Das Akkordeonspiel. Gerald Netsch

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Das Akkordeonspiel - Gerald Netsch


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Luft zum Atmen. Ihre Lebensgeister kommen langsam wieder. Harald dreht das Wasser ab, lässt sie auf den Boden sacken.

      „Ich lasse mich scheiden“, sind seine letzten Worte, bevor er die Wohnung verlässt.

      Wenige Tage später erfährt Annemarie, dass sie im dritten Monat schwanger ist. Wieder erfasst sie Panik. Harald hat sich seit ihrem Suizidversuch nicht mehr sehen lassen. In Verzweiflung, weil sie mit einem Kind vollkommen überfordert ist, so meint sie, bleibt ihr nur der Abort, ein Kindsabtrieb. Sie weiß aus dem Elternhaus, wie ihre Mutter das mehrfach erfolgreich angestellt hat. Fest entschlossen, nicht noch ein Kind zu bekommen, trifft sie alle Vorkehrungen. Aber weder heißer Rotwein mit Nelken noch Sprünge vom Küchentisch oder eine Klistierspritze, die sie sich bis zum Gebärmuttermund schiebt, zeigen Wirkung. Auch ein Gesprächsversuch mit Harald ändert nichts an der verfahrenen Situation. Er habe die Scheidung bereits eingereicht, das Kind sei ihm wurscht, so sagte er, Alimente würde er zahlen, aber eine verbotene Abtreibung zu arrangieren, käme für ihn nicht infrage. Er ließe sich sein Leben nicht verpfuschen. Sie solle selber sehen, wie sie zurechtkäme, aber ohne ihn. Schließlich gibt sie den Versuch auf, sich gegen die Natur zu stemmen. Vier Tage zu früh gebärt sie einen gesunden Sohn, Wolfgang nennt sie ihn, und ist nun alleinerziehende Mutter. Die Scheidung ist durch, sie erhält fünfundvierzig Mark monatlichen Unterhalt, und das Leben geht weiter.

      Tränen rinnen über ihre Wangen. Längst hat sie auch die eiserne Reserve „Lockwitzer“ zur Hälfte in sich hineingeschüttet. Verbitterung hat sie in Besitz genommen, beeinflusst sie, macht sie zum willenlosen Spielball ihrer Gefühle. Sie denkt an ihre Eltern, an ihre Kindheit. Sie, das ungewollte Kind, zur Welt gekommen mit pechschwarzen Haaren, hellbrauner Haut und dunklen großen Augen. Der Vater hatte sich von der Wiege abgewandt und vor sich hingesagt „Zigeunerkind“. Das war das Brandmal auf der Haut ihrer Seele. Das ungeliebte Kind, zum Achtel abstammend vom Ururgroßvater, Italiener, Zigeuner.

      Durch all die Jahre der Kindheit hat sie dieser Makel begleitet. Die Brüder werden vom Vater hochgehalten. Die dürfen so gut wie alles. Die Mädchen, und insbesondere Annemarie, stehen hinten an. Sie ist die Drittälteste der Geschwister und das erste Mädchen in der Großfamilie. Vielleicht deshalb war die Enttäuschung beim Vater so groß, die Verachtung so spürbar. Sollte es doch der dritte Junge werden, und dann das: eine Zigeunergöre. Insgesamt siebenmal probt er noch die Zeugungsfähigkeit, einmal war es eine Totgeburt. Seine Frau hat schon immer Angst, wenn es mit ihm mal wieder durchgeht. Dann hängt Vaters Unterhose über dem Bettende und sie muss fügsam sein, gehorsam und willig. Im Geheimen hofft sie von Monat zu Monat, dass der Kelch an ihr vorübergeht, sie nicht schon wieder schwanger ist. Einige Male muss sie zur „Kräuter-Erna“ gehen, mit Brot, Wurst und Eiern, was doch zuhause kaum entbehrlich ist. Sich krümmend vor Schmerz kommt sie dann am späten Abend zurück mit blutverschmierten Schenkeln. Das sind im Leben der Großfamilie die einzigen Tage, an denen der Vater sich um die Kinder kümmert, sie versorgt und ins Bett bringt. Still, ohne Worte funktioniert die Verständigung zwischen den Eheleuten.

