Die Perfektionismus-Falle. Reinhold Ruthe

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Die Perfektionismus-Falle - Reinhold Ruthe


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Perfektionismus: Irrationale Idee Nr. 11

      Der amerikanische Therapeut Dr. Albert Ellis, der Begründer der Rational-Emotiven-Therapie, hat in einem seiner Bücher elf »irrationale Ideen« veröffentlicht, die psychische Störungen verursachen und aufrechterhalten. Er geht davon aus, dass wir in unseren Familien und in unserer Gesellschaft von abergläubischen und unsinnigen Ideen indoktriniert werden. Solche Vorurteile und irrationalen Vorstellungen gelten als Hauptursache für Neurosen, Verhaltensauffälligkeiten und psychosomatische Störungen. Die Formulierung der irrationalen Idee Nr. 11 lautet:

      »Die Vorstellung, dass es für jedes menschliche Problem eine absolut richtige, perfekte Lösung gibt und dass es eine Katastrophe sei, wenn diese perfekte Lösung nicht gefunden wird.«1

      In der Welt der Unvollkommenheit und Unsicherheit glauben viele Menschen, nicht glücklich sein zu können. Sie suchen Sicherheit, absolute Beherrschung der Lage, die vollkommene Wahrheit und die totale Kontrolle.

      Alle diese »irrationalen Überzeugungen« sind falsche Erwartungen, beinhalten übertriebene Hoffnungen und enden in großen Enttäuschungen. Ellis geht davon aus, dass der Mensch, der diesen »irrationalen Ideen« nachläuft, genau die Katastrophe herbeiführt, die er vermeiden will. Irren ist menschlich und perfektionistische Lösungen werden zum Albtraum.

       Perfektionismus und Magersucht

      Überall wird deutlich: Den Perfektionismus gibt es nicht. Es gibt lediglich verschiedene Perfektionismus-Aspekte, die bei unterschiedlichen Personen spürbar werden.

      Da sind die Magersüchtigen. Sie haben perfektionistische Neigungen. Wahrscheinlich ist ihr Vollkommenheitsstreben eine der Hauptwurzeln für ihr Elend. Sie haben die Überzeugung, sie seien zu dick und nicht gut genug.

      Sandra Litty, eine ehemalige Magersüchtige, schrieb über ihr Leben:

      »Ich war weit gelaufen auf dem Weg, den ich meinen eigenen nannte, denn ich hatte ihn selber gewählt. Ich perfektionierte alles in meinem Leben, weil Perfektion das Ziel unserer Gesellschaft ist. Ich wanderte jahrelang auf meinem Weg, wollte es allen Menschen recht machen, wollte gut sein, alle Erwartungen erfüllen und Anerkennung sammeln, um mich selber zu mögen. Ich wurde mehr und mehr von meinen Fähigkeiten und – schlimmer noch – von den Unfähigkeiten abhängig. Wie konnte es anders kommen: Ich musste versagen, immer wieder fallen, denn wer kann diese Ansprüche schon erfüllen? … Auch als ich schon viele Bereiche meines Lebens von dem Zwang zur Perfektion befreit hatte, stand das Essen noch unter meiner Herrschaft. Alles hatte ich weggeworfen, aber die Herrschaft über meinen Körper wollte ich nicht aufgeben.«2

      Unmissverständlich spricht die Magersüchtige über ihren Perfektionismus. Die Ansprüche sind neurotisch. Das Vollkommenheitsstreben ist lebensfeindlich. Der Zusammenbruch des Lebenswillens voraussehbar. Wie geht die Magersüchtige damit um?

      Sandra Litty beschreibt es so: »Wäre ich dick, dann müsste ich vor Gram vergehen. Doch was soll ich tun? Die einzige Alternative war Selbstmord.«3

      Sie wurde wie ein Wunder davor bewahrt, aber der Weg war vorgezeichnet. Wer perfektionistische Ziele anstrebt, landet in einer Sackgasse. Die Anstrengungen sind übermenschlich und die Ziele überspannt.

       Perfektionismus und Kontrolle

      Eine Spielart des Perfektionismus ist Kontrolle. Kontrolle gehört zu bestimmten Lebensstil-Leitmelodien. Sie kennzeichnen die Einmaligkeit dieses Menschen.

      – Sie zeigen, was dieser Mensch am höchsten bewundert.

      – Sie zeigen, was dieser Mensch am intensivsten anstrebt.

      – Sie zeigen, was dieser Mensch auf alle Fälle vermeiden will.

