Fühl´ Dich umarmt!. Werner Tiki Küstenmacher
Читать онлайн книгу.mit ihm diskutieren wollte. Der Lehrer sagte nur ein einziges Wort: Stille! Und sein Schüler war still. Er ging nach Hause und blieb still. Er sprach überhaupt nicht mehr. Jahrelang. Aber irgendwann fing sein Schweigen an, laut zu sprechen und hell zu strahlen. Sein stilles Denken wurde zur Inspiration. Sein stilles Lächeln wurde zur Wohltat. Sein stiller Blick heilte Wunden. Sein stilles Leben lud andere ein, sich eine Weile im Schweigen auszuruhen und das Reich der Stille zu genießen. Seine unerschöpfliche Stille war ein fürstliches Geschenk für alle, die in dieser lauten Welt nicht alleine zur Stille gefunden hatten. Deswegen wurde er von den Leuten dankbar und respektvoll der König der Stille genannt.
Wer diese Art von Stille versteht und schätzt, hat einen guten Grund, das Leben zu lieben.
MK
13 | DAS LEBEN IST LIEBENSWERT, weil wir jeden Morgen bei Null anfangen können |
Die bedeutendste Erfindung in der Geschichte der Mathematik ist die Zahl Null. Ein Zeichen für das Nichts. Was uns heute selbstverständlich vorkommt, hat in der Menschheitsgeschichte eine sehr langwierige Entwicklung benötigt.
Am wichtigsten war dabei, die Null zu begreifen als erste Zahl einer Reihe: Null, 1, 2, 3, 4 und so weiter. Das ist die positive Null, der Startpunkt am Anfang der fortlaufenden Zeit. Es ist, so hat es der Philosoph Joseph Needleman gesagt, die amerikanische Null. „Bei Null anfangen, mit Nichts beginnen. Das ist die Idee Amerikas. Wir beginnen nur mit unserem eigenen Verstand, unserer eigenen Sehnsucht, unserer eigenen Suche.“
Ich denke, dass es so eine „amerikanische Null“ nur geben kann, weil im menschlichen Denken diese Art von Null enthalten ist. Wir können das Nichts als Verlust sehen, als Leere und Öde. Aber wir tragen in uns auch den Keim der „amerikanischen Null“, die stille Freude über das leere Blatt, das Gespür für die Kraft, die in einer unbesiedelten Weite steckt. Die „amerikanische Null“ ist eine Null voller Hoffnung und Zuversicht. Und ein guter Anfang, weil er das Eigene in uns fördert.
WTK
14 | DAS LEBEN IST LIEBENSWERT, weil wir uns selbst Fragen stellen können |
Es gibt ein Dilemma, das als questio crocodilina bekannt ist, die Frage des Krokodils. Die düstere Geschichte geht so: Ein Krokodil raubt einer Mutter das Kind. Die Mutter fleht es an, ihr das Kind wiederzugeben. Das Krokodil ist einverstanden, allerdings nur unter einer Bedingung: Es will der Mutter eine Frage stellen, auf die sie eine wahre Antwort geben muss. Damit sitzt die Mutter aber in der Krokodilfalle. Denn die Fangfrage lautet: „Werde ich dir das Kind zurückgeben?“ Wenn sie mit „Ja“ antwortet, kann das Krokodil das für nicht wahr erklären. Antwortet die Mutter mit „Nein“, kann das Krokodil auch das als nicht wahr bestimmen. So oder so ist das Kind verloren. Und die Moral von der Geschichte? Es lohnt sich nicht, Krokodilen zu antworten. Im Gegenteil, von fragenden Krokodilen sollte man sich möglichst fern halten.
Hans Blumenberg war ein Philosoph mit einem Faible für abstruse Geschichten, über die er tiefsinnig reflektieren konnte. In einer davon kommt auch ein Krokodil vor: Der bekannte Archäologe Max Mallowan leitete zwischen den Weltkriegen eine Ausgrabung in Mesopotamien. In seinem Team war ein junger Ire namens Gallagher, der folgende Geschichte erzählte: Ein Onkel von ihm wurde in Burma von einem Krokodil angegriffen. Das Krokodil wurde erlegt, aber für den Onkel war es zu spät, das Tier hatte ihn schon verspeist. Der Neffe beschloss daraufhin, das Krokodil ausstopfen zu lassen und es nach Hause zur Tante, jetzt Witwe, zu schicken.
