Hochsensibel - und trotzdem stark!. Reinhold Ruthe

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Hochsensibel - und trotzdem stark! - Reinhold Ruthe


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angenommen.

      Ihre Eindrücke, ihre Wahrnehmungen und Empfindungen gehen weit über das Normale hinaus. Sie werden abgelehnt und ziehen sich zurück.

      Seit über 40 Jahren praktiziere ich Seelsorge, Beratung und Therapie. In den ersten Jahren habe ich die Probleme, die hohe Sensibilität und die gesteigerte Erregung dieser Ratsuchenden nicht einordnen können. Ihre Introversion ist dabei oft nur die Folge ihres Rückzugs, weil sie nicht verstanden werden. Nach meinem Dafürhalten erleben wir in unseren Kirchen, Gemeinden und in der Beratungspraxis viele Menschen, die sensibel, hochsensibel und empfindlich reagieren. Alle Ratschläge,

       nicht zu übertreiben,

       nicht alles auf sich zu beziehen,

       nicht so hellhörig auf viele Erlebnisse zu reagieren,

       nicht in den Rückzug zu gehen,

       sich nicht die Probleme anderer auf die eigene Seele zu laden,

      sind zwar gut gemeint, aber nehmen den „Lastenträger“ nicht ernst.

      Heute habe ich den Eindruck, dass

       viele Menschen mit großen Ängsten,

       viele Depressive,

       viele Borderline-Gestörte,

       viele Burnout-Gefährdete zusätzlich mit Hochsensibilität befähigt sind.

      Oft wird in erster Linie Frauen diese Eigenschaft zugeschrieben. Doch Forschungen belegen, dass Mädchen und Jungen bei der Geburt gleich stark von einer erhöhten Sensibilität betroffen sind. Außerdem habe ich als langjähriger Seelsorger die Erfahrung gemacht, dass wir in zunehmendem Alter sensibler, feinfühliger, aber auch empfindlicher werden.

      Das Buch will die Unterschiede zwischen weniger sensitiven und stark sensitiven Menschen verdeutlichen. Was sind die Gründe und Ursachen für die Entstehung? Was heißt es für die Betroffenen, die besonders begabt, gesegnet sind und gleichzeitig schnell an ihre Leistungsgrenzen kommen? Was bewegt sie, oft mehr zu fragen, detaillierter zu denken und vieles reichhaltiger wahrzunehmen?

       Was haben uns diese Menschen zu sagen?

       Was sind ihre Stärken, was sind ihre Schwächen?

       Wie gehen wir mit ihnen um?

       Wie können sie lernen, sich in der Welt wohl zu fühlen, ohne Rückzug zu praktizieren?

       Wie gehen diese Menschen mit sich selbst um?

       Und wie können wir ihnen helfen, wenn ihnen die Schwierigkeiten über den Kopf wachsen?

      Wie kann der Hochsensible den christlichen Glauben leben? Denn in der Regel ist er der Gründliche, der Gewissenhafte, der Ernste, der Gottes Wort hoch einschätzt.

       Sein feines Gespür durchdenkt Gottes Wort tiefer,

       seine Empfindlichkeit lässt ihn in der Gemeinde zum Randsiedler werden (das müssen Verantwortliche in der Gemeinde verhindern),

       seine Verletzlichkeit verführt ihn zum Rückzug, der ihn einsam und unsicher macht,

       seine Wahrnehmungsfähigkeit verschafft ihm ein besonderes Gehör für Gottes Botschaften. Gaben und Fähigkeiten sind Geschenke und Belastungen zugleich.

KAPITEL 1

       Ich will raus aus der Isolation!

      Eine Dame ruft mich an. Ihre Stimme klingt zaghaft, sie räuspert sich einige Male, macht sich offensichtlich Mut zu sprechen.