      Die Lebensstil-Leitmelodie Kontrolle spiegelt ein Bewegungsgesetz des Menschen wider, eine Stellungnahme zu den Lebensproblemen und zum Zusammenleben in der Gemeinschaft. Man kann sie auch Prioritäten nennen. Prioritäten sind also hervorstechende Eigenschaften, Verhaltens- und Einstellungsmuster, die diesen Menschen besonders wichtig sind.

      Die Priorität Kontrolle kennzeichnet ein Wesensmerkmal des Perfektionisten. Dieser Mensch wünscht sich

      – Sicherheit,

      – überschaubare Verhältnisse,

      – Ordnung und Gewissenhaftigkeit,

      – Schutz vor unvorhersehbaren Ereignissen.

      Kontrolle kann mehr das eigene Leben oder das Leben der andern betreffen. Der Kontrolleur kann in erster Linie auf Selbstkontrolle oder auf Kontrolle der anderen Wert legen. Wer in erster Linie sich im Auge hat, legt auf Gradlinigkeit, Pflichtbewusstsein und Prinzipientreue im eigenen Leben Wert. Er will vorbildhaft und zuverlässig erscheinen. Sein Leben soll berechenbar sein. Wer primär Kontrolle über andere Menschen gewinnen will, kann zum Tyrannen werden. Er reglementiert und bevormundet seine Kinder, den Partner und seine Mitarbeiter. Diese Form des Perfektionismus reizt zum Widerspruch. Sie fördert Rebellion und Widerstand. Beruflich können solche Menschen viel leisten, nur, ihre Beziehungsfähigkeit ist in der Regel schwach entwickelt.

      Der Kontrolleur, der andere kontrollieren will, hat es schwer, sich Gott auszuliefern. Er will sich und sein Leben im Griff haben und nicht abhängig sein. Er fürchtet, von Gott reglementiert und kontrolliert zu werden.

       Was ist ein Perfektionist?

      ▪ Er ist tadellos.

      ▪ Er ist makellos.

      ▪ Er ist fehlerfrei.

      ▪ Er ist außerordentlich.

      ▪ Er ist übergewissenhaft.

      ▪ Er ist pingelig.

      ▪ Er ist ein Buchstabendenker.

      ▪ Er ist ein Sophist.

      ▪ Er kann zum Wortklauber werden.

      ▪ Er denkt und handelt moralistisch.

      ▪ Er vertritt sehr hohe Maßstäbe.

      ▪ Er strebt das Vortreffliche an.

      ▪ Er tendiert zur Vollkommenheit.

      ▪ Er will sich nichts zuschulden kommen lassen.

      ▪ Er hat hochgesteckte Erwartungen.

      ▪ Er treibt sich selbst zum unerreichten Ziel an.

      ▪ Er will alles hundertprozentig machen.

      Perfektionisten sind Menschen, die etwas so gut machen wollen, dass es möglichst nicht mehr zu verbessern ist.

       Der Perfektionismuswahn

      In einem Brief von Gesine Bauer lese ich einen Beitrag, der überschrieben ist: »Tödlicher Perfektionismuswahn«.

      Wörtlich heißt es bei ihr: »Ein perfektes Paar, heißt es im Bekanntenkreis. Beide wissen alles übereinander, reden über alles miteinander, sie perfektionieren ihre Körper in demselben Fitness-Center und ihre Karriere nach demselben Strickmuster. Alles, was nicht perfekt ist, wird mit der Gründlichkeit ausgemerzt, mit dem ergrimmte Hobbygärtner resistentem Unkraut zu Leibe rücken. Sie lesen Bücher über Partnerschaft und kehren nie den Dreck unters Sofa.

      Die Kinder kommen, alle hübsch, gesund und intelligent, und vor allem perfekt erzogen. Die Schulden fürs Haus sind abbezahlt, keiner geht fremd, beide haben Erfolg. Ein perfektes Paar im perfekten Glück.

      Und dann plötzlich ist es aus. Der Freundeskreis des perfekten Paares zerfällt in zwei Teile: In einem schimpft sie unflätig über ihn, packt wochenlang so viel Übles aus, dass allen schon davon schlecht ist, und im anderen Teil praktiziert er das Gleiche mit umgekehrten Vorzeichen. Was ist da passiert?

      War alles nur ein einziges Betrugsmanöver, was da wie Liebe aussah? Wer ist schuld an diesem Scherbenhaufen?


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