Karl May. Jens Böttcher

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Karl May - Jens Böttcher


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      »Sie haben den Leihschein falsch ausgefüllt!«

      »Wieso das denn?«

      »Der Autorenname stimmt nicht. Es kann ja wohl kaum sein, dass Karl May selbst ein Buch mit dem Titel ›Die Wahrheit über Karl May, von einem dankbaren Leser‹ geschrieben hat!«

      Die Dame an der Theke des Deutschen Literaturarchivs in Marbach liegt falsch, obwohl sie mich zunächst erfolgreich verunsichert. Ich bin zum ersten Mal hier im Bibliothekssaal, um als angehender Abiturient für ein Referat zu recherchieren. Einige Minuten später wird die 1901 erschienene Broschüre zusammen mit anderen historischen May-Veröffentlichungen aus den Katakomben des Archivs angeliefert. Ich werde an diesem Tag noch auf manches Kuriosum zu Karl May stoßen. Mein bisheriges Bild von ihm wird völlig auf den Kopf gestellt.

      Karl Mays Reiseerzählungen seien als Gleichnisse, also bildlich resp. symbolisch zu nehmen, lese ich erstaunt in Mays 1910 erschienener Selbstbiografie »Mein Leben und Streben« und wähne mich einer sensationellen Entdeckung auf der Spur. Man sieht, dass ich ein echt deutsches, also einheimisches, psychologisches Rätsel in ein orientalisches Gewand kleide, um es interessanter zu machen und anschaulicher lösen zu können, schreibt er weiter. Der vermeintliche Abenteuerschriftsteller Karl May sei in Wahrheit ein ambitionierter Autor mit einer besonderen Mission gewesen, keineswegs nur ein Schreiber für die Jugend: Wie man bei einem geistig und seelisch so bedeutsamen, ja schweren Inhalt meine Bücher als ›Jugendschriften‹ und mich als ›Jugendschriftsteller‹ bezeichnen kann, würde unbegreiflich sein, wenn man nicht wüsste, dass alle, die diesen Fehler begehen, sie entweder nicht begriffen oder nicht gelesen haben.

      *

      Eigentlich war ich mit 19 Jahren dem typischen Karl-May-Lesealter entwachsen und hatte bis dahin nicht sonderlich viele Bücher von ihm gelesen. War es ein Zufall gewesen oder, wie May selbst in seinen Erzählungen immer wieder schreibt, eine ›Schickung‹? Jedenfalls hatte ich mich für den Schöpfer von »Winnetou« als Gegenstand meiner Hausarbeit entschieden. Ich erinnerte mich vage an die schon Jahre zurückliegende Lektüre der zweibändigen »Old-Surehand«-Ausgabe: Hatte es da nicht sogar einige tiefschürfende Szenen gegeben, zum Beispiel Gespräche über Religion?

      Ansonsten kannte ich Mays Werke vor allem von Hörspielschallplatten der 70er-Jahre. Vor dem Lautsprecher des »DUAL«-Plattenspielers hatte ich schon zigfach die Verbrüderung von Old Shatterhand und Winnetou und den tragischen Tod des Apachen miterlebt oder die Reise zum »Schatz im Silbersee« verfolgt. Zudem hatte ich um den Rapphengst Rih geweint. Unvergessen die Stimme von Hellmut Lange, der als Kara Ben Nemsi die Hörspiele des Labels EUROPA zu Klassikern machte. Vorstellungen von Freundschaft wurden durch Karl May geprägt, der zeigte, dass Hautfarbe und Herkunft bei der Beurteilung eines Menschen keine Rolle spielen darf. Wenn Hans Paetsch als Winnetous Vater Intschu-Tschuna mit Donnerstimme die Tragik der Indianer beklagte, bekam man ein schlechtes Gewissen, als Bleichgesicht geboren zu sein. Ich wusste auch, dass sich hinter dem »Kleeblatt« die Westmänner Sam Hawkens, Will Parker und Dick Stone verbargen, und kannte selbstredend die Ahnenreihe von Kara Ben Nemsis Diener und Freund aus den Orientabenteuern auswendig, in meiner Generation ein gerne angewandter Charaktertest: Hadschi Halef Omar Ben Hadschi Abul Abbas Ibn Hadschi Dawud Al Gossarah!

      Karl May verdankte ich sogar einen frühen literarischen Triumph: Meine Nacherzählung von »Winnetou I«, eine straffe Prosafassung des Hörspiels in einem DIN-A5-Heft, akzeptierte die gutmütige Grundschullehrerin in der 4. Klasse als Vorleistung für drei Strafarbeiten, und im gleichen Jahr (1975) glänzte ich bei einem Quiz in einem Kaufhaus: Heinz-Ingo Hilgers, Winnetou-Darsteller der Bad Segeberger Festspiele, war in voller Kostümierung gekommen, um die Marbacher Jugend zu examinieren. Am Ende durfte ich stolz einen Karl-May-Band mit »Winnetou«-Autogramm nach Hause tragen.

