und sie mich, während die Eltern sich am Strand oder auf der Promenade des Seebads ergingen, im Hotelzimmer betreuen mußte.
Draußen strahlte die Sommersonne. Ich lag im Bett bei der offenen Verandatür und sonnte mich. Das Fieber plagte mich weniger als daß da ein Gitter war zwischen mir und Donna, ein Dutzend weiße Holzlatten, und ich wünschte sehr, sie möge das Gitter herunterklappen. Sie tat es nicht und sicher entging ihr, daß ich deswegen schmollte.
Bald hörte ich nicht mehr hin, mochte sie auch noch so anheimelnd aus dem Märchenbuch lesen, mir ihr französischer Tonfall noch so melodisch in den Ohren klingen. Ich wollte das Gitter entfernt haben. Wie aber sollte ich das begründen? Verstohlen probierte ich, ob sich ein Fuß zwischen die Latten zwingen ließ. Es schmerzte, doch es gelang. Und mit dem Fuß berührte ich Madonnas Knie. Weil sie es duldete, hörte ich bald gar nichts mehr, gingen mir die Märchen völlig verloren. Wonniglich ließ ich meinen Fuß, wohin ich ihn geschoben hatte, und spürte ihre samtweiche Haut überm Strumpf. Die Zeit verging