Im Westen geht die Sonne unter. Hansjörg Anderegg

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Im Westen geht die Sonne unter - Hansjörg Anderegg


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wolle.

      Er wartete bis zum letzten Augenblick, um die Spannung zu erhalten und die Wetten in die Höhe zu treiben. Schlag halb zwölf begann er unter dem Gejohle seiner Freunde und den kritischen Blicken der Frauen, sich mitten im Pub bis auf die Unterwäsche auszuziehen. Dann schlüpfte er in den Neoprenanzug, nahm sein Surfbrett unter den Arm und stapfte ohne ein weiteres Wort entschlossen in den Regen hinaus. Die Freunde bemerkten sein hämisches Grinsen nicht. Wenn sie etwas sehen wollten, mussten auch sie in diese Waschküche hinaus, und sie trugen keinen schützenden Anzug. Während er zum Fluss hinunter stieg, hielt er nach andern Wagemutigen Ausschau, doch er konnte niemanden entdecken. Keine Spur der Sonntagssurfer auf ihren schwimmenden Sofas, die sonst hier manchmal ihr Glück versuchten. Die perfekte Bühne, um seiner Flamme zu imponieren. Er wusste, dass er sich albern benahm, denn das Unternehmen war unter diesen Bedingungen nicht ganz ungefährlich. Dennoch freute er sich auf den besonderen Kick des Naturschauspiels. Er wähle einen gut sichtbaren Einstieg unterhalb des Pubs, watete in den Fluss, soweit es die Strömung zuließ und wartete.

      Das Rauschen hinter der Flussbiegung kündete die Welle an, bevor er sie sah. Dann tauchte die zwei Meter hohe Wasserwand so plötzlich hinter ihm auf, als stürzte sich der erzürnte Fluss vor Wut schäumend und brüllend auf den verwegenen Surfer. Er fand kaum Zeit, das Brett auszurichten und aufzuspringen, da riss ihn das Monstrum schon mit Urgewalt mit sich den Fluss hinauf. Nicht die Höhe der Welle war heikel bei diesem Unterfangen. Die Geschwindigkeit, mit der sie über die heimtückischen Untiefen sauste, konnte ein Problem werden. Aber Ryan war ein geübter Surfer. Er fand das Gleichgewicht schnell, und im Handumdrehen ritt er mit sicherem Stand hart am Wellenkamm an seinen Freunden vorbei. Er war in seinem Element, vergaß die Kälte, die seine Finger steif werden ließ und selbst durch die Poren des Neoprens herein kroch, nahm sich sogar Zeit für einen richtig coolen Handkuss ans Ufer, als wäre sein Kunststück nichts weiter als ein Sonntagsspaziergang. Er steuerte auf der Welle in die Mitte des Flusses, dann langsam wieder zurück in die Nähe des Ufers, wo seine Freunde ihm nachrannten. Er wagte einen Blick zurück, freute sich über ihre vergeblichen Versuche, ihm im strömenden Regen zu folgen. Die Welle war um einiges schneller.

      Einen Augenblick zu spät schaute er wieder nach vorn. Er sah den dicken Ast auf sich zutreiben, aber es blieb keine Zeit, um auszuweichen. Sein Board prallte auf das schwere Hindernis, hob sich vorn, dann glitt es unter seinen Füssen nach hinten. Er verlor das Gleichgewicht und tauchte mit einem unterdrückten Fluch auf der Rückseite der Welle ab, knapp am verhängnisvollen Ast vorbei. Der Sturz ereignete sich glücklicherweise nahe beim Ufer. So brauchte er sich nur kurz treiben zu lassen, bis er an einer flachen Stelle auf einer Grasnarbe liegenblieb. Er hörte die aufgeregten Rufe der Freunde. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Jessie allen voran mit wehendem Kopftuch herbei rannte. Ein guter Grund mehr, einfach liegen zu bleiben.

      »Ryan? Mein Gott, sag etwas!«, rief sie von weitem.

      Er rührte sich nicht, schloss die Augen.

      Sie kniete sich schwer atmend neben ihn, tippte ihm behutsam auf die Schulter und sagte ängstlich: »Ryan, was ist los? Rede mit mir.

      Ein paar Atemzüge regte er sich nicht. Erst als die andern auch um ihn herum standen, schlug er bedächtig die Augen auf, schaute Jessie mit seligem Lächeln an und flüsterte: »Bin ich im Himmel?«

      Sie sprang auf wie von der Tarantel gestochen. »Idiot«, rief sie und wandte sich schmollend ab.

      »Die Landung ist eben immer das Schwierigste«, meinte einer der Umstehenden, während er ihm auf die Beine half. Der schwierige Fred war bekannt für seine zweideutigen Bemerkungen. Statt zu antworten suchte Ryan sein Surfbrett. Es hatte sich im Uferdickicht ein Stück weiter unten verfangen, dort wo Jessie unter einer Weide auf sie wartete. Er fischte das Board aus dem Wasser, dann setzte er seine Büßermiene auf und trat auf sie zu.