      *

      Wenn ich allerdings an das erwähnte Referat fürs Gymnasium zurückdenke, schäme ich mich heute etwas dafür, Karl Mays Selbstauskünfte zum Symbolismus in seinem Gesamtwerk ziemlich unreflektiert übernommen zu haben. Ich beeindruckte damals Lehrer, Schulkameraden und mich selbst mit der überzeugt vorgetragenen These, dass bei May jedes Wort seine tiefere (oder höhere) Bedeutung habe. Allerdings bin ich nicht wirklich traurig darüber, Mays Apologetik geglaubt zu haben, denn so blieb ich an ihm und seinem Werk für die nächsten Jahre hängen. Abenteuer-Romantik allein wäre für mich keine ausreichende Rechtfertigung dafür gewesen, als Erwachsener systematisch die meisten May-Bände zu verschlingen.

      Just zu jener Zeit traf sich in einem Nachbarort im Tagungsraum eines Hotels erstmals ein Karl-May-Kreis. Hier begegnete ich zum ersten Mal honorigen älteren Herrschaften, die immer noch voller Begeisterung von Karl May sprachen, sich an historischen Buchausgaben erfreuten und darüber diskutierten, wer im Knabenalter den Tod Winnetous am meisten betrauert hatte. Einer der Teilnehmer wollte sich drei Tage im Wald versteckt haben.

      Ich wurde darüber aufgeklärt, dass Karl May ein Gegenstand seriöser Forschung sei, lernte Urtexte von Bearbeitungen unterscheiden und war noch im Jahr 1984 stolzer Besitzer des Mitgliedsausweises Nr. 999 der Karl-May-Gesellschaft. Diese literarische Vereinigung bestand damals seit 15 Jahren und leistete, wie ich bald feststellte, Erstaunliches in der Erforschung von Karl Mays Leben und Werk.

      *

      Zunächst einmal holte ich ab meinem 20. Lebensjahr das nach, was andere schon hinter sich hatten. Ich las den überwiegenden Teil aller Karl-May-Bücher, vor allem seine Reiseerzählungen (Gesammelte Werke Band 1 bis 33). Natürlich erlag ich dabei der Faszination, geführt durch einen bezwingenden Erzähler, den Zauber exotischer Völker und Landschaften nachzuerleben. Bewusst achtete ich nun auf Finessen, etwa wie Karl May es immer wieder erreicht, seinen eigentlich unglaublichen Geschichten den Anstrich von Authentizität zu geben, oder dass er mit dem Leser wie mit einem Freund kommuniziert. Karl May bedeutete mir aber durchaus noch mehr. Meine damalige Suche nach religiöser Orientierung bekam durch die May-Lektüre überraschend viele Anstöße. Ich fand in zahllosen Beispielen bestätigt, was er selber über den Zweck seiner Bücher sagte: Ich will eindringen, will Zutritt nehmen in seine Seele, in sein Herz, in sein Gemüt. Und mit dieser Erfahrung stehe ich nicht alleine da: In einer von May für die Broschüre »Karl May als Erzieher« ausgewählten Leserzuschrift heißt es: »Ihre Schriften sind nicht in erster Linie ›Reiseerzählungen‹, sondern ›Reden an die Völker‹, Predigten des Gottvertrauens und der Menschenliebe, lebendiger und wirksamer, wie viele, denen diese Worte als Stichworte voranstehen.«

      Nachhaltig beeindruckt hat mich auch Karl Mays pazifistisches Buch »Und Friede auf Erden«, in dem er so vehement für Frieden und Völkerverständigung eintritt. Insbesondere stellt er für mich sehr überzeugend dar, dass die Anwendung von Waffengewalt kein Mittel ist, Frieden zu erzwingen. Sein in diesem Buch mehrfach zitiertes Gedicht »Gebt Liebe nur, gebt Liebe nur allein« prägte sich mir so tief ein, dass ich es unter dem frischen Eindruck dieser Lektüre wohl geschafft hätte, stehenden Fußes eine Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen zu formulieren.

      In den ersten Jahren meiner intensiveren Beschäftigung mit ihm durchlief ich so etwas wie eine fundamentalistische Karl-May-Phase. Die Arbeit der Karl-May-Gesellschaft war Mitte der 80er-Jahre noch sehr stark darauf ausgerichtet, ihm die Anerkennung in der Literaturgeschichte zu vermitteln, die ihm durch naserümpfende Kulturwächter bis dahin versagt geblieben war. Besonders kämpfte man gegen die Reduzierung Mays auf den »Jugendschriftsteller« an (heute buhlt man dagegen gerade darum, dass die Jugend Karl May entdeckt und weiterhin liest). Als erwachsener Karl-May-Freund sah ich mich damals zu vielen Rechtfertigungstiraden veranlasst, um für den Ruf meines Lieblingsautors zu kämpfen. Ich hielt sogar einen Volkshochschulvortrag zum Thema »Old Shatterhand war ein Dichter«, das im Programmheft zum eher sinnfreien »Old Shatterhand war ein Schriftsteller« gestutzt wurde.

      Um Karl May vom Nimbus des Trivialautors zu befreien, musste man für ihn um den Dichter-Lorbeerkranz ringen. Eifernd wurden Zeugnisse bedeutender Literaten gesammelt, die sich respektvoll über Karl May geäußert haben:

      Ernst Bloch: »Karl May ist einer der besten deutschen Erzähler, und er wäre vielleicht der beste schlechthin, wäre er eben kein armer, verwirrter Proletarier gewesen.«

      Ralph Giordano: »So


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