Trotz Depressionen ein erfolgreiches Leben. Wilfried Zaube
Читать онлайн книгу.eines sehr netten Lehrerehepaares fand ich eine Aushilfsstelle in einem Chemielaboratorium einer großen Kokerei in unserer Nachbarstadt. Das war für mich wieder eine völlig andere Welt. Ich tauschte Backstube, Backofen und Kuchenbleche gegen Pipetten, Erlenmeyerkolben und feine Messgeräte aus. Das Umfeld, die praktische Arbeit und die einzelnen Arbeitsabläufe haben mich derart fasziniert und positiv beeinflusst, dass ich nach vier Wochen Arbeitseinsatz fest entschlossen war, einen Beruf in einem Laboratorium zu erlernen.
Daraufhin habe ich mich nur einige Wochen vor Bewerbungsschluss bei der Bayer AG in Leverkusen beworben. Überraschenderweise erhielt ich eine Einladung für einen ganztägigen Test in Leverkusen. Mannomann, war das aufregend! Ich fuhr dorthin und bestand den Test nach einem schweißtreibenden Tag. Das Unternehmen hat mir danach eine Ausbildungsstelle zum Chemielaborjungwerker angeboten. Was für eine Perspektive! Als junger Spund endlich von zu Hause weg, raus aus der Provinz – hinein in das Großstadtleben. Darüber hinaus war ich einfach nur happy, von zu Hause wegzukommen, weil die Ehe meiner Eltern schon länger kriselte und bald danach auch geschieden wurde. Im August 1971 zog ich von zu Hause aus. Leverkusen sollte für viele Jahre meine zweite Heimat werden. Ich wohnte in einem Lehrlingsheim (auch Bullenkloster genannt) mit 50 weiteren Auszubildenden zusammen.
Dieses Umfeld war nun etwas völlig Neues für mich. Raus aus dem geteilten Kinderzimmer mit meinen beiden Brüdern in ein eigenes Zimmer mit Etagendusche und Etagentoilette. Direkt am ersten Tag nach dem Eintreffen wurden die vorher gesammelten Bilder der damals bekannten Musik- und Popgruppen an die Wände gehängt. Schön bunt und dekorativ sah es aus – das war vorher zu Hause selbstverständlich unmöglich gewesen. In dieser Einrichtung gab es jetzt deutlich mehr Freiheiten, allerdings lernte ich in kleinen Dingen auch, Verantwortung zu übernehmen.
Gegen 22.00 Uhr ging der Heimleiter durch alle Zimmer, um zu schauen, ob auch alle brav anwesend sind und insbesondere keine weiblichen Gäste an Bord waren. Er forderte auch immer wieder zur baldigen Bettruhe auf. Im Speiseraum gab es eingeteilte Küchen- und Reinigungsdienste, an denen sich jeder Bewohner beteiligen musste. Für mich war das keine große Sache, weil ich als ältester Sohn schon in jungen Jahren zu Hause im Haushalt immer mit ranmusste. Dennoch war es eine gute Schulung für alle Bewohner, sich für die Gemeinschaft einzusetzen, und auch eine gute Grundlage für den späteren Schritt nach der Zeit im Lehrlingsheim.
Mit dem abendlichen Ausgang am Wochenende war es dann auch nicht so arg spannend. Erstens fehlte mir die notwendige Kohle und zweitens mussten die unter 18-Jährigen um 22.00 Uhr im Wohnheim sein. Nur die Älteren unter uns bekamen Schlüssel ausgehändigt. Ich hatte eines der wenigen Zimmer mit Balkon und einem angrenzenden Baum. Deswegen wurde mein Zimmer von den älteren Bewohnern nachts regelmäßig als Türöffner und Durchgangsbereich in ihre eigenen Zimmer missbraucht. Selbstverständlich mit ausdrücklicher Schweigepflicht. Damenbesuch auf den Zimmern war sowieso ein No-Go. Dennoch wurden bei geschickter Vorgehensweise in diesem Hause die ersten interessanten sexuellen Erfahrungen gemacht. Und das, obwohl ich jederzeit mit dem Aufkreuzen des Heimleiters rechnen musste, der ja über einen Generalschlüssel verfügte. Ja, in der Tat, es waren manchmal aufregende, mit Stress behaftete Abende und Nächte.
Das Abendessen wurde in großen Essenskübeln mit dem Taxi aus einem anderen Lehrlingsheim gebracht. Es war gegenüber Muttis Küche allzu oft gewöhnungsbedürftig oder halt nicht immer unbedingt genießbar. Deswegen wurde mindestens einmal pro Woche auswärts Pommes rut/wieß der Vorzug gegeben. Gyros war gerade im Kommen – doch zu teuer für einen auswärtigen Auszubildenden. Wegen dieses Vorgehens wurde später durch einen Arzt bei mir Vitaminmangel und Unterernährung festgestellt – das waren aus heutiger Sicht noch recht gute Zeiten!