Nun legt Blumenberg mit seinen Fragen los: War diese Zusendung pietätvoll oder eher brutal? Hatte das Krokodil noch Zeit gehabt, um den Onkel zu verdauen? Wenn es damit schon fertig war, sich also gar keine Onkelreste mehr in ihm befanden, hätte man es dann überhaupt noch erschießen dürfen? Für Blumenberg stellte sich also die Frage nach der Identität des Richtung Heimat beförderten Wesens. Hatte der Neffe nun den Onkel oder ein Krokodil nach Hause geschickt? Hatte die trauernde Witwe den Mörder oder das Opfer im Haus empfangen? Statt sich vorschnell mit der Geschichte zufrieden zu geben, blieb der Philosoph lieber bei seiner Kunst, immer weiter nachzufragen. So kamen neue Möglichkeiten ins Spiel, über uns selbst und die Welt nachzudenken. Sich selbst Fragen zu stellen, die über Krokodile hinausführen, lohnt sich also sehr wohl.
MK
15 | DAS LEBEN IST LIEBENSWERT, weil wir „Wow!“ sagen können |
Wenn ich den nächtlichen Sternenhimmel anschaue, hat das eine äußerst beruhigende Wirkung auf mich. Das Universum strahlt Stille aus und eine majestätische Ruhe.
Betrachtet man einen einzelnen Stern mit einem halbwegs guten Fernrohr, stellt sich das schon anders dar: Innerhalb weniger Sekunden hat sich der Stern im Blickfeld bewegt, und schnell ist er ganz aus dem Ausschnitt verschwunden, so dass man das Fernrohr korrigieren muss.
Die Erde dreht sich, mit über 1 600 Stundenkilometern. Gleichzeitig fliegt sie mit 100 000 Stundenkilometern um die Sonne. Die ganze Schöpfung, die so ruhig um uns herum erscheint, befindet sich in atemberaubender Bewegung. Die Sterne, die wir ruhig am Himmel stehen sehen, fliegen in Wahrheit mit enormem Tempo durch das Nichts des Weltalls.
Selbst wenn wir eine idyllische Naturszene betrachten, rasen dabei die Lichtwellen mit 300 000 Kilometern pro Sekunden auf die Netzhaut unserer Augen. Mit der gleichen Geschwindigkeit schwingen die Atome, unaufhörlich.
Die Schöpfung ist ein gigantisches Lebewesen. Wir sind ein Teil davon und erhalten unsere Energie aus dem großen kosmischen Tanz. Wie alle anderen tanzen wir ihn mit, aber als Einzige können wir dabei rufen: „Wow! Danke!“
WTK
16 | DAS LEBEN IST LIEBENSWERT, weil die einfachen Dinge die schönsten sind |
Im Amerika des 19. Jahrhunderts lagen über die Bundesstaaten Kentucky und Maine verstreut 19 Shaker-Dörfer, deren rund 1 000 Bewohner einer Lebensphilosophie folgten, die gleichermaßen von Pragmatismus und Frömmigkeit geprägt war. Die religiöse Gemeinschaft der Shaker glaubte, dass man die vollkommene Schönheit des Himmels durch ein einfaches und reines Leben auf die Erde holen könne. In ihrer Arbeit und in ihrem Alltag spielte das Gebot der Schlichtheit eine wichtige Rolle. Schlicht sollten die Gebrauchsgegenstände sein – aber nicht hässlich. „Stelle nichts Unnötiges und Unnützes her; das Notwendige und Nützliche aber mache auch schön.“ So lautete die ästhetische Faustregel der Shaker. Unter dieser Prämisse erfanden sie die hölzerne Wäscheklammer, den Drehstuhl, die Kreissäge oder die Samentütchen. Ihre Möbel waren zeitlos schöne Stühle, Tische und Bänke, die wie alle anderen nützlichen Dinge auch von Hand mit höchster Sorgfalt hergestellt wurden.
Der Shaker-Stil verzichtet auf jedes unnötige Detail. Die Formen von Möbeln, Schachteln oder Besen werden von ihrem künftigen Zweck her entwickelt. Dieser Pragmatismus verleiht den fertigen Dingen eine große Ausstrahlungskraft. Ein Shaker-Stuhl ist so ganz und gar ein Stuhl, dass man beim Betrachten das Gefühl haben kann, noch nie einen schöneren Stuhl gesehen zu haben. Schönheit und Schlichtheit sind eins geworden, ein Grund, sich von Herzen zu freuen, wie es in einem alten Shaker-Lied heißt: „Ein Leben in Schlichtheit zu führen ist eine Gabe, frei zu sein ist eine Gabe, am richtigen Platz zu sein ist eine Gabe, und wenn wir uns am richtigen Platz befinden, werden wir Liebe und