Das Phönix-Prinzip. Patrick Freudiger

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Das Phönix-Prinzip - Patrick Freudiger


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»Was ist denn mit dem Chef los, wir bekommen überhaupt keine neuen Entscheidungen mehr mitgeteilt«, »Seit Monaten suchen wir schon jemand Neuen für die Abteilung; warum wird die Stelle nicht besetzt?«. Der Flurfunk läuft auf Hochfrequenz, die Gerüchteküche kocht und viele sehen Jürg mittlerweile ganz oben auf der Abschussliste. »Vielleicht ist das unsere Gelegenheit, Jürg endlich loszuwerden«, freut sich der ein oder andere im Team, der Jürg nie leiden konnte. Denn nicht wenige halten ihn für einen Vorgesetzten mit völlig veralteten Führungsprinzipien.

      Die Personalabteilung bietet den Mitarbeitenden die Möglichkeit zu einem 360°-Feedback – die perfekte Gelegenheit, um Jürg endlich die Meinung zu seinem Führungsstil zu sagen. Als Jürg die Ergebnisse sieht, ist er wütend, sauer, schockiert: »Ich habe doch immer alles getan, um den Laden und das Team am Laufen zu halten und so wird es mir gedankt. Im Gegensatz zu den anderen bin ich doch ein guter Chef« – die Gedanken jagen durch seinen Kopf. Die Beurteilung setzt ihn gegenüber seinem Vorgesetzten noch mehr unter Druck.

      Jürg vereinbart einen Termin mit seinen engsten Vertrauten, um nach Anzeichen zu suchen, dass er wirklich auf der »Abschussliste« steht. Doch es gibt keine eindeutigen Zeichen dafür. Auch Manfred bekommt für sein Wirken keine guten Noten. Sein herrisches Auftreten und sein großes Ego kommen bei seinen Geschäftsleitungskollegen offenbar nicht gut an. Für Jürg fühlt sich das wie Balsam auf seiner Seele an, wie ein Lichtblick, der hoffen lässt, dass Manfred vielleicht bald nicht mehr bei der Phönix Versicherung arbeiten wird und sich dann alles wieder zum Guten wenden wird – so, wie es eben früher war.

      Tagein, tagaus schuftet Jürg immer noch wie besessen. Er will unbedingt seinen Status im Unternehmen wieder festigen. Überstunde reiht sich an Überstunde. Nachts kann er nicht mehr richtig schlafen, geistert durchs Haus und zermartert sich den Kopf. »Was soll ich denn noch alles tun?« – eine Frage, die ihn stets begleitet. Er versucht, sich selbst kritisch zu reflektieren. Natürlich weiß er, dass sein militärisch geprägter Führungsstil nicht immer gut bei den jungen, gut ausgebildeten Mitarbeitenden ankommt, und es ist ihm bewusst, dass er sich mit den neuen digitalen Hilfsmitteln schwertut. Ja, er hat Mühe mit den neuen Arbeitswelten und -formen. Er hält nichts von agilen Strukturen und unternehmerisch denkenden Mitarbeitenden.

      »Jetzt erst recht«, denkt sich Jürg. Er ist nicht bereit aufzugeben. So schlägt er sich im Büro die Nächte um die Ohren, um das Blatt zu seinen Gunsten zu wenden. Er lebt nur noch von Kaffee und Energiedrinks, stopft zwischendurch hastig Fastfood in sich rein und für Sport nimmt er sich keine Zeit mehr. Jürg merkt, dass er seinem Körper damit nichts Gutes tut. Dennoch versucht er mit aller Macht, in Sitzungen den Ton anzugeben und inhaltlich eine »Duftmarke« zu setzen.

      Seit einigen Wochen quälen ihn zudem Rücken- und Knieschmerzen. Einen Bandscheibenvorfall kuriert er nur mit Schmerzmitteln rudimentär aus und zwingt sich zurück an den Arbeitsplatz. Das Aufstehen am Morgen fällt ihm zunehmend schwerer. Das Gleichgewicht zwischen Arbeit und Erholung ist vollständig aus dem Lot geraten.

      Die hohe Arbeitsbelastung setzt Jürg zu, so dass er sich ausgebrannt und leer fühlt. Er ist körperlich, geistig und gefühlsmäßig am Ende. Jürg kann sich nicht daran erinnern, jemals mit so wenig Lust ins Büro gefahren zu sein. Sobald er sein Auto geparkt hat, zögert er den Moment des Aussteigens immer weiter hinaus, überlegt sogar, einfach wieder nach Hause zu fahren. Doch sein Pflichtbewusstsein und der Gedanke, dass es ab heute wieder bergauf gehen könnte, lassen das nicht zu. In längeren Meetings hat er Mühe sich zu konzentrieren. Er reagiert gereizt auf Kontroversen und Konflikte im Team. Verdauungsstörungen, Kopfschmerzen und Muskelverspannungen sind zu seinen täglichen Begleitern geworden – mehr und mehr schließt sich die Falle, in der er sitzt.

      Jürg leistet keinen Widerstand, er kann nicht mehr gegen seinen Körper und Geist ankämpfen.

      Überraschend schnell bekommt er einen Termin für seinen Kuraufenthalt. Nach nur zwei Wochen, in denen er sich zuhause vor Scham und mit dem Gefühl des Versagens kaum aus dem Haus getraut hat, kommt die Zusage. Tatenlos sieht er zu, wie Susanne ihm den Koffer mit Freizeitkleidung, seinem Necessaire und ein paar Büchern packt.

      Drei Stunden später steht Jürg in der Empfangshalle der auf die Behandlung von Erschöpfungsdepression spezialisierten Klinik Bergheim.

      In der Phönix Versicherung zeigt man größtes Verständnis für die Situation von Jürg. Er soll sich ausruhen, wieder zu Kräften kommen, sich die Zeit nehmen, die er braucht. Manfred meldet sich persönlich bei ihm. »Schau, das ist doch, als ob du in einem Sabbatical wärst. Nimm dir acht Wochen Zeit. Und mach dir keine Sorgen, wir kommen ohne dich klar. Wir haben einen guten Stellvertreter für dich gefunden.« War er nicht unentbehrlich? Und jetzt: einfach abgeschoben. Ist das nur der Anfang vom Ende?

      Zwei Monate »Zwangsurlaub« – so ist es jetzt wohl. Jürg denkt an Kolleginnen und Kollegen, die ein ähnliches Schicksal getroffen hatte. Peter kommt ihm spontan in den Sinn, ein Arbeitskollege auf gleicher Hierarchiestufe. Er besuchte ihn vor Kurzem noch auf einen Kaffee. »Mach dir wegen Manfred keine Sorgen, Jürg. Ein Burn-out ist für ihn ein Zeichen, dass man vorher mit aller Energie für die Firma gebrannt hat. Es ist sozusagen ein Ritterschlag für Leistungsträger, den du da gerade erhalten hast. Es demonstriert deine Bereitschaft, vollen Einsatz für das Unternehmen zu leisten, und dass du gewillt bist, über deine eigenen Grenzen hinauszugehen.« Sein persönlicher Betreuer aus der HR-Abteilung sieht das allerdings anders: Er weist Jürg darauf hin,


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