Das schöne Fräulein Li. Peter Brock
Читать онлайн книгу.schaut ihn nicht einmal an, er ordnet seine Unterlagen. Er ist gern Deutscher – aber dieser Ausländerhass, dieser billige! Kappe findet das widerwärtig. «Würden Sie ihn wiedererkennen?», fragt Kappe.
«Sicha! Aber ick würd ihn nich verraten, nicht ausliefern an diesen Memmenstaat. Er hatte sicha seine Jründe, so wat zu tun, auf dies Jesocks einzuprügeln, meine ich.»
«Es wäre aber strafbar, den Täter nicht zu nennen», entgegnet Kappe angewidert. «Und außerdem, das Opfer war kein Gesocks, es war ein Chinese. Ein Mensch wie Sie und ich.»
«So? Meinen Sie? Die kommen hierher, verdienen sich mit gefälschtem Nippes dumm und dämlich und machen die Mietpreise kaputt, weil se zu viel zahlen für die letzten Absteigen, so dass unsere Leute keene Unterkunft mehr finden. Und wenn se jut aussehn, poussieren se auch noch mit unsere Mädels. Nee, da hab ick keen Mitleid nich!»
«Das alles wissen Sie so genau?», fragt Kappe.
«Jawoll ja! Einem Kollegen isses so jegangen. Der hat seine Kammer verloren inner Krautstraße, weil die Wirtin von’ nem Chinesen mehr bekommen hat. Und als ihm dann die Hand ausjerutscht is und er dem Schlitzauge mal Bescheid jestoßen hat, issa auch noch vorm Kadi jelandet.»
«Und Sie rechtfertigen diese Körperverletzung auch noch?», fragt Kappe.
«Körperverletzung? Das war Notwehr! Nationale Notwehr sozusagen. Wir sind doch hier in Deutschland!»
Kappe merkt, dass das Gespräch mit Brückmann nur als Belastungsprobe für die Nerven taugt, und beschließt, dass dafür in seinem Leben Klara eine ausreichende Trainingspartnerin ist. Wer aus Brückmanns Umfeld wann in eine Chinesen-Schlägerei verwickelt war, das wird er mal gesondert prüfen, oder er wird es gar nicht prüfen. Denn dass Brückmann nicht der Täter sein kann, ist klar. So, wie das Opfer durch die Tritte zugerichtet wurde, hätte der Täter Blut an Schuhen und Hose haben müssen. Brückmann darf also gehen.
Und auch Kappe geht. Dorthin, wo das Opfer lebte. In Berlin gibt es 38 Kabaretts und jeden Tag schönere, jüngere Nackttänzerinnen, die die neue Freiheit der Sitten nutzen. Näheres weiß Kappe freilich nur von seinem Freund Gottlieb Lubosch, auch Liepe genannt, dem Adlon-Kellner, der sich im Nachtleben auskennt.
Es gibt Menschen in der Stadt, die ordern in Revuetheatern den Champagner nur flaschenweise, die schicken ihren Chauffeur zum Kokainkauf in die Friedrichstraße, und manchmal bringt der dann auch gleich noch ein, zwei leichte Mädchen in Pelz und Hut auf dem Rücksitz der Duxschen Pullmann-Limousine mit. Wer kann und will, der lässt es sich gutgehen. Besser als je zuvor. Manche aber werden durch die viele Reklame, die nun auch an Laternenpfählen hängen darf, unzufrieden. Sie glauben, zu kurz gekommen zu sein, und wollen ein größeres Stück vom Kuchen abhaben. Natürlich ohne es sich leisten zu können.
Diese Diskrepanz kann, kriminalistisch gesehen, zum verbotenen Eigentumserwerb unter Zuhilfenahme von unrechtmäßigen Handlungen führen, erinnert sich Kappe an das einst auf der Polizeischule Gelernte, an das er gerade denken muss, als er am Schlesischen Bahnhof aussteigt. Kurz gesagt, mancher mordet, um an Geld zu kommen, andere, wie Klara, wollen einfach nur ein neues Kleid mit Fledermausärmeln. Auch das ist teuer. Man denke nur an die Stoffverschwendung dieser modischen Schnitte. Andererseits, nackt kann Kappe seine Klara auch nicht aus dem Haus gehen lassen, seit der zweiten Geburt sowieso nicht mehr. Dick ist sie geworden.
Er schämt sich für solche Gedanken, als er an Mietskasernen in den Farben Blassgrau, Hellgrau und Dunkelgrau vorbei zum gelben Viertel marschiert.
Das kennen nicht viele in Berlin. Nur selten liest man in der Zeitung davon. Zwar ist es, mit New York verglichen, nur ein klitzekleines Chinatown, aber immerhin wohnen hier viele Händler.
Auch Kappe hatte sich bislang nicht sonderlich um dieses Viertel gekümmert. Mit der Farbe Gelb, stellt er nun fest, hat es nur rudimentär zu tun. Schön wär’s, wenn’s so wäre, denkt er sich: sonnengelbe Vorderhäuser, zitronengelbe Seitenflügel und maisgelbe Hinterhäuser. Er verharrt noch für einen Moment in diesem Tagtraum. Dann ist er angekommen im Geviert der Markusstraße, der Langen Straße, der Kraut- und der Andreasstraße, wo die chinesischen Händler hausen.
