Verehrte Denker. Henning Ritter

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Verehrte Denker - Henning Ritter


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Wer auf Däubler ansprach, wurde als Gesprächspartner willkommen geheißen. Die dramatische Geschichte der Freundschaft des jungen Rechtswissenschaftlers Carl Schmitt mit dem avantgardistischen Poeten der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg war mir damals noch nicht bekannt. Die Broschüre, die er über Däubler geschrieben hatte, lernte ich erst später kennen. Sie war ihm jetzt wieder wichtig geworden und diente ihm als Beleg für die Ungerechtigkeit der Epoche, die den großen Dichter vergessen hatte.

      Däubler war in diesen späten Jahren zum Raumdichter geworden, wie Carl Schmitt selbst, der um den Begriff des Raums etymologische Dichtungen wob. Ein Reclamheftchen mit Gedichten Theodor Däublers wurde mir für die Lektüre im Hotel übergeben. Nachdem ich das Heft spät abends noch durchgelesen hatte, waren es Zeilen wie »Die ­Libellen besorgen den Schwebeverkehr« oder »Ein Nachen begleitet die einsame Stunde«, die meine ­stärkste Sympathie fanden. Däubler dichtete in seinem großen Versepos »Das Nordlicht«, mit dem er bei dem Publikum kein Echo gefunden hatte, nicht nur in ausgreifenden Raumvisionen, sondern war auch phonetisch in die Raumwelten vorgedrungen, in denen sich der späte Carl Schmitt bewegte, indem er seinen Untersuchungen über Leistungsräume, politische Raumordnungen und wie seine Neu­prägungen noch heißen mochten, ein sprach­liches Fundament geben wollte.

      Es war an dieser Stelle, nach den Ritualen der Anwerbung, fast zwingend, daß Carl Schmitt mir die Festschrift für Wilhelm Ahlmann, in die Hand drückte. Es handelte sich um den »Tymbos für Wilhelm Ahlmann«, die Gedenkschrift für einen Freund, der als junger Mann 1915 erblindet war, mit einem Beitrag zur Blindenpsychologie promoviert worden war und nach 1933 im Preußischen Kultusministerium tätig war. In nähere Verbindung zum Widerstand getreten und mit Jens Jessen befreundet, nahm er sich 1944 das Leben. Carl Schmitt begab sich gleichsam in den Schutz dieser Freundschaft mit einem Mann, der die Probe der Zeit bestanden hatte. Es war auch insofern genau erwogen, wenn er in dieser Festschrift seinen ersten Aufsatz über die Frage des »Nomos« veröffentlichte, die auf einer neuen, tieferen Ebene ansetzte.

      In ästhetischen Reflexionen war ich damals so geübt, daß meine Notizen gerade in diesen Passagen am ausführlichsten, leider aber auch am wenigsten verständlich sind. Was mir einst völlig vertraut war, macht mich heute ungeduldig. Mein Gesprächspartner ließ den Ästhetiker, der sich auf sicherem Terrain wähnte, aber offenbar gewähren. Listig flocht er Aperçus ein, die zur Ernüchterung bei­tragen sollten. Über Hegels Ästhetik, meinte er, sage die Tatsache, daß Rossini für ihn ebenso wie für seinen erbitterten Gegner Schopenhauer die Erfüllung der Musik war, mehr als alle philosophische Interpretation: jenseits der Heiterkeit das Nirwana der Töne. Dieses Nirwana verband die verfeindeten Philosophien!

      Zu Carl Schmitts Umkreis gehörten Rüdiger Altmann und Johannes Gross, die in der Studentenzeitung »Civis« mehrere Gedichte von ihm unter dem Pseudonym Erich Strauß veröffentlicht hatten. Auch in ihren eigenen Aufsätzen griffen sie freizügig auf seine Gedanken zurück, die sie, als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt, in die studen­tische Diskussion einbrachten, ohne ihre Herkunft zu erkennen zu geben. Carl Schmitt billigte dieses Vorgehen offenbar. Er schenkte mir die unter dem Titel »Die neue Gesellschaft« erschienene Sammlung von Aufsätzen und Glossen von Altmann und Gross, die auch einige der Gedichte von Erich Strauß enthielt. Am bekanntesten wurde im Lauf der Jahre die drei Seiten lange »Ballade vom reinen Sein« mit der Überschrift »Die Substanz und das Subjekt«. Sie beginnt so: »Die Substanz und das Subjekt / Liegen müßig hingestreckt. / Die Substanz kaut an der Prosa / Eines Benedikt Spinosa / Das Subjekt liest nur noch Hegel / Und benimmt sich wie ein Flegel / Jeder hofft den jeweils Andern / Mit sich selbst zu unterwandern.«

      Am meisten beeindruckte mich damals, wie umfassend Carl Schmitt über aktuelle Entwicklungen informiert war. Er mußte ein ganzes Netz von Informanten gehabt haben, die ihn intellektuell auf dem laufenden hielten, nicht nur in Deutschland, sondern auch in Spanien und Frankreich. Er war mit den erstaunlichsten Neuerscheinungen versorgt, von denen er vieles zur Kenntnis nahm, so daß er die darin formulierten Thesen im einen oder andern Fall ins Gespräch einflechten konnte. So saß offenbar im Deutschen Taschenbuchverlag jemand, der ihn regelmäßig über die neueste Pro­duktion in Kenntnis setzte. Wie ich später erfuhr, war es der Chef Heinz Friedrich selbst, der Carl Schmitt schickte, was ihm in Frage zu kommen schien.

