Das letzte Sandkorn. Bernhard Giersche
Читать онлайн книгу.Moment war er froh darüber, dass es da draußen niemanden gab, um den er sich Sorgen machen musste. Er war der klassische Karrierist, und er fühlte sich gut in der Rolle. Er konnte gut mit Menschen umgehen, und er war zeitlich frei und ungebunden. Seine Energie hatte er in seine Ausbildung gesteckt. Studium, dazu Praktika und immer schön lächeln auf dem Weg nach oben. Und mit Geld konnte er umgehen. Er genoss die Macht, bei Kreditanfragen »Ja« oder »Nein« sagen zu dürfen und so Handlungsstränge schaffen zu können. Oder zu verhindern. Hatte Gott nicht auch davon gesprochen? Er hatte Handlungsstränge geschaffen. So wie er, Bankdirektor und Liebling des Vorstandes, auch. Und er sah gut aus. Gut. Irgendwie so, wie man sich einen Banker vorstellte.
Kurze, dunkle Haare, ein leicht schelmenhaftes Lächeln und kleine Fältchen um die Augen, die ihm Seriosität verliehen, und gleichzeitig besaß er etwas jugendhaftes, lausbubenartiges. Die Kunden vertrauten ihm sofort, und niemand nahm ihm je eine Entscheidung übel.
Glatt und sauber, gut gekleidet, tolle Armbanduhr, die zwar über tausend Euro gekostet hatte, die ihm aber nichts zu trinken geben konnte, was sie hier für ihn absolut wertlos machte. Er besaß eine Eigentumswohnung, und in der Tiefgarage der Bank verbrannte wohl gerade sein imposanter BMW.
Das alles war ihm allerdings im Moment völlig egal.
Er wollte nur raus hier, aber er hatte gleichzeitig auch diese schreckliche Gewissheit, dass er sterben würde, in dem Moment, in dem er die Stahltür öffnete.
Der Durst wurde unerträglich, und die Hitze in dem Raum raubte ihm den Verstand. Er musste schon seit Stunden Wasser lassen. Nun hielt er es nicht mehr aus und urinierte in eine Ecke des Raumes. Der Uringestank machte die Luft noch unattraktiver für das Atmen.
Nach weiteren sechs Stunden war Laurenz Beck alles gleichgültig. Seine Lippen waren aufgesprungen und brannten . Seine Augen schmerzten bei jedem Blinzeln und seine Lungen fühlten sich an, als als sei jedes Sauerstoffmolekül mit Widerhaken versehen, die sich in das empfindliche Lungengewebe gruben. Der Durst war überwältigend, und schon lange dachte er nicht mehr an Gott und Auftrag und Bedrohung durch wahnsinnig gewordene Prokuristen, sondern nur noch daran, etwas trinken zu wollen. Er konnte nicht mehr durch die Nase atmen, sie war völlig zugeschwollen. Durst, unsäglicher Durst. Seine Kehle war trocken. Die Schleimhäute hatten ihren Dienst versagt, und jeder Atemzug war einer Qual geworden.
Er hasste sich dafür, einfach in die Ecke uriniert zu haben. Er kroch in die betreffende Ecke, in der Hoffnung, dort würde eine Pfütze Flüssigkeit auf ihn warten, doch der Urin war bei der hohen Temperatur völlig verdunstet.
Er kniete sich hin und versuchte, in seine hohle Hand zu urinieren. Der klägliche Spritzer Pisse, den er ausschied, landete neben seiner Hand auf dem Boden und er warf sich darauf und leckte den Estrich ab. Die Stahltür knackte.
Laut und deutlich.
Nach einigen Sekunden wieder. Knack.
Knack. Knack.
Schwer atmend kroch er in Richtung Tür und wagte es, sie anzufassen. Sie war nicht mehr so heiß, das Knacken rührte daher, dass sie abkühlte. Knack.
Er war jetzt achtzehn Stunden hier unten. Und deutlich weniger Zeit vom Wahnsinn entfernt. Sehr deutlich weniger.
Und wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, so würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen!
Martin Luther
Brigitta I
Das war jetzt ganz schlecht. Das war so nicht vorgesehen. Darauf hatte sie niemand jemals vorbereitet.
Ohne Strom und ohne Freunde und Helfer war das jetzt erst mal eine Katastrophe.
Brigitta Becker versuchte sich zu beruhigen, indem sie sich an ihren Küchentisch setzte und tief durchatmete, so wie Yvonne, ihre Freundin und Lehrerin, es ihr gesagt hatte.
»Du musst, wenn du an Grenzen kommst, von denen du denkst, sie nicht überwinden zu können, dich hinsetzen und zur Ruhe kommen. Es wird nichts geschehen.
