Die heimliche Geliebte. Ilka Sokolowski
Читать онлайн книгу.lassen. Gar nicht so einfach, denn nahezu alles an diesem Mann wirkte auf Anhieb nett: seine freundlichen Augen, das unermüdliche Lächeln und die Art, wie er sich ihr beim Zuhören leicht zuneigte. Besonders nett fand sie, dass er sogar noch etwas kleiner war als sie selbst.
Der sehnige kleine Mann lächelte mitfühlend. Er hatte ein zerfurchtes Gesicht und nur vier vollständige Finger an jeder Hand. Rechts fehlte ihm die Kuppe des Daumens, links das erste Glied des kleinen Fingers. Trotz der Kälte trug er lediglich ein weißes T-Shirt und eine Kattunhose. Die nackten Füße steckten in Plastiksandalen.
»Herr Wang Li, nehme ich an?«, fragte Leo.
Er nickte und lächelte weiter.
Leo zeigte entschlossen auf den Van.
»Und das ist Ihr Wagen da draußen?«
»Mein Neffe hat eingekauft. Fährt jeden Tag zum Großmarkt. Bei uns immer alles frisch!«, sagte Wang Li stolz. »Professor hat gern hier gegessen.«
»So. Ja.« Sie räusperte sich. »Ihr Neffe hat offenbar Schwierigkeiten beim Einparken. So ein Straßenbaum hat es schon schwer genug. Seine Wurzeln sind zubetoniert, er bekommt kaum Wasser und er muss die ganzen schädlichen Abgase schlucken und im Winter das fiese Streusalz, da sollte man ihm doch wenigstens Attacken mit der Stoßstange ersparen, finden Sie nicht auch?«
Schwer zu sagen, was Wang Li fand. Er hatte den Kopf ein wenig auf die Seite gelegt und blinzelte.
»Wenn Sie’s nicht für die Linde tun, dann vielleicht für Ihren Wagen«, versuchte Leo es weiter. »Dem bekommt das sicher auch nicht gut. Würden Sie Ihrem Neffen das wohl ausrichten?«
|29|Irgendwo hinter Wang Li in der Küche glaubte sie einen dunklen Schatten wahrzunehmen.
»Das wäre sehr nett!«, sagte sie etwas lauter.
Wang Li lächelte, nickte und schwieg.
»Vielen Dank. Und einen schönen Tag noch.« Leo fühlte sich, als sei sie unter vollen Segeln auf Grund gelaufen. Ziemlich lächerlich.
Trotzdem malte sie ein provisorisches Schild (An alle Autos: Bitte Abstand halten!) und schnürte es der Linde um den Stamm.
Bäume waren die Zuflucht ihrer Kindheit gewesen. Immer, wenn sich die Situation unerträglich zugespitzt hatte, war sie fortgerannt und wie ein Eichhörnchen auf einen Baum geklettert, der möglichst groß und möglichst weit weg von zu Hause war. Ungezählte Stunden hatte sie hoch oben im Geäst zwischen Vogelnestern und Blattlandschaften verbracht und im grünen Licht gebadet, bis alle Ängste und Zweifel wieder auf ein erträgliches Maß geschrumpft waren. Leo duldete es nicht, wenn Bäume litten. Sie fahndete in ihren Umzugskartons noch nach der Dose mit dem Baumharz, wurde fündig und spachtelte eine dichte Schicht auf die Wunde. Aufmunternd strich sie der Linde über die Borke. Wenn sie von nun an in Ruhe gelassen wurde, konnte sie sich wieder erholen.
Wang Li und einige andere verschwommene Gesichter beobachteten sie durch die Scheiben. Sie fanden ihre neue Nachbarin zweifellos etwas überspannt. Leo wischte sich die Hände ab, winkte in ihre Richtung und ging frühstücken.
Eine Stunde später verließ sie mit Rucksack und Fahrrad das Haus. Die Luft war exakt so, wie es sich für einen lausigen Novembertag gehörte: wattig grau und so kalt, dass sie einem beim Fahren die Tränen in die Augen trieb. Leo hielt kurz bei einem kleinen Blumenladen, kaufte Erde und einige Pflanzen, verstaute alles in den Gepäcktaschen und suchte sich ihren Weg durch das Straßengeflecht der Südstadt. Sie folgte der Hildesheimer Straße, bog in die Garkenburgstraße Richtung Messegelände ein und erreichte |30|schließlich den Seelhorster Friedhof, auf dem Onkel Ludwig lag. In der riesigen parkähnlichen Anlage waren Hunde, spielende Kinder und Fahrräder nicht erwünscht. Leo schloss ihr Rad am dafür vorgesehenen Fahrradständer an, lud sich die Gepäcktaschen auf und wanderte durch die Gräberreihen. Die verwelkten Kränze und Gebinde, die vor ein paar Tagen noch auf dem Grab gelegen hatten, waren abgeräumt, die Erde sah schwarz und nackt aus. Auf den nassen Krumen klebte hier und da gelbes Laub. Auffällig hob sich die kleine weiße Marmortafel vom dunklen Untergrund ab. Schmutzspritzer sprenkelten seit dem letzten Regen die Oberfläche und saßen in den Linien der schlichten Inschrift:
Ludwig Heller
* 13. März 1934
† 20. Oktober 2008
Ach, Onkel Ludwig, wie trostlos. Ein unauffälliges Reihengrab, pflegeleicht und komplett bezahlt. Niemand sollte Arbeit oder Kosten haben.