      So war nicht verwunderlich, daß wir manche frische Lektüre teilten, etwa die der soeben erschienenen Tagebücher von Cesare Pavese. Schmitt zeigte sich von diesem stark beeindruckt, seine Be­merkungen verrieten eingehende, ja intensive Beschäftigung. So erwähnte er Paveses Ansicht, daß Shakespeares Drama aus dem Dialog lebe, nicht aus der Handlung. Das gehörte in den Zusammenhang von Benjamins Trauerspielbuch und Schmitts Antwort in »Hamlet oder Hekuba«.

      Wenn ich mir heute darüber klarzuwerden ver­suche, welchen Eindruck der bald achtzigjährige Carl Schmitt auf mich machte, dann war es wohl vor allem die Mischung von altmodischer Höflichkeit und anarchischer Freiheit im Gespräch. Er wirkte nicht wie ein Professor, sondern wie ein Künstler, der ein uferloses Werk erläutert. Ich wunderte mich, wie jemand, der doch zweifellos ein Gelehrter alten Stils war, so vielseitig interessiert sein konnte und überall originelle Gesichtspunkte ins Spiel brachte. Dadurch entstand das Gefühl der existentiellen Wichtigkeit geistiger Gegenstände. Alles konnte jederzeit von neuem erschlossen werden und völlig neue Ansichten freigeben.

      Die gutmütigen, blauen Augen des alten Mannes verscheuchten dabei jeden Eindruck des Unheim­lichen oder Dämonischen. Seine Beweglichkeit verblüffte mich. Zu allem schien er sofort Zugang zu finden, nie ging er schematisch vor. Er setzte die gleiche Unabhängigkeit des Urteils auch bei seinem Gesprächspartner voraus, vor allem aber die Überzeugung, daß es sich nicht um spannungslose Themen handelte, sondern um Fragen, die ihre eigene Brisanz hatten. Sein intellektuelles Abenteurertum schien kaum nachgelassen zu haben, auch wenn eine gewisse Erschöpfung zu bemerken war. Er wirkte wie ein von einer Irrfahrt zurückgekehrter Abenteurer, der nun ohne Rechthaberei in seinen gesicherten Überzeugungen lebte. Er hatte mit aller Kraft die Integrität seiner Schriften verteidigt, nicht nur die der Zeit vor 1933, sondern auch der ungleich angreifbareren aus den Jahren danach, vor allem die über den »Leviathan«. Er suchte junge Leute an sich zu binden, die seine Absichten richtig deuteten und in die Situation der Nachkriegsuniversität zu übersetzen imstande waren. Hinzugekommen waren Arbeiten, in denen er die aktuelle Lage zu interpretieren versuchte, in seinem Stil und auf der Grundlage seines Werkes, das allmählich wieder zugänglich zu werden begann.

      »Haben wir ein Thema?« lautete die berühmte und gefürchtete Eingangsfrage an seine Besucher. Er hatte jedenfalls ein Thema, und neuerdings hatte er sogar eines, das mitten ins Weltgeschehen eingriff. Seine Abhandlung über den Partisanen war gerade erschienen, er meldete sich mit ihr zurück. Die Positionen von Mao oder seinem General Giap, von Castro und Che Guevara waren ihm in den zugänglichen Ausgaben bekannt, und natürlich war ihm die europäische Genealogie des Partisanenkampfes seit der napoleonischen Zeit vertraut. Nicht nur war er besser informiert als die meisten, er glaubte darüber hinaus einen Schlüssel zur aktuellen Weltlage in Händen zu halten.

      Das alles war der sehr weitgehenden Isolierung in einem Nest des Sauerlandes geschuldet. Er versuchte seine Themen einzukreisen und bemühte sich, sie zusammenzuhalten. Anders als Akademiker, die sich auf die Diskussionen in ihrem Fach verlassen, war er darauf angewiesen, seinen Fragen ein Maximum an konkreter Evidenz mitzuteilen. Sie konnten nur als Fragen und Thesen Carl Schmitts, unverwechselbar mit anderem, in die Welt gehen. Er strebte für sich nach einer gewissen geistigen Schlüsselgewalt, die ein Gegengewicht für seine Angreifbarkeit bot.

      Das Bild des Schlüssels paßt zur Physiognomie des clerc, und zweifellos hatte er etwas von einem französischen Weltgeistlichen. Seine verhängnisvolle deutsche Biographie macht seine französischen Wurzeln leicht vergessen. Carl Schmitts Mutter war Französin, er war mit ihrer Sprache aufgewachsen, er sprach und schrieb fließend Französisch, die stärksten Elemente seines geistigen Gepräges stammten aus Frankreich. Französisch war auch die Mischung aus Bäuerlichkeit – seine Vorfahren stammten aus den Weingegenden der Mosel – und Intellektualität, wie man sie beim französischen Geistlichen antreffen mag. Vor allem war es der Rationalismus der französischen Juristen des siebzehnten Jahr­hunderts, der ihn geprägt hatte. Sein Leben lang hatte er entscheidende intellektuelle Impulse aus Frankreich aufgenommen.

      Carl


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