      „Spreche ich mit Herrn Reinhold Ruthe?“

      „Ja, der ist am Apparat!“

      „Nach schrecklich langem Hin und Her habe ich mich überwunden. Ich muss aus meiner Einsamkeit raus. Wissen Sie, ich fühle mich in meinem Leben wie eingesperrt. Können Sie mir helfen?“

      „Ich hoffe. Wenn Sie mich besuchen und wir einen Termin finden, suchen wir beide nach einer Lösung.“

      Zum vereinbarten Termin erscheint an der Tür eine schlanke, unruhig und hektisch wirkende junge Frau. Im Flur wandern ihre Augen nach allen Seiten. Im eiligen Rundumblick erfasst sie alles, den Teppich auf dem Boden und die Bilder an den Wänden.

      Blitzartig erscheint auf ihrem Gesicht ein Lächeln:

      „Sie malen ja auch, Herr Ruthe!“

      Eine Antwort wartet sie nicht ab.

      „Darf ich noch mal eben zur Toilette?“ Ich nicke.

      Das Zeichen an der Toilettentür hat sie längst gesehen.

      Ich warte im Wohnzimmer, und wir gehen gemeinsam in mein Arbeitszimmer.

      Meine Hand weist ihr einen Stuhl zu.

      Schwer atmend lässt sie sich in den Sessel fallen.

      „Komisch“, sagt sie, „lange vor Mittag bin ich schon mit meinen Kräften an der Grenze.“

      Die Augendeckel gehen ein paarmal auf und zu, dann wandern ihre Blicke wieder an den Wänden entlang. Die Stirn kraust sich. Sie versucht, Buchdeckel oder sogar Titel zu entziffern.

      „Sie möchten über Ihre Einsamkeit sprechen“, beginne ich das Gespräch, „können Sie den Arbeitsauftrag für uns beide noch einmal formulieren?“

      Sie reißt ihre Augen herum, blickt intensiv nach innen und denkt angestrengt nach. Dann schaut sie mich lange an.

      „Einige Male habe ich schon eine Partnerbeziehung gehabt. Jedes Mal waren wir hochgradig verliebt, dann ging die Beziehung auseinander. Ich war häufig eingeschnappt, ich war beleidigt. In den Augen der Männer reagierte ich zu empfindlich. Ich sei eine viel zu sensible Seele, ich sei komisch, sagten sie mir.“

      „Und wie schätzen Sie sich selbst ein?“

      „Ja, ich bin kritisch, ich reagiere anders als die meisten anderen. Darum habe ich mich auch zurückgezogen.“

      Sie atmet tief durch und richtet sich im Sessel auf.

      „Viele sehen in mir eine Außenseiterin, und das macht mich unglücklich.“

      „Wenn Sie auf einer Skala von 1 – 10 Ihre Sensibilität, Ihre Empfindlichkeit, Ihre Feinfühligkeit darstellen sollten, welche Zahl würden Sie wählen? Die 1 bedeutet eine äußerst geringe Sensibilität, die 10 die höchste Stufe.“

      Sie gestikuliert mit ihren Händen, zieht eine sehr krause Stirn und blickt nach innen:

      „Mir scheint, ich muss die 10 wählen. Meine Art fällt aus dem Rahmen. Das merke ich auch im Büro als Arzthelferin.“

      „Was fällt Ihnen da in der Beziehung zu anderen auf?“

      „Ich leide bei allen Patienten unendlich mit. Alle Probleme nehme ich mir zu Herzen. Ich sehe, wie die Krankheiten ihnen zu schaffen machen. Ich kann das nicht einfach abschütteln.“

      „In welchem Alter haben Sie das entdeckt?“

      „Schon in der Schule. Man hielt mich überall für schwierig. Viele sonderten sich ab, und ich war allein. Auf dem Schulhof stand ich abseits. Ich litt unendlich. Und ich sehe und fühle die bösen Gedanken der anderen. Seelisch sind die meisten stärker als ich. Ich kann nicht mithalten.“

      „Sie sagen, Sie sehen, wie die Patienten in Ihrer Praxis leiden! Offensichtlich haben Sie ein feineres Empfindungsvermögen als andere. Ist das richtig?“

      Die Dame nickt auffallend.

      „Die


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