Eine sehr nachhaltige Lebenserfahrung war, dass meine älteren Mitbewohner in einer Leverkusener Gaststätte an einem gemütlichen gemeinsamen Abend mir zunächst einige Kölsch ausgaben – das war ja recht nett von denen. Damals kostete das Kölsch gerade mal 50 Pfennig – also 0,25 Euro. Wie dann immer so ein feuchtfröhlicher Abend verläuft. Na ja, dann haben sie mir eine Kippe angeboten. Ich hasste das Zeug, weil mein Vater so intensiv rauchte, dass regelmäßig neu tapeziert werden musste. Der gute Mann hat in seinem Leben locker ein Einfamilienhaus durch den Kamin gebracht und dann noch der ständige Gestank. Nein, ich wollte das überhaupt nicht. Doch der Alkoholpegel, der sich mittlerweile eingestellt hatte, und der intensive Gruppenzwang führten dazu, dass ich letztendlich doch an so einem Stängel inhalierte. Das Ergebnis war, mir wurde derart kotzübel, dass ich danach nie wieder im Leben eine Kippe angerührt habe.
Im zweiten Jahr haben wir dann im Keller des Lehrlingsheimes einen Partyraum einrichten dürfen. Für unseren Heimleiter schon eine Revolution. Für uns junge Burschen ein Highlight. Eine Theke und Discjockey-Hochsitz. Jeden Samstag duften wir bis 22.00 Uhr dort feiern und Externe einladen. Kölsch durfte auch getrunken werden. Mädchen waren auch willkommen – selbstverständlich unter strenger Aufsicht. Während dieser Zeit entdeckte ich meine Vorliebe dafür, Musik aufzulegen. Die Gäste mit der richtigen Musik zum richtigen Zeitpunkt auf die Tanzfläche zu bringen, hat mir dann bis ins hohe Alter sehr viel Freude bereitet. Hier wurde der Grundstein für spätere Aktivitäten in dieser Richtung gelegt.
Wie schon erwähnt, verfügte ich nur über ein geringes Taschengeld, weil das Lehrlingsheim natürlich auch Geld gekostet hat. Demnach war nicht viel mit Ausgehen. Ich habe viel Zeit damit verbracht, mich zum Beispiel intensiv mit theoretischen chemischen Zusammenhängen, wie dem Aufbau von Struktur- und Summenformeln, zu beschäftigen. Das Lehrfach Chemie war ja vorher in der Hauptschule absolut nicht mein Ding gewesen. Ich musste mich schon ziemlich reinhängen. Gegenüber meinen Mitauszubildenden habe ich viel Zeit im Wohnheim verbringen müssen. Einen Vorteil hatte es: Ich lernte hier gut Skat spielen, was ich noch heute regelmäßig sehr gern tue.
Die Ausbildung, fand, so wie heute, im Block statt sowie in der Berufsschule und in wechselnden Produktionsstätten mit angeschlossenen Laboratorien. Ich weiß es noch genau, mein erster Betreuer hat mir das Umgehen mit dem Rechenschieber beigebracht. Für die heutige Zeit undenkbar. Die junge Generation weiß nicht, was ein Rechenschieber darstellt. Einfache Taschenrechner waren gerade erst auf dem Markt. Da ich auch nicht gerade ein Mathegenie war, hat er mir erst einmal den einfachen Dreisatz und Prozentrechnen zu Gemüte geführt – eine sehr nachhaltige Erfahrung. Deswegen beherrsche ich bis heute im täglichen Leben diese Grundrechenarten immer noch sehr sicher. Dafür bin ich ihm immer noch äußerst dankbar.
Während der praktischen Ausbildung und der Berufsschule lernte ich einem bemerkenswerten Menschen kennen. Er wor ne echt kölsche Jung us Köln Weidenpesch (bekannt durch die Pferde-Galopprennbahn). Wir trafen uns meistens in der Mittagspause. Da gab es in der Regel nur ein Thema. Denn er war ein eingefleischter Eishockeyfan – konkret vom Kölner Eishockeyclub. Zu dieser Zeit ging es um die Neuausrichtung der deutschen Eishockeyklubs und zum ersten Mal sollten die Klubs auch spezielle Namen erhalten. Die Kölner sollten ab 1972 künftig „Kölner Haie“ heißen.
Mein guter Freund wollte mich immer zu einem Spiel mitnehmen. Doch ich hatte einfach kein Interesse an diesem Sport. Im Fernsehen kannst du kaum den Spielverlauf verfolgen, geschweige einen Torschuss sehen. Doch er war sehr hartnäckig. Ich bin dann irgendwann einfach ihm zuliebe mal mit gegangen.
Doch ich war beim ersten Mal im Eisstadion mehr als erstaunt, nein, eher fasziniert. Das Geschehen auf dem Eis, der schnellste Mannschaftssport der Welt. Ich fand das einfach genial. Von dem ersten Besuch an war ich regelmäßig im Eisstadion. Die Kölner Haie haben mich – bis heute – mein ganzes Leben begleitet und haben mir in tiefen depressiven Stunden Freude, Ablenkung und neuen Auftrieb gegeben. Die Kölner Haie sollten im späteren Verlauf meines Lebens eine Therapieform für meine Depressionen sein.
Tipp:
Oft ist es gar nicht so einfach, etwas zu unternehmen, was Freude macht und damit zur Ablenkung führt. Etwas noch Unbekanntes auszuprobieren und sich von anderen „mitnehmen“ zu lassen, kann zu einem angenehmen Erfolgserlebnis führen und ein positives Gefühl auslösen.
Die Berufsausbildung in einem Weltunternehmen und das Arbeiten in einem Chemielabor waren für mich die richtige Entscheidung. Es hat mir wirklich sehr viel