Meditation ist nicht, was Sie denken. Jon Kabat-Zinn
Читать онлайн книгу.und auf geheimnisvolle Weise dazu hingezogen, uns an Orte zu begeben, die wir normalerweise nicht aufsuchen würden. Vielleicht zieht es uns in eine Gegend, in der wir als Kind eine Zeitlang gelebt haben, in die Wildnis, zu einem Meditationsretreat, zu einem Buch, einem Kurs oder einem Gespräch – kurz: zu allem, was es dieser lange ignorierten Seite in uns selbst ermöglichen könnte, sich dem Sonnenlicht zu öffnen, sodass wir sie sehen, hören, fühlen, erkennen und uns zu eigen machen können, ganz gemäß der lebenslangen Sehnsucht unseres Herzens, sich selbst zu begegnen.
Das Abenteuer, welches das Universum der Achtsamkeit für uns bereithält, kann uns den Zugang zu den Dimensionen unseres Seins eröffnen, die wir vielleicht allzu lange nicht beachtet oder verleugnet haben. Wie wir sehen werden, hat Achtsamkeit das große und vielschichtige Potenzial, sich auf die Entfaltung unseres Lebens auszuwirken. Genauso kann sie in die größere Welt hineinwirken, in die wir so übergangslos eingebettet sind – in unsere Familien, unsere Arbeit, die gesamte Gesellschaft, unser Selbstverständnis als ein Volk, also als das, was ich den „politischen Körper“ nenne, und den Körper der Welt, also alle Bewohner des Planeten Erde als Gemeinschaft. Und all das kann deshalb durch Ihre eigene Achtsamkeitspraxis geschehen, eben weil Sie so eingebettet sind und weil es diese wechselseitigen Beziehungen zwischen dem Inneren und dem Äußeren, zwischen dem Dasein und dem Tun gibt.
Es steht außer Frage, dass wir in das Gewebe des Lebens selbst eingebettet sind, ebenso wie in das Gewebe dessen, was wir „Geist“ nennen könnten, eine unsichtbare und nicht greifbare Essenz, die es unserem Empfinden, unserem Bewusstsein und dem Gewahrsein ermöglicht, Unwissenheit in Weisheit und Zwietracht in Versöhnung und Harmonie zu verwandeln. Das Gewahrsein bietet uns einen sicheren Hafen, in dem wir uns ausruhen und erholen können – in einer vitalen und dynamischen Harmonie, Gelassenheit, Kreativität und Freude, und zwar jetzt und nicht erst in einer fernen und lediglich erhofften Zukunft, in der die Umstände „besser“ geworden sind, in der wir alles unter Kontrolle haben oder zu „besseren Menschen“ geworden sind. So seltsam es sich anhören mag: Unsere Fähigkeit zur Achtsamkeit erlaubt es uns, das zu schmecken und zu verkörpern, was wir uns am tiefsten ersehnen, das, was uns so häufig entgleitet und erstaunlicherweise doch immer so nah ist – mehr geistige Stabilität, mehr Gemütsruhe und alles andere, was damit einhergeht, und zwar in jedem Augenblick unseres Lebens.
Im Mikrokosmos ist Frieden nicht ferner als ebendieser Augenblick. Im Makrokosmos ist Frieden etwas, was im kollektiven Sinne fast jeder von uns auf die eine oder andere Weise anstrebt, insbesondere dann, wenn dieser Frieden mit Gerechtigkeit, der Anerkennung der unserer Ganzheit innewohnenden Diversität, der Menschlichkeit und der Rechte eines jeden Einzelnen einhergeht. Frieden ist etwas, was wir hervorbringen können, wenn wir tatsächlich lernen, als Individuen ein wenig mehr aufzuwachen und noch sehr viel mehr als Spezies; wenn wir lernen können, voll und ganz das zu sein, was wir wirklich sind, und unser angeborenes menschliches Potenzial zu verwirklichen. Wie ein Sprichwort sagt: „Es gibt keinen Weg zum Frieden – Frieden ist der Weg.“ Das gilt für die äußere Landschaft der Welt und auch für die innere Landschaft des Herzens. Denn diese beiden sind, in einem tieferen Sinne, eigentlich eines.
Achtsamkeit, die wir uns als ein offenes, nichturteilendes Gewahrsein von Augenblick zu Augenblick vorstellen können, wird am besten durch Meditation kultiviert und nicht, indem wir lediglich über sie nachdenken und philosophieren. Und weil sie im Rahmen der buddhistischen Tradition, in der Achtsamkeit oft als das „Herz der buddhistischen Meditation“ beschrieben wird, am ausführlichsten und vollständigsten artikuliert wurde, habe ich mich entschlossen, im Verlauf dieses Buches hier und dort etwas über den Buddhismus und seine Beziehung zur Achtsamkeitspraxis zu sagen. Das geschieht, damit wir aus dem, was diese außerordentliche Tradition auf der Grundlage ihrer inzwischen 2600 Jahre andauernden Inkubation in verschiedenen Kulturen an diesem Punkt in der Geschichte der Welt anzubieten hat, mehr Verständnis gewinnen und Nutzen ziehen können.