Niemand, das war sie. Leo ließ die Gepäcktaschen zu Boden gleiten und setzte den Rucksack ab.
Er hätte Anspruch auf ein hübsches Plätzchen im Heller’schen Familiengrab in Hamburg gehabt. Aber Leo konnte sich schon denken, was ihn zu seiner Entscheidung bewogen hatte.
Sie schnürte den Rucksack auf, zog eine große Terrakottaschale heraus und machte sich an die Arbeit.
Mit Ludwig hatte es schon immer Ärger gegeben. So lautete der Standardsatz von Leos Mutter, wenn die Rede auf ihren Bruder kam. Was genau passiert war, blieb Leo lange Zeit ein Rätsel. Niemand sprach in ihrer Gegenwart darüber, aber mit den feinen Antennen des Kindes fing Leo die Anklagen und Beschuldigungen auf, die in der Luft lagen, und sie hatte bald begriffen, dass zwischen ihrem Onkel und ihrer Mutter ein wackliger Waffenstillstand herrschte. Aber warum?
|31|Leo mochte Onkel Ludwig sehr gern. Niemand konnte so schön die Streiche von Max und Moritz vortragen wie er. Onkel Ludwig kannte alle Verse auswendig, und Leo war einzig durch seine Imitation der krautvernarrten Witwe Bolte dazu zu bewegen, das verhasste Sauerkraut zu essen, das sonntags auf den Tisch kam.
Leos Liebe zu ihrem Onkel war schuld, dass der Waffenstillstand zwischen den Geschwistern zerbrach. Als sie begann, ihn Papa zu nennen, war für Hanna Heller das Maß voll. »Ihm verdankst du es, dass du keinen Vater hast!« Ansonsten lautete die stereotype Antwort, wann immer Leo nach ihrem Vater fragte: »Wir haben uns getrennt.« Und weil ihre Fragen mit der Zeit immer heftigere Anfälle von Depression hervorriefen, fragte Leo schließlich nicht mehr.
Onkel Ludwig zog aus und kam nur noch gelegentlich zu Besuch. Leo wurde größer und älter und aufmerksamer. Sie besuchte ihren Onkel meist heimlich, denn sie verabscheute den Ausdruck auf dem Gesicht ihrer Mutter, wenn die davon erfuhr. An einem dieser gestohlenen Nachmittage hatte sie schließlich die ganze Geschichte erfahren.
Es war ein drückend heißer Spätsommertag kurz vor Leos neunzehntem Geburtstag. Die Sonne schien milchig durch einen zähen Schleier und die Luft war klebrig vor Feuchtigkeit. Sie hatten einen Spaziergang gemacht, weil es in Onkel Ludwigs Büro noch unerträglicher war. Vor ihnen lag ein kleiner Teich, auf dem matt ein paar Enten dümpelten. Leo und Ludwig setzten sich auf eine Bank am Ufer.
Schon eine ganze Weile hatte sich das Gespräch um seine Arbeit gedreht. Wilhelm Busch oder Leos Erlebnisse in der Schule waren ihre üblichen Themen, sie waren unverfänglich und neutral.
»Was findest du bloß so spannend an diesem alten Busch«, wollte Leo, die nicht viel mehr als die Max-und-Moritz-Geschichte kannte, wissen. Sie hatte keine Ahnung, was sie selbst nach ihrem Abitur anfangen sollte. Onkel Ludwigs Wunsch war es, dass sie Kunstgeschichte und Literatur studierte wie er, und das entpuppte |32|sich als eine seiner wenigen Ideen, mit denen auch Hanna Heller sich anfreunden konnte. Wenn es nach ihr ging, sollte Leo wahlweise reich heiraten oder ihr Leben mit erlesenen Dingen anfüllen. Am besten beides. Sotheby’s und Christie’s waren betörende Namen für ihre Mutter, die ihre Tochter schon inmitten der feinen Gesellschaft Kontakte knüpfen und Geschäfte abschließen sah. Rückblickend war sich Leo durchaus bewusst, dass ihr Entschluss, Gartenbau zu studieren, sehr viel mit Trotz zu tun hatte. Damals aber wusste sie gar nichts.
»Wieso ausgerechnet Busch? Lohnt es sich, sein halbes Leben an so einen alten Zausel zu verschwenden?«
Onkel Ludwig hatte sich mit der Antwort Zeit gelassen. Er zog ein Taschentuch aus seiner Hose, nahm seinen Strohhut ab und wischte sich die Stirn trocken.