Orientiere dich stets neu, finde Deine Position und du kannst in Ruhe über den Weg nachdenken, den du gehen willst oder musst.«
Sie tastete nach ihren Zigaretten, fand sie da, wo sie sie hingelegt hatte und griff selbstsicher nach dem Feuerzeug, das neben der Schachtel lag, Rechts neben der Schachtel.
Ihre Hand zitterte ein wenig.
Sie hielt sie mit der anderen Hand fest und zündete die Zigarette etwa in der Mitte an. Das passierte öfter, vor allem wenn sie nervös war.
»Scheiße«, rief sie, als die Glut das vordere Teil der Zigarette abtrennte und dieses ihr in den Ausschnitt fiel, an einer Seite glühend. Sie schlug gegen ihre Bluse, um die Glut zu löschen.
»Scheiße, Scheiße, Scheiße«, rief sie anschließend laut und haute dabei bei jedem »Scheiße« mit der Hand auf die Tischplatte.
Das alles war viel für sie. Zu viel vielleicht.
Neben all den kosmischen und weltlichen und großen und kleinen Problemen, neben all den Katastrophen in ihrem Leben und den Ungerechtigkeiten, die sie seit ihrer Geburt erleben und ertragen musste, nun noch so etwas. »Scheiße«, sagte sie erneut und ihre Gedanken rasten in einem irren geistigen Flipperspiel durcheinander, keine Chance für sie, das Chaos in ihrem Kopf zu ordnen. Heftig zog sie an der Zigarette, und als sie den verbrannten Filter schmeckte, tastete automatisch ihre linke Hand nach dem Aschenbecher, der stets in der Mitte des Tisches stand. Jetzt aber war er durch das Schlagen auf den Tisch ein wenig weggehüpft und stand nun an der rechten Tischkante.
Sie drückte die Zigarette auf der Tischplatte aus und rief erneut »Scheiße«, als sie es bemerkte.
In plötzlicher Wut stieß sie den Tisch mit allem, was sich auf ihm befand um. Das Krachen und Splittern dröhnte in ihrem Kopf.
»Yvonne«, schrie sie laut, »Yvonne, komm bitte her und hilf mir«, doch ihre Lehrerin war schon seit über dreißig Minuten tot. Sie konnte das nicht wissen, denn sie bekam kaum etwas von dem, was gerade in der Welt geschah, mit.
Der Strom war ausgefallen, und auch wenn der Akku des Laptop noch funktionierte, so brachte sie keine Internetverbindung zustande. Ihr Braille-Leser schwieg und sie ertastete nur: »Keine Verbindung zum Internet.« Der Fernseher und das Radio ließen sich nicht mehr einschalten und außerhalb ihrer Wohnung konnte sie seit über zwei Stunden sehr beunruhigende Geräusche hören. Schreie und anderes sehr Beunruhigendes.
Sie hörte die schnellen Schritte der Nachbarn, hörte Geräusche von davonrasenden Autos, aber sie bekam erst richtig Angst, als sich vereinzelt Schüsse in das Geräuschinferno mischten.
Sie stand auf, berücksichtigte den umgefallenen Tisch und ging in ihr Schlafzimmer. Natürlich hatte sie Gottes Botschaft erhalten, aber danach hatte sie nur ein wirklich starkes Gefühl: Gott verarscht sie.
Brigitta Becker, genannt »Becki«, war seit ihrer Geburt blind und hatte nicht die geringste Chance, die Menschheit zu retten. Und so, wie sich die Dinge entwickelten, hatte sie eine noch geringere Chance, die zehn Tage bis zum Exodus zu überleben.
Sie hatte aufgrund ihrer gesteigerten Wahrnehmung des haptisch-taktilen und des auditiven Sinnes durchaus wahrgenommen, dass nach der Vergewaltigung ihres Verstandes durch die Gottheit alles anders wurde. Die gesamte Präsenz der Realität hatte sich verändert. Die Grundstimmung, die innere Grundfarbe der Realität, hatte sich verändert. War von »warm« nach »Chaos« gewechselt. Farben konnte sie nicht visualisieren, stattdessen arbeitete ihr Verstand mit Metaphern aus dem Reich der Zahlen, Gefühle und Gerüche.
Instinktiv und von dem absoluten Lebenswillen beseelt, den sie stets bemühte, wenn sich Mauern und Grenzen auftaten, ging sie die wenigen Meter bis zu ihrer Diele und griff nach ihren Leder-Boots, die sie am liebsten dann trug, wenn ihr Ego mal wieder eine Exkursion ins Reich der Depressionen plante.
»Yvonne«, flüsterte sie und sie projizierte den Weg zu ihrer Lehrerin in ihr Bewusstsein. Yvonne hatte Karla abgelöst, die