Brandt-Gefahr. Klaus Vater

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Brandt-Gefahr - Klaus Vater


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konnte es bloß gehen? War irgendetwas passiert, das ihm bisher entgangen war? Hat einer seiner Kollegen etwas derart versiebt, dass der Verfassungsschutz auf den Plan gerufen wurde? Unwahrscheinlich. Er ging noch einmal alle aktuellen Fälle durch, aber keine der laufenden Ermittlungen bot viel Zündstoff. Das Einschalten der Verfassungsschützer machte Kappe jedenfalls misstrauisch. Der riesige Apparat der West-Berliner Polizei glich einem Labyrinth, in dem man leicht den Überblick verlor. Überzeugte Sozialdemokraten und alte Nationalsozialisten fochten ihre Kämpfe aus. Außerdem wusste niemand, wie viele Spitzel Ost-Berlins und Moskaus in den drei Westsektoren aktiv waren, denn bis zum Mauerbau 1961 hatten diese ungehinderten Zutritt zum Westen gehabt. Viele hatten sich als Flüchtlinge registrieren lassen, um auf die Chance zu warten, dem kapitalistischen Klassenfeind Schaden zufügen zu können. Niemand konnte sagen, wer diese Spitzel waren, wo sie steckten oder mit wem sie in Kontakt standen. Otto Kappe war sich sicher, dass die Polizei des freien Teils der Stadt Ulbrichts Spitzel anlockte wie Tannenhonig die Braunbären.

      Auch er selbst wurde von manchen Kollegen mit Argwohn betrachtet – schon deshalb, weil sein Cousin Hartmut höherer Offizier bei der Kripo in Ost-Berlin war. Hinzu kam, dass die West-Berliner Kriminalpolizei an Ansehensverlust litt, seitdem ihr im Sommer des Jahres 1966, das sich nun dem Ende zuneigte, ein fataler Misserfolg beschieden war. In Spandau war die elfjährige Christa John missbraucht und ermordet worden. Der Fall hatte die ganze Stadt beschäftigt, und die Polizei hatte unter einem enormen öffentlichen Druck gestanden. Erst Wochen später war der Täter, ein zur Tatzeit sechzehnjähriger Lehrling, gefasst worden. Die Zeitungen hatten kübelweise Hohn und Spott über die tollpatschige Kripo ausgeschüttet. Zum Glück war Otto Kappe nicht an den Ermittlungen beteiligt gewesen.

      Gegen halb acht erreichte seine U-Bahn den Bayerischen Platz. Er stieg aus, spazierte, während er seine Gedanken schweifen ließ, gemächlich ein Stück die Grunewaldstraße entlang, um dann in die Gothaer Straße einzubiegen, an deren Ecke das Gebäude der Berliner Kripo stand. Der mächtige Bau mit imposanter Fassade und Walmdach hätte ebenso gut ein Theater oder ein Gymnasium beherbergen können. Nun arbeitete Otto Kappe als Kripobeamter mit Pensionsanspruch bereits seit zehn Jahren in diesem Gebäude.

      Sein Kollege Hans-Gert Galgenberg war nicht an seinem Arbeitsplatz.

      «Der ist noch nicht da», erklärte seine Sekretärin.

      Otto Kappe verzog das Gesicht, sagte aber nur: «Da kann man nüscht machen.» Schließlich ergänzte er ein wenig stockend: «Sie sehen heute übrigens hinreißend aus, Frau Kessel!»

      Frieda Kessel lachte. Sie kannte den Kommissar und dessen mitunter etwas ungelenke Art. Keine Allüren, zurückhaltend, stets korrekt und nie aufbrausend ihr gegenüber. Seit Jahren arbeitete sie für ihn und war nie ungerecht von ihm behandelt worden. Ein Kompliment wie dieses wertete sie als Zeichen des Respekts. Es gab Sekretärinnen in der Kripo, die sie beneideten. Denn sie war für einen Mann tätig, der in seinem Beruf zweifellos tüchtig war, der ungeschliffenes Verhalten nicht zuließ und der für Fehler selbst geradestand, statt mit dem Finger auf andere zu zeigen.

      Frieda Kessel war ein Jahr jünger als der im Jahr 1911 geborene Otto Kappe und kleidete sich seit einiger Zeit wieder flott, benutzte Lippenstift und zeigte Bein. Ihre kleine private Welt war aus den Fugen geraten, als ihr Ehemann sie vor Jahren wegen einer jüngeren Frau verlassen hatte.

      «Wenn Herr Galgenberg erscheint, fragen Sie ihn bitte, ob er sich um eine Kneipe für morgen Abend gekümmert hat», sagte Otto Kappe. «Wenn nicht, soll er sich auf die Socken machen!»

      «Mach ich», antwortete Frieda Kessel. «Gleich beginnt die Besprechung mit Kripochef Niederzier», fügte sie an. «Sie möchten bitte in den Besprechungsraum im zweiten Stock kommen.»

      «Was denn?», knurrte Kappe. «In dieses Loch? Warum denn dorthin?»

      «Weil Herr Direktor den Gästen vorführen möchte, dass die Berliner Kripo über Gebühr knappgehalten wird.»

      «Aha … Dann mache ich mich mal auf den Weg.»