So wie ich es sehe, geht es dabei gar nicht um den Buddhismus als solchen. Man kann sich den Buddha auch wie ein Genie unseres Zeitalters vorstellen, wie einen großen Wissenschaftler, eine mindestens ebenso überragende Gestalt wie Darwin oder Einstein, der, wie es der buddhistische Gelehrte Alan Wallace gern sagt, kein anderes Instrument zur Verfügung hatte als seinen eigenen Geist, um das Wesen von Geburt und Tod und des anscheinend unvermeidlichen Leidens bis in die Tiefe zu erforschen. Um diesen Fragen nachgehen zu können, musste er das Instrument – also seinen eigenen Geist – zunächst verstehen, entwickeln und verfeinern, er musste lernen, es zu eichen und zu stabilisieren. Genau das ist es, was auch Wissenschaftler mit den Instrumenten tun müssen, die sie zur Erweiterung ihrer Sinnesorgane benutzen, zum Beispiel gigantische Teleskope, Radio- oder Elektronenmikroskope, Scanner zur funktionellen Magnetresonanz- (fMRT) oder zur Positronen-Emissions-Tomografie (PET), um damit die Natur des Universums und des riesigen Spektrums der wechselseitig verbundenen Phänomene zu erforschen, die sich darin entfalten – sei es im Bereich der Physik und der physischen Phänomene, in der Chemie, Biologie, Psychologie oder in irgendeinem anderen Forschungsbereich.
Um sich dieser Herausforderung zu stellen, nahm der Buddha es auf sich – und mit ihm all jene, die in seine Fußstapfen traten –, tiefschürfende Fragen im Hinblick auf das Wesen des Geistes und die Natur des Lebens zu erforschen. Ihre gemeinsamen Bemühungen der Selbsterforschung führten zu bemerkenswerten Entdeckungen. Es gelang ihnen, eine genaue Kartografie jenes Territoriums zu erstellen, das die Quintessenz des menschlichen Daseins ist. Es ging dabei um Aspekte des Geistes, die uns allen gemein sind, unabhängig von unseren individuellen Gedanken und Überzeugungen und der Kultur, in der wir leben. Sowohl die Methode, die sie benutzten, als auch die Früchte dieser Forschungsarbeit sind universell und haben nichts mit Ismen, Ideologien, Religionen und anderen Glaubenssystemen zu tun. Was sie entdeckten, ist eher mit medizinischen oder naturwissenschaftlichen Einsichten vergleichbar, also mit Bezugssystemen, die jedermann an jedem Ort untersuchen kann. Ein jeder kann sie unabhängig von anderen für sich selbst auf die Probe stellen, was der Buddha seinen Anhängern von Anfang an auch nahelegte.
Weil ich Achtsamkeit praktiziere und lehre, mache ich immer wieder die Erfahrung, dass die Menschen mich für einen Buddhisten halten. Wenn man mich danach fragt, sage ich für gewöhnlich, ich sei kein Buddhist (auch wenn ich ab und an auf Retreats mit buddhistischen Lehrern praktiziere und für einige buddhistische Traditionen und Praktiken großen Respekt und Zuneigung empfinde). Ich bin vielmehr ein Schüler, der sich mit eifrigem Interesse der buddhistischen Meditation widmet, und zwar weniger, weil ich per se ein Anhänger des Buddhismus wäre, sondern weil ich seine grundlegenden Lehren und Praktiken als so tiefgründig, universell anwendbar, erhellend und heilsam erfahren habe.* Das fand ich während der vergangenen fünfzig Jahre beständiger Praxis nicht nur in meinem eigenen Leben bestätigt, sondern auch bei vielen anderen Menschen, mit denen ich im Center for Mindfulness und dem globalen Netzwerk von MBSR-Lehrern zusammenarbeiten und praktizieren durfte. Und immer wieder bin ich zutiefst von Menschen berührt und inspiriert – Lehrern oder Nichtlehrern, Leuten aus dem Osten oder aus dem Westen –, die in ihrem eigenen Leben Weisheit und Mitgefühl verkörpern, beides zentrale Inhalte der buddhistischen Lehren und Praktiken.
Für mich ist die Praxis der Achtsamkeit im Grunde eine Liebesgeschichte, und zwar mit dem Grundlegendsten im Leben: mit dem, was ist, mit dem, was man „die Wahrheit“ nennen könnte (die für mich die Schönheit, das Unbekannte und das Mögliche einschließt), mit dem, wie die Dinge wirklich sind. Und das alles eingebettet ins Hier, in diesen Augenblick (denn es ist alles bereits da), und gleichzeitig ins Überall. Denn hier kann tatsächlich überall sein. Achtsamkeit ist zudem immer jetzt, denn wie wir bereits festgestellt haben und immer wieder feststellen werden: Nur diese eine Zeit, das Jetzt, gehört uns.
Hier und jetzt, überall und immer, das gibt uns viel Raum zur Zusammenarbeit, zumindest wenn Sie interessiert und bereit sind, die Ärmel hochzukrempeln und die Arbeit des Zeitlosen zu tun, die Arbeit des „Nichttuns“, die Arbeit des Gewahrseins, das Ihrem eigenen Leben innewohnt, so wie es sich von Moment zu Moment entfaltet. Es ist in der Tat sowohl eine zeitlose Arbeit als auch die Arbeit eines ganzen Lebens.
Keine Kultur und keine Kunstform hat ein Monopol auf die Wahrheit oder die Schönheit, auch wenn sie noch so große Worte dafür findet. Doch finde ich es sinnvoll und aufschlussreich, bei der besonderen Erkundung, die wir auf diesen Seiten und in