Grundprobleme der Invaliditätsbemessung in der Invalidenversicherung. Thomas Gächter
Читать онлайн книгу.gesetzliche Definition. Das EVG stellte im Urteil Herensperger vom 4. Oktober 1960 klar, dass der für den Versicherten in Betracht fallende Arbeitsmarkt massgebend sei, verzichtete dabei aber auf eine allgemeine Umschreibung. Das EVG knüpfte ausdrücklich an seine frühere Rechtsprechung (u.a. Urteil Arfini) an und forderte nähere Abklärungen dazu, welchen «objektiven Durchschnittsverdienst» der Versicherte u.a. unter Berücksichtigung seiner Ausbildung «auf dem ihm offenstehenden Arbeitsmarkt» erzielen könnte:[33] «Ausschlaggebend ist der dem Zustand des Versicherten entsprechende objektive Durchschnittsverdienst, während der tatsächliche Verdienst möglicherweise nur vorübergehend ist».[34]
ArbeitsmarktIn einem Entscheid aus dem Jahr 1967 verwies das EVG ebenfalls auf das Urteil Arfini und führte aus, der mutmassliche Verdienst sei nach durchschnittlichen Verhältnissen – d.h. z.B. unabhängig von Betriebseinschränkungen einerseits und Hochkonjunktur andrerseits – zu ermitteln.[35] Abzustellen ist nach einem weiteren Entscheid aus dem Jahr 1974 auf «wirtschaftlich normale Zeiten».[36] Die Rechtsprechung definierte 1960 eine «ausgeglichene Arbeitsmarktlage» als ein Zustand, in dem sich das Angebot von und die Nachfrage nach Arbeitskräften ungefähr die Waage halten.[37] Dies erläuterte das EVG in BGE 96 V 31 wie folgt:
«Es ist noch zu prüfen, ob die festgestellte Verbesserung der Erwerbsfähigkeit es rechtfertigt, den anrechenbaren Invaliditätsgrad revisionsweise auf 30% herabzusetzen, mit andern Worten, ob dieser Ansatz der durch den erlittenen Schaden verursachten ‹durchschnittlichen Beeinträchtigung der Erwerbsmöglichkeiten auf dem für den Versicherten in Betracht fallenden ausgeglichenen Arbeitsmarkt› (EVGE 1967, S. 23) entspricht (…) In konjunktureller Hinsicht sodann kommt es für die Belange der Invaliditätsschätzung auf ausgeglichene Arbeitsmarktverhältnisse an, d.h. auf eine Situation, in welcher das Angebot an Arbeitskräften und die Nachfrage nach solchen sich ungefähr die Waage halten. Wie weit der Beschwerdeführer in solcher Lage gegenüber unversehrten Industriearbeitern seiner Kategorie erwerblich deklassiert wäre, ist Ermessensfrage (…)»
Allgemeiner ArbeitsmarktIn einzelnen Fällen nahm die Rechtsprechung beim Einkommensvergleich zur Invaliditätsbemessung eine Herabsetzung des tatsächlich erzielten Invalideneinkommens vor, da dieses konjunkturbedingt zu hoch war (sog. Konjunkturlöhne).[38] Um missbräuchliche Rentenzahlungen zu verhindern, wurde auch auf die tatsächlichen Verhältnisse abgestellt, wenn der Verdienst eine gewisse Stabilität erlangt hatte.[39] Oft sprach die Rechtsprechung auch nicht (nur) vom «ausgeglichenen Arbeitsmarkt», sondern vom «allgemeinen Arbeitsmarkt» oder vom «allgemeinen, ausgeglichenen Arbeitsmarkt».[40] Der Begriff des ausgeglichenen Arbeitsmarktes hatte sich in der Rechtsprechung noch nicht gefestigt. Der Begriff fand seine heutige Prägung erst in einer Zeit, als die Hochkonjunktur vorüber war und die Eingliederung von behinderten Personen erschwert wurde.
Veränderte Verhältnisse
WirtschaftskriseDer gesetzliche Auftrag der Invalidenversicherung, «Eingliederung vor Rente» anzustreben, hängt «vom Entgegenkommen und der Mithilfe unserer Wirtschaft» ab.[41] Die konjunkturelle Abkühlung in der 1970-er Jahre war daher auch eine Herausforderung für den Gesetzesauftrag der IV: Wenn die Eingliederung von behinderten Personen in wirtschaftlich schwierigen Zeiten nicht gelingt, gewinnt die Rentenfrage an Aktualität. Wirtschaftliche Krisenzeiten erschwerten denn auch seit je die Abgrenzung von Erwerbsunfähigkeit und Erwerbslosigkeit:[42] Die Rechtsprechung stellte aber bereits Mitte der 1970-er Jahre klar, dass rezessionsbedingte Schwierigkeiten, eine Stelle zu finden, nicht zu einer Invalidenrente führen sollen.[43] Dieses Risiko war über die Arbeitslosenversicherung abzudecken, die dann auch 1976 auf eidgenössischer Ebene obligatorisch erklärt wurde.[44]
SpardruckDer langjährige Leiter der IV-Regionalstelle Basel, Richard Laich, umschrieb die Situation zur Eingliederung von behinderten Personen Mitte der 1970-er Jahre wie folgt:
«Der Gesetzgeber der IV hat sich seinerzeit zum Grundsatz «Eingliederung vor Rente» entschieden und mit Eingliederung damals in erster Linie die einseitig erwerbsorientierte Eingliederung gemeint. Gerade darum hatte das Invalidenversicherungs-Gesetz überhaupt Chance, von unseren damals massgebenden Politikern angenommen zu werden, weil das IV-Konzept u. a. versprach, ein zusätzliches Arbeitskräftepotential zu erschliessen. Aber wo stehen wir heute nach 14 Jahren IV mit dem Grundsatz «Eingliederung vor Rente»? Ist unsere Volkswirtschaft, ist unsere Arbeitgeberschaft heute bereit, den Behinderten die reale Chance einer angepassten beruflichen Eingliederung zu geben, und sind die Arbeitnehmer bereit, den behinderten Mitarbeiter zu akzeptieren und in das Betriebsgeschehen zu integrieren?
