Trotzki und Trotzkismus - gestern und heute. Herbert Meißner

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Trotzki und Trotzkismus - gestern und heute - Herbert Meißner


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dicken Bänden vorliegenden von Pierre Broué greifen. Es ist also durchaus sinnvoll, ihnen eine bei aller gebotenen Knappheit gründliche marxistische Analyse von Person, politischem Wirken und Theorie sowie bis heute anhaltender Wirksamkeit in die Hand zu geben.

      Zweitens ist der Trotzkismus zu einem Bestandteil der internationalen Arbeiterbewegung geworden, hat eine neue Internationale gegründet und sich in vielen Ländern etabliert – insbesondere in den USA, in Irland, Frankreich und Großbritannien. Es gibt aber auch eine deutsche Sektion. Dabei ist bemerkenswert, welch umfangreiche agitatorischen und propagandistischen Aktivitäten entfaltet werden. Der damit verbundene Anspruch wird von Alan Woods im Vorwort zu einer 500 Seiten umfassenden Schrift formuliert: »Wenn diese Anthologie aber eine neue Generation dazu motiviert, sich mit Trotzkis Schriften und Ideen zu beschäftigen, leistet sie einen wichtigen Beitrag zur Sache des Marxismus im 21. Jahrhundert.« [3]

      Welche Rolle der Trotzkismus in der heutigen Auseinandersetzung spielt, wie sich seine Programmatik von anderen antikapitalistischen Strömungen abhebt und wie dies von marxistischer Position aus einzuschätzen ist, bedarf ebenfalls der Klärung.

      Drittens wird in vielen Analysen des Scheiterns des osteuropäischen Sozialismus angeführt, dass Sozialismus in einem Lande grundsätzlich nicht möglich sei. Als Lehre aus diesem Scheitern wird von Lucy Redler angeführt: »… Sozialismus in einem einzelnen Lande kann es nicht geben.« [4] Exakt gefasst wird wiederholt: »Unterm Strich ist es nicht möglich, in einem auf sich gestellten und wirtschaftlich wie kulturell rückständigen Land Sozialismus zu schaffen«.[5] Auch Gerhard Zwerenz meint: »Aus heutiger Perspektive betrachtet ist Stalins These vom Sozia­lismus in einem Land nachhaltig gescheitert…« [6] Und Harald Neubert meint, dass »… Sozialismus nur in seiner pluralen, internationalen und ökologischen Dimension denkbar ist…« [7] Diese Auffassungen kommen der Trotzkischen Polemik gegen Stalins Konzeption des Sozialismus in einem Lande sehr nahe. Da es daneben auch andere Vorstellungen gibt, ist auch über diese Problematik neu nachzudenken.

      2 Wie Lew Dawidowitsch Bronstein zu Leo Trotzki wurde

      Am 25. Oktober 1879 wurde Lew Dawidowitsch Bronstein in einer Kate mit Strohdach in Janowka in der Ukraine geboren. Er war das Kind jüdischer Siedler, die dort Landwirtschaft betrieben und durch Anbau von Weizen und die Zucht von Pferden, Rindern und Schweinen einen bescheidenen Wohlstand erarbeitet hatten. Er war schon als Kind sehr begabt und wollte eine höhere Schulausbildung erreichen. Da machte er als Achtjähriger erstmals Bekanntschaft mit dem zu dieser Zeit noch allmächtigen und unerschütterlich erscheinenden Zaren­regime. Es wurde eine Verordnung (Ukas) erlassen, wonach in Form eines Numerus Clausus nur 10% jüdische Kinder an höheren Schulen zugelassen wurden. Durch einen weltoffenen und bildungsbeflissenen Verwandten, der die Fähigkeiten des Jungen rasch erkannte, entstand die Möglichkeit des Besuchs eines Gymnasiums in Odessa. Dort erhielt er eine gute Ausbildung, war stets Klassenprimus und gab mit zwölf Jahren eine Schülerzeitschrift heraus.

      Nach dem siebten Schuljahr musste er Odessa verlassen und das letzte Jahr bis zum Abitur in der kleineren Stadt Nikolajew absolvieren. 1896 schloss er die Schule als Klassenbester ab und orientierte sich auf das Studium in Odessa.

      In diesen Jahren hatten die Repressionen der Zarenherrschaft gegen die sich immer stärker entwickelnde Unzufriedenheit von Arbeitern und Bauernschaft drastisch zugenommen. Der Widerstand dagegen entfaltete sich in Arbeiterbünden und Vereinen. Der junge Bronstein kam mit oppositionellen Studenten und gebildeten Arbei­tern zusammen und begriff sehr bald die sozialen Wider­sprüche. Er beschäftigte sich zunächst mit den Volkstümlern (Narodniki). Gleichzeitig wuchs der Einfluss des Marxismus. Seinem aktiven Charakter gemäß beteiligte er sich am Aufbau von Arbeiterorganisationen und wurde zu einem kämpferischen politischen Menschen.