      Annemarie wird mit 14 Jahren aufs Land verschickt. Zur Entlastung der deutschen Mutter, deren Mann an der Ostfront kämpft. Das sind zwei gute Jahre. Die Bauern sind freundliche Ersatzeltern, kinderlos, mit kleiner Wirtschaft. Ein Dutzend Hühner, drei Gänse, zwei Schafe und die Milchkuh „Paula“, so hat Annemarie sie heimlich getauft. Sie geht den beiden zur Hand so gut es geht. Sie putzt das Haus, füttert die Kleintiere und zieht mit auf das Feld, um Rüben zu stechen. Zu essen gibt es reichlich, man ist Selbstversorger. Alles, was die Wirtschaft nicht hergibt, wird getauscht, gehandelt oder erworben, indem Familienschmuck, Möbel oder Gerätschaften den Besitzer wechseln. Kurz vor Kriegsende, als die Amerikaner immer näher rücken, muss Annemarie mit einem der letzten Züge zurück nach Chemnitz. Dort wird sie wieder in die Familie aufgenommen, ohne Frage, wie es ihr ergangen ist. Sie spürt die Blicke der Geschwister, die nun das wenige Essen auch noch mit ihr teilen müssen. Sie ist unerwünscht, ungeliebt von der Mutter, vom Vater, der weit weg ist. Vielleicht ist es aber auch die Zeit, die Umstände, das Leben selbst, wovon man nicht so viel erhoffen kann, in den Jahren der Not, stets umgeben vom Tod, dem täglichen Kampf ums Überleben. Was kann man da schon erwarten? Annemarie fügt sich ihrem Schicksal und hofft sehnsüchtig auf bessere Zeiten. In Gedanken ist schon alles vorgezeichnet. Sie will ausbrechen aus diesem düsteren, stinkenden Milieu, begehrt werden von Männern, auf Händen getragen werden. Vermögend, ja, das wäre gut. Ein Ehemann, der erfolgreich ist, sie liebt, verwöhnt, ihr schöne Sachen kauft, mit Schmuck beschenkt. Kinder – nein! Sie will keine Kinder. Das ist Ballast. Das ist eine Last, die sie nicht zu tragen gewillt ist. Tief im Inneren spürt Annemarie wieder die Verachtung, die ihr die Kindheit zur Hölle machte. Sie ist stumpf, ohne Gefühl, verbittert, ausgegrenzt aus dieser Welt. Ja, eine Ausgestoßene, das trifft es.

      Mit letzter Kraft setzt sie das Glas an die Lippen, schluckt hastig. Wie eine Verdurstende schlingt sie den Rest „Lockwitzer“ in sich hinein. Dann fällt das Glas zu Boden, hinterlässt auf dem Teppich einen dunklen Fleck, der sich rötlich in die vorhandene Fleckenlandschaft einfügt. Annemarie ist nicht mehr fähig, sich in ihrem Schicksal zu bemitleiden. Die Kraft ist ausgegangen. Heute will sie nicht mehr kämpfen, sich nicht mehr im Streit mit ihrem Ehemann behaupten. Sie will nur noch ihre Ruhe finden, sie, das Zigeunerkind.

      Irgendetwas flackert vor meinen fest geschlossenen Augen. Die Grautöne verändern sich. Ich will mich darauf konzentrieren, aber es funktioniert nicht. Je intensiver ich versuche, das Geschehen zu deuten, desto mehr sacke ich ab in den unendlichen Raum, beginnt mein Körper zu kreisen. Immer schneller werden die Bewegungen um meine eigene Achse. Mal kopfüber, dann seitlich mit schlapp herabhängenden Gliedern, einem gefühllosen Rumpf, so geht es immer weiter in den endlosen Abgrund. Ich kann nichts aufhalten, nichts beeinflussen. Ich bin schutzlos ausgeliefert. Ich ergebe mich dem Schicksal.

      Grelles Licht blitzt auf, die warme Augustsonne brennt auf der Haut. Ich fühle das Leinenhemdchen auf dem Oberkörper, spüre, wie die Hitze sich darunter breitmacht. Aus meiner Festung heraus, umgeben von geklöppelter Spitze, beginne ich zu erkunden. Mama sitzt auf einer Bank, neben ihr die rauchige Stimme mit dem Bronchialhusten.

      „Stell dir vor, Anni, hat mich doch gestern ein Kerl angesprochen und nach dir gefragt“, informiert Eva geheimnisvoll.

      „Und weiter?“, fragt Annemarie neugierig.

      „Na, er würde dich gern treffen. Er hat uns letzte Woche gemeinsam gesehen. Er ist so abgefahren auf dich, Wahnsinn, eben Südländer. Sieht übrigens aufregend aus, schwarze gelockte Haare und Augen, sag ich dir, wie ein Stier.“

      Mit den Fingern bildet Eva Kreise um die Augen, schaut hindurch und ein Lachen, begleitet von kleinen Hustern, deutet die Zwiespältigkeit ihrer Aussage an. Annemarie hat verstanden, denkt: „Ich bin verheiratet, habe zwei Kinder. Das geht nicht.“

      „Hast du ihm gesagt, dass ich gebunden bin und Kinder habe?“, fragt sie mit einer Prise Entrüstung.

      „Dass du verheiratet bist, schon. Dass du Kinder hast, muss er ja nicht unbedingt wissen. Also, organisieren wir ein Stelldichein oder nicht?“

      „Ist ja gut“, gibt Annemarie zurück, „und wie soll das abgehen?“

      „Ganz einfach. Du triffst dich mit ihm in der ‚Libelle‘ am Samstag, nachdem wir deinen Mann k. o. gesetzt haben. Du hast selbst gesagt, er verträgt wenig. Wenn er genügend intus hat, schlummert er friedlich ein und wird durch nichts mehr wach.“

      „Das stimmt schon, aber ‚Libelle‘ scheidet aus. Da bin ich bekannt wie eine Straßennutte. Dort bringt mich keiner mehr rein“, resümiert Annemarie mit einem keuschen Augenaufschlag.

      „War ja nur ein Vorschlag. Pass auf, ich hab’s“, sprudelt es aus Eva heraus. „Wir drehen die Party einfach um. Ich komme zu euch, bring vorsichtshalber noch Hochprozentiges mit, und wenn dein Mann in die ewigen Jagdgründe entschwunden ist, gehen wir einfach zu mir“, triumphiert Eva, sie ist sich sicher, den perfekten Plan entworfen zu haben.

      „Und was ist mit den Kindern?“, fragt Annemarie besorgt.

      „Und was ist, wenn


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