Zu sagen, ihre Hautfarbe sei gelb, wäre vermessen. Sie ist eher ein ockerartiges Grau.
Die Häuser sind wie überall in den Armutsvierteln des neuen, seit 1921 dank der Eingemeindungen auf gut 3,8 Millionen Einwohner angewachsenen Groß-Berlin tristgrau. Und das ist weniger eine Farbe als vielmehr ein Zustand.
Notausgänge aus diesem Leben gibt es hier in dieser Gegend häufiger als sonst wo. In jedem zweiten, dritten Haus ist eine Budike oder ein Bouillonkeller untergebracht. Nichts glänzt wie in den großen Revuetheatern, allenfalls die Augen der Betrunkenen. Aber flüchten aus dem Alltagsdasein, das hier gleichbedeutend ist mit auf engstem Raum zur Untermiete Wohnen, oft ohne elektrisches Licht und Bad, das kann man in diesen Gaststätten. Dazu braucht man keine Glitzerwelt, nur Alkohol. Und den gibt es, viel und billig. Und wem das nicht genügt, der macht endgültig Schluss. Eine Flucht ohne Wiederkehr, ein Sprung aus dem vierten Stock oder ein Schuss mit einem der Revolver, die es ja an jeder Ecke zu kaufen gibt.
1200 Mal im Jahr gelingt so eine letzte, endgültige Flucht in Berlin. Diese Zahl aus der polizeilichen Statistik hat sich Kappe gemerkt. Also jede Woche 23 Selbstmörder.
Weiter kommt Kappe in seinen melancholischen Gedanken nicht. Das ist auch gut so. Er ist ja weder Reichsbedenkenträger noch Heilsarmee-Oberst. Und jetzt ist er erst einmal pitschepatschenass, stinkt und wird von drei kleinen Chinesen ausgelacht, von denen keiner älter ist als vier.
Sie tragen trotz des eisigen Windes Hosen mit einem Schlitz am Hintern. Das spart Windeln.
Aber Kappe ist nicht danach, sich über nackte Kinderpopos zu amüsieren. Er klaubt sich erst einmal die Pilzreste aus den Haaren, die zusammen mit dem brackbraunen Wasser über ihn kamen.
Jemand hatte getrocknete Holzohrpilze eingelegt und das Wasser auf die Straße gekippt. Freilich ohne zuvor zu schauen. Wer schaut hier auch schon gerne aus dem Fenster, sieht man doch eh nur armselige deutsche Arbeitslose, schwer an ihren achteckigen Kollektionskoffern tragende Chinesen, Falschspieler und Betrüger, die am nahen Schlesischen Bahnhof Ankömmlingen aus der Provinz einen passenden Empfang bereiten wollen.
Wenn das Wasser wenigstens warm gewesen wäre, denkt Kappe, oder nach Rosenblüten geduftet hätte. Und nun kommt auch noch jemand, der versichert, ihn nicht hauen zu wollen. Na immerhin!
Die kleine Frau, nicht älter als dreißig, mit den tiefschwarzen Augen, den hochgesteckten rabenschwarzen Haaren und dem engen kohlenschwarzen Kleid verbeugt sich vor Kappe nun schon zum dritten Mal und sagt etwas, das wie «Nie hau!» klingt, und fügt dann noch so etwas wie «Hinn bau tschienn!» hinzu.
Dass sie ihn nicht hauen will, was ihr angesichts seiner körperlichen Überlegenheit auch schwergefallen wäre, freut Kappe, und dass sie erkennt, dass etwas «hin» ist, nämlich seine Unversehrtheit, das weiß er zu schätzen. Nur ob diese mit Hilfe eines Herrn Tschienn wiederaufzubauen wäre, daran zweifelt Kappe. Eines jedenfalls wird ihm schlagartig bewusst: Es wird schwer werden, den Mord an einem Chinesen aufzuklären, wenn man dessen Sprache nicht spricht. Aber Chinesisch lernen, das weiß Kappe, das geht gar nicht.
Dass die Frau zu ihm nur «Guten Tag!» und «Entschuldigen Sie!» sagte, das wird er eines Tages noch erfahren. Bis jetzt aber weiß Kappe nur, dass er wie ein begossener Pudel dasteht.
Die Chinesin versucht, ihn mit einem gräulichen Küchenhandtuch, das sicher eine Waschbrettallergie hat, trockenzureiben. Sie reicht mit ihren Armen kaum an seinen Kopf heran. So gelingt es Kappe, die gut gemeinte Hilfe galant abzuwehren und den dreckigen Lappen von seinem Körper fernzuhalten.
Unterdessen ist er, beinahe unbemerkt, der Mittelpunkt einer kleinen Menschenansammlung geworden. Zu den drei Kindern, die Kappe mit Pilzwasser auf dem Kopf so lustig finden, sind weitere Chinesen und auch ein paar Deutsche gekommen.
Kappe gehört nicht hierher, das sieht man an seinem Straßenanzug. Er kauft seine Hemden und Hosen zwar meist auch nur bei C&A in der Königstraße, gleich in der Nähe des Polizeipräsidiums