      Angesichts der immer stärker werdenden Unterdrückung durch das Zarenregime, des wachsenden Widerstands im Volke und des zunehmenden Einflusses des Marxismus schloss er sich diesem immer enger an. Seine politischen Aktivitäten führten 1898 – d.h. mit 19 Jahren – zu seiner Verhaftung und Verurteilung zu 4 Jahren Verbannung nach Sibirien. Dort machte er Bekanntschaft mit der von Lenin herausgegebenen Zeitschrift »Iskra« (Der Funke) und studierte Lenins Werk »Was tun?«. Er nahm in Irkutsk Verbindung zu sibirischen Arbeiterorganisationen auf, schrieb Flugblätter und Zeitschriftenartikel und strebte danach, mit Lenin in Verbindung zu kommen. In Irkutsk traf er mit Dserschinski, Uritzki und Krischanowski zusammen – alles Vertraute von Lenin.

      Im Herbst 1902 floh er aus der Verbannung und konnte auf vielen Umwegen London erreichen, wo sich zu dieser Zeit Lenin aufhielt. Eines sehr frühen Morgens – Lenin war noch gar nicht aufgestanden – klopfte er an dessen Wohnungstür.

      Und so, wie gemäß der Bedingungen der Illegalität Wladimir Iljitsch Uljanow sich den Kampfnamen Lenin zulegte und Jossif Wissarijonnowitsch Dschugaschwili sich Stalin nannte, hat sich Lew Dawidowitsch Bronstein auf seiner Flucht in einem falschen Pass, den ihm seine Genossen in Irkutsk besorgt hatten, Trotzki genannt. Und dabei blieb es.

      In der Literatur wird oft erwähnt, dass Lew Dawidowitsch Bronstein damit den Namen eines Wärters im Gefängnis von Odessa übernommen habe. Aber exakt belegt ist das nicht und von Trotzki selbst wird das nirgends angeführt. Richtig ist sicher wenn Max Eastman hervorhebt, dass ein nichtjüdischer Familienname unter den gegebenen Verhältnissen eine elementare Sicherheitsbedingung war.

      3 Trotzki zwischen zwei Revolutionen ( 1905 – 1917 )

      Trotzki war zum Marxisten und Revolutionär geworden. Auf Betreiben von Lenin sollte er zum jüngsten Redaktions­mitglied der »Iskra« werden. Und dies neben Plechanow, Vera Sassulitsch, Martow, Potressow und Axelrod. In einem Brief vom 2. März 1903 an Plechanow begründet Lenin seinen Vorschlag der Kooptierung Trotzkis in das Redaktionskomitee der Iskra wie folgt: »Die ›Feder‹ schreibt nicht erst seit einem Monat in jeder Nummer. Er arbeitet für die Iskra mit höchster Energie, hält Referate (mit großem Erfolg). Für Artikel und Notizen ist er uns nicht nur sehr nützlich, sondern geradezu unentbehrlich. Er ist zweifellos ein überzeugter und energischer Mensch von außerordentlichen Fähigkeiten, der es noch weit bringen kann. Auch auf dem Gebiet der Übersetzungen und der populären Literatur vermag er viel zu tun.« [8]

      Von den sechs Redaktionsmitgliedern haben vier dem Vorschlag Lenins zugestimmt. Aber diese Mehrheit kam nicht zum Tragen, da Plechanow sein Veto einlegte und bei Kooptionen Einstimmigkeit erforderlich war. Auf diesem Hintergrund sowie infolge der gegensätzlichen Charaktere von Plechanow und Trotzki kam es zu Widersprüchen zwischen beiden, obwohl der Hauptantagonismus zwischen Plechanow und Lenin bestand.

      In diese Zeit fiel die Vorbereitung auf den II. Parteitag der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (SDAPR), die 1898 gegründet worden war. Bereits bei der Vorbereitung des Parteikongresses entstanden Probleme, bei denen Trotzki in Widerspruch zu Lenin geriet. Es ging um den Vorschlag Lenins, das sechsköpfige Redaktionsteam der Iskra auf die Hälfte zu reduzieren. Ihm ging es darum, in Vorausschau auf die heraufziehenden revolutionären Ereignisse von 1905 die Leitungstätigkeit zu straffen. Trotzki konnte sich dem nicht anschließen, weil dadurch alte und verdiente Parteikader wie Vera Sassulitsch und Axelrod ausgegrenzt würden und eine nicht wünschenswerte Zentralisation einträte. In mehreren persönlichen Gesprächen bemühte sich Lenin um das Verständnis bei Trotzki, was aber nicht gelang.

      Im weiteren Verlauf verschärften sich die Differenzen zwischen Lenin und Trotzki im Zusammenhang mit Lenins Bestreben, den Parteiaufbau zu präzisieren und die Kriterien der Parteimitgliedschaft exakt zu definieren und im Parteistatut zu verankern. Trotzki und einige andere Führungspersönlichkeiten stimmten gegen Lenins Vorschläge, die dadurch nicht durchkamen. Aber die Mehrheitsverhältnisse änderten sich, weil die Vertreter der Union jüdischer Arbeiter Litauens, Polens und Russlands – generell kurz als Bund bezeichnet – den Kongress verließen, weil ihre Forderung nach Autonomie in der Partei abgelehnt wurde. Dadurch wurde die Leninsche Gruppierung zur Mehrheit, seine Vorschläge wurden angenommen und es entstanden die »Bolschewiki« und die »Menschewiki«. Trotzkis Resolution mit dem Ziel, die alte Redaktion der Iskra beizubehalten und die Leitungstätigkeit breiter zu gestalten, wurde abgelehnt.


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