Die berufliche Eingliederung der Behinderten, d. h. die Arbeitsplatzvermittlung an die Behinderten ausserhalb von geschützten Werkstätten, bereitet uns von Jahr zu Jahr grössere Schwierigkeiten. Der Spardruck und der Sparwille im Personalsektor sowohl in der Privatwirtschaft wie in der öffentlichen Verwaltung, gestatten offenbar immer weniger soziales Entgegenkommen.»[45]
Persönliche VerhältnisseNoch vor der Konjunkturabkühlung und ca. bis Mitte der 1970-er Jahre war vereinzelt der gegenwärtig vorhandene, konkrete Arbeitsmarkt massgebend.[46] Das EVG verwies darauf, dass bei der Frage der Zumutbarkeit einer bestimmten Erwerbstätigkeit die gesamten persönlichen Verhältnisse zu beachten seien, insbesondere auch die berufliche und soziale Stellung des Versicherten,[47] seine körperlichen und geistigen Fähigkeiten von einem medizinischen Standpunkt aus, die Art der Behinderung sowie seine Kenntnisse und sein Alter.[48] Massgebend sei jedoch das objektive Mass des Zumutbaren, nicht die subjektive Wertung des Versicherten.[49]
AbstraktionParallel zur schweren Wirtschaftskrise der 1970-er Jahre ging die Verwaltungspraxis zu einer zunehmend theoretischen und abstrakten Betrachtungsweise über.[50] Das BSV führte 1975 und 1976 zwei Konferenzen über rezessionsbedingte Probleme Behinderter durch und behandelte dort namentlich auch die «Grenzfälle» zwischen Erwerbsunfähigkeit und Erwerbslosigkeit. Der Vertreter des BSV umschrieb dabei den ausgeglichenen Arbeitsmarkt wie folgt:
«Wir betrachten jenen Arbeitsmarkt als ausgeglichen, auf dem jedermann ein seinen geistigen und körperlichen Fähigkeiten und seiner Ausbildung entsprechender Arbeitsplatz offensteht.»[51]
Abgrenzung zur ALVZiel der IV sei es, den durch einen Gesundheitsschaden verursachten Erwerbsausfall in einem gewissen Rahmen auszugleichen, während die Arbeitslosenversicherung das Risiko von Arbeits- und damit Verdienstausfällen, die durch die wirtschaftlichen Verhältnisse bedingt seien, teilweise abdecke (konjunkturelle, strukturelle, technologische Arbeitslosigkeit).[52]
Absehen von ArbeitsmarktBemerkenswert an diesen Ausführungen der Verwaltung ist die Tendenz zum «Wegdefinierten des Arbeitsmarktes»: Während die Rechtsprechung zuvor «zufällige Schwankungen auf dem Arbeitsmarkt» und damit Konjunktureinflüsse als invaliditätsfremd ausgeschieden hatte, wurde nun tendenziell vom Arbeitsmarkt als solchem bzw. von den gesamten wirtschaftlichen Verhältnissen abstrahiert: Die Verwaltungspraxis ging dazu über, einen Arbeitsmarkt zu fingieren, «auf dem jedermann ein seinen geistigen und körperlichen Fähigkeiten und seiner Ausbildung entsprechender Arbeitsplatz offensteht» (Rz. 35). Erschwernisse bei der Stellensuche von behinderten Personen – sei es aufgrund ihres Gesundheitsschadens, sei es aufgrund übriger persönlicher Verhältnisse – wurden ausgeblendet, und zwar auch dann, wenn sie sich unter «normalen» bzw. «durchschnittlichen» Arbeitsmarktverhältnissen negativ auswirkten.[53]
Historischer KontextIn den Krisenzeiten der 1970-er Jahre flammte auch erstmals die Debatte um Versicherungsmissbräuche auf.[54] Trotz der Einsetzung einer Arbeitsgruppe für die Überprüfung der Organisation der Invalidenversicherung (sog. Arbeitsgruppe Lutz[55]) konnte keine Lösung für den langfristigen Kostenanstieg in der Invalidenversicherung gefunden werden.[56] Als «typische Fälle bedenkenlosen und ungerechtfertigten Rentenbezuges» erkannte die Arbeitsgruppe Lutz