      Der Besprechungsraum sah auf den ersten Blick wie ein Klassenzimmer aus, die Einrichtung wirkte wie zusammengewürfelt. Zur Straße hin befanden sich hohe, bogenförmige Fenster, die einer Reinigung bedurften. An einer Breitseite hing eine leere grüne Tafel mit Schwamm und Kreide, an der anderen eine riesige Karte, auf der Deutschland in den Grenzen von 1937 abgebildet war. Allerdings waren die ehemals deutschen Gebiete östlich der Oder mit einem breiten gelben Rand versehen, sowohl die unter sowjetischer Verwaltung im östlichen Teil des früheren Ostpreußen als auch die unter polnischer Verwaltung. Die sowjetisch besetzte Zone, die SBZ, war grün, die englische Besatzungszone rot, die US-amerikanische blau und die Zone der Franzosen lila umrandet. Berlin war wie ein Fremdkörper vom Gebiet der SBZ umschlossen.

      Die Wände des Raums trugen einen ins Gelbliche changierenden, ursprünglich weißen Anstrich. In der Mitte des Zimmers befand sich ein großer, offenbar fabrikneuer Tisch mit blauer Resopalauflage. Um diesen Tisch herum standen mehr oder weniger zerkratzte Holzstühle. An der den Fenstern gegenüberliegenden Längsseite hingen Fotos von den Männern, die seit 1951 das Amt des Berliner Innensenators bekleidet hatten: von Werner Müller, Hermann Fischer, Joachim Lipschitz, schließlich dem aktuellen Amtsinhaber Heinrich Albertz. Daneben war ein Bild des Bundespräsidenten Heinrich Lübke aufgehängt.

      In der Mitte des Raums stand der Befehlshaber über 1700 Berliner Kriminalpolizisten, Kriminaldirektor Günther Niederzier. Wie immer war er in einen eleganten Anzug gekleidet. Er rückte seine Brille zurecht, strich sich über das Haar und schaute Kappe aus müden Augen an.

      Otto Kappe trat auf ihn zu. «Guten Morgen, Herr Niederzier!» Er reichte ihm die Hand und nickte, um dann wieder einen Schritt zurückzutreten. Er kannte den Kriminaldirektor seit Langem und schätzte ihn, weil er kein sturer Traditionalist, sondern für Neues aufgeschlossen war. Niederzier nutzte Zeitungen wie den Tagesspiegel, um die Öffentlichkeit über Verbrechensursachen und die Arbeit der Polizei zu informieren. Er achtete auf eine kollegiale Zusammenarbeit innerhalb der Kripo. Kappe dachte ähnlich wie er. Beide respektierten sich. Nur vor zwei Jahren hatte ihn der Direktor mal zur Brust genommen, weil er im Fall eines Pharmaunternehmers, der mit Gas vergiftet worden war, nicht so recht weitergekommen war. Seitdem hatte Kappe aber wieder mit seiner Arbeit überzeugen können.

      «Guten Morgen, Herr Kappe!», erwiderte Niederzier. «Geht es Ihnen gut? Haben Sie zurzeit einen besonders aufwendigen Fall, der Sie stark beansprucht?», fragte er.

      «Danke der Nachfrage. Im Augenblick sind wir eher mit Routinefällen beschäftigt.»

      «Sie könnten also noch eine weitere Aufgabe übernehmen?»

      «Ja, das ließe sich wohl machen …», antwortete Otto Kappe zögerlich und wandte sich nach rechts, um den Kriminalrat Friedhelm Keunitz, den Leiter der Unterabteilung 1 der Kriminalinspektion, zu grüßen, seinen unmittelbaren Vorgesetzten. Kappe wusste, dass Keunitz es nicht verknusen konnte, wenn er nicht beachtet wurde. Dienstvorschriften gäbe es nicht aus Jux und Tollerei, lautete dessen Credo.

      Hinter Keunitz entdeckte er den Kommissar Eduard Strattmann. Der war Personalrat, allerdings nicht freigestellt. Er gehörte der einflussreichen «Keulenriege» in der Berliner SPD an, also dem rechten Flügel der Partei, der vor Jahren Willy Brandt in harten Auseinandersetzungen mit der Parteilinken als Landesvorsitzenden der SPD durchgedrückt hatte. Strattmann war ein bulliger Kerl und ein sturer Hund. Im Dienst galt er als ziemlich humorlos. Er war im Ruhrgebiet aufgewachsen und nach dem Krieg in Berlin hängengeblieben, der Liebe wegen. Nun wohnte er mit seiner Familie in einer bequemen Vierzimmerwohnung in Wilmersdorf. Er war ein hartgesottener Antikommunist, dem nachgesagt wurde, dass er mit Blick auf die Sowjetunion nur eines genießen könne: Russische Eier, jene mit unechtem Kaviar und Remoulade bekrönten Sattmacher.

      Otto Kappe hatte bisher nicht mit Strattmann zusammengearbeitet. Man kannte sich natürlich von Besprechungen sowie von Feiern. Und von Polizeiparaden in den Fünfzigern, auf denen sie nebeneinander marschiert waren, der Sozi Eduard Strattmann und der Adenauer-Bewunderer Otto Kappe, während Gertrud und Strattmanns Betty am Straßenrand miteinander gequasselt, zu der Blechmusik des Polizeiorchesters geschunkelt und ihren Männern zugewinkt hatten.

      Kappe


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