      »Tut mir leid, Jessie. Ich wollte dich nicht erschrecken.«

      Sie zuckte die Achseln und sagte nichts, aber immerhin sah sie ihm trotzig ins Gesicht. Dieser Blick genügte, um die Neuronen in seinem Gehirn so durchzuschütteln, dass er sich dazu hinreißen ließ, sie zu fragen: »Du hast dir also echt Sorgen um mich gemacht?« Dazu grinste er albern.

      Die Reaktion kam prompt und unerwartet. Sie verpasste ihm eine saftige Ohrfeige. Und wieder der trotzige Blick. Ryan dankte dem Himmel, dass in diesem Moment ihr Telefon klingelte. Dadurch erübrigte sich seine mühsame Suche nach einer passenden Antwort. Sie klaubte das Handy aus der Jackentasche und blieb mit dem Telefon am Ohr unter dem Baum stehen. Ryan folgte seinen frierenden Freunden ins Gasthaus zurück.

      Er hatte sich umgezogen, steckte als Einziger in trockenen Kleidern und wärmte sich am heißen Kaffee. Mit halbem Ohr hörte er Fred zu, der den Husarenritt lautstark kommentierte, als wäre er seine eigene Heldentat. Ausgerechnet Fred, den kein Mensch je im Wasser gesehen hatte. Wo blieb Jessie? Es schien niemandem aufzufallen, dass sie schon ungebührlich lange in der Kälte draußen telefonierte.

      »Ich seh mal nach«, sagte er plötzlich, ohne dass es jemand hörte. Er stand auf und ging zur Tür. Kaum hatte er sie aufgestoßen, stürzte sie auf ihn zu, schlüpfte in den Flur hinein und schüttelte sich wie ein nasser Hund. »Ich – wollte nachsehen, wo du steckst«, stammelte er. Als er ihr kreideweißes Gesicht sah, erschrak er. »Was hast du? Was ist passiert?«

      »Ma hat angerufen. Ihr Bruder – Onkel George in Kalifornien.« Sie stockte, schaute ihn ratlos an, dann sagte sie mit belegter Stimme: »Onkel George ist gestorben. Ein Unglück im Bergwerk – eine Explosion. Ma ist völlig durcheinander. Ich muss nach Weymouth zurück.«

      »Ich fahr dich«, antwortete er sofort. Nicht nur ihre Mutter war durcheinander, dachte er. George war tot. George, der Rebell, den er als Junge ab und zu gesehen, aber nicht wirklich gekannt hatte. Sie verabschiedeten sich kurz von der zunehmend fröhlicheren Runde und gingen zum Wagen.

      »Lieb von dir«, sagte sie, nachdem sie eine Weile dem einschläfernden Quietschen des Scheibenwischers zugehört hatten.

      »Nicht der Rede wert.« Es bereitete ihm keine Mühe, an seiner Wohnung in Bristol vorbeizufahren. Im Gegenteil, die zwei zusätzlichen Stunden hinunter an die Küste waren viel zu kurz. Am liebsten wäre er den ganzen Tag mit ihr durch den Regen gegondelt. »Dieser George, kanntest du ihn gut?«, fragte er, um von den tragischen Umständen seines Todes abzulenken.

      »Geht so. Er war viel unterwegs, und niemand wusste so recht, was er trieb, bis er auswanderte. Das schwarze Schaf der Familie.«

      »Verstehe. Nicht gerade der Sohn, den sich ein Vater wünscht, oder so ähnlich.«

      Sie schmunzelte. »Ja, davon kannst du ja auch ein Lied singen, glaube ich. Aber Ma stand ihrem jüngeren Bruder sehr nahe. Sie war wohl eine Art zweite Mutter für ihn. Hat ihn trotzdem nicht lange in Weymouth gehalten.«

      »Im Gegensatz zu dir«, lachte er. »Ich fürchte, du schlägst dort Wurzeln.«

      »Was dagegen?«, gab sie gereizt zurück.

      »Nein, natürlich nicht. Es ist eine schöne Gegend, nur fehlt die passende Uni.«

      »Die braucht zum Glück nicht jeder.«

      Er warf ihr einen betroffenen Blick zu. »He, tut mir leid, ich wollte …«

      »Schon gut. Ich muss mich entschuldigen. Die Nachricht hat mich wohl doch etwas aus der Bahn geworfen. Schade um deine schöne Vorstellung. Die war wirklich Spitze.«

      Er grinste zufrieden. »Hätte besser sein können, aber wenn du es sagst.« Sie hatte ihn unaufgefordert gelobt, und ihrem Gesicht nach zu urteilen, meinte sie es ehrlich. Was wollte er mehr? Ach ja, fast hätte er es vergessen: Punkt zwei. Den würde er heute wohl nicht mehr abhaken.

      Macao, Volksrepublik China

      Der Airbus der ›Air Macau‹ mit dem eidottergelben Rumpf setzte zur Landung an. Danny Chen saß zusammengesunken in seinem unbequemen Sessel dösend am Fenster. Der Anflug auf die scheinbar im Meer schwimmende Piste vor der Insel Taipa mit der Skyline der glitzernden Kasinowelt am Horizont beeindruckte ihn nicht mehr. Der kurze Flug von Taipeh nach Macao war für ihn längst zur Routine


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