Lichte Horizonte. Daniela Engist
Читать онлайн книгу.Anne begegnet Stéphane. Sie sind beide nicht frei, haben sich eingerichtet in ihren Leben. Aus ein paar Blicken und einem ersten Gespräch entwickelt sich ein Mailwechsel über Kreativität und Begehren, der zunehmend ins Erotische kippt. Und immer lauter wird die Frage, ob man etwas tatsächlich leben muss, damit es wahr wird.
Daniela Engist, 1971 bei Schwäbisch Gmünd geboren, lebt mit ihrer Familie in Freiburg. Studierte Germanistik, Anglistik und Musikwissenschaft, behauptete in ihrer linguistischen Doktorarbeit, dass der Dialekt nicht aussterbe – unter gewissen Umständen.
Freie Journalistin, PR-Managerin, »Managerseelenstreichlerin«. Nach dreizehn Jahren bei multinationalen Konzernen in der Schweiz tauschte sie Brot gegen Kunst und widmet sich seitdem dem Schreiben. Kleins Große Sache hieß 2017 ihr erfolgreicher, sehr gelobter Debütroman.
Daniela Engist
Lichte Horizonte
Roman
1. Auflage
in der Edition Klöpfer
Stuttgart, Kröner 2021
ISBN DRUCK: 978-3-520-75001-3
ISBN EBOOK: 978-3-520-75091-4
Umschlaggestaltung Denis Krnjaić
unter Verwendung von Alex Colville ©, Couple on Beach, 1957 casein tempera on masonite, 73.4 x 96.4 cm, purchased 195 National Gallery of Canada, Ottawa, Photo: NGC
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
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Mir träumt’, du hättest mich ins Bett gezaubert, Mich in den Mond gesungen, in den Wahn geküsst. (Ich glaub, ich hab dich nur in meinem Kopf gemacht.)
SYLVIA PLATH, Mad Girl’s Love Song
Anlaufen
1
Alles ist voller Franzosen.
Ich gehe durch die Innenstadt am Samstagvormittag, normalerweise gehört sie da den Fremden, und die Einheimischen halten sich fern. Über den Rhein kommen sie, aus der nahegelegenen Schweiz und aus Frankreich, aber so viele Franzosen wie heute habe ich noch nie gesehen. Unsere Stadt ist nicht besonders groß, die Innenstadt schon gar nicht. Ich lebe hier schon lange, mein ganzes Erwachsenenleben lang. Ich bin herumgekommen in unserer Stadt, viermal bin ich umgezogen, jedes Mal in eine bessere Gegend. Wir leben hier in einer Grenzregion ohne sichtbare Grenzen, wir kennen das Gefühl der Freiheit. Ich kenne niemanden, der von hier weg will.
Seit Tagen haben wir Hochdruck ohne Wind. Inversionswetterlage. In den langen Winternächten hat sich unten kalte und feuchte Luft angesammelt, und die Sonne schafft es nicht mehr, die Luftmassen zu durchmischen. Wie ein Deckel liegt die wärmere Luft auf der Stadt und erstickt sie unter tiefhängenden Wolken.
Ich bin auf dem Weg zum letzten Musikgeschäft unserer Stadt, weil ich nun doch etwas von ihm haben will, obwohl ich gar nicht sicher bin, ob ich auch hören will, wovon er singt. Alle guten Künstler sind Lügner. Die anderen auch, aber aus anderen Gründen.
Ich nehme das neue und das vorherige Album, das Alexander haben wollte. Ausgerechnet. Er hört sonst nie Musik, aber ich glaube, Stéphanes Auftritt auf dem Festival hat ihm gefallen, zumal er die Texte viel besser verstanden hat als ich mit meinem Rest Schulfranzösisch. Vor allem das eine Chanson, in dem er erzählt, wie jemand aufsteht und geht und wortlos das ganze bisherige Leben zurücklässt, hat es ihm angetan. Er konnte gar nicht mehr aufhören, davon zu sprechen. Ich glaube, die Vorstellung fasziniert ihn, so wie einen ein furchtbares Verbrechen fasziniert, und man dann erleichtert flüstert: Zum Glück passiert mir das nicht. Ist doch nur ein Lied.
Dem Musikgeschäft gegenüber liegt unser neues Literaturhaus. Das wurde erst vor zwei Jahren eröffnet. Den Wunsch danach gab es schon lange, aber bis zur Umsetzung hat es gedauert. Man ging Umwege und Irrwege. Orte wurden vorgeschlagen und wieder verworfen. Früher war dort, wo es jetzt ins Literaturhaus hineingeht, die Aula der Alten Universität. Erstsemesterparty mit Thees. An Thees habe ich seit Ewigkeiten nicht mehr gedacht. Und an all die anderen auch nicht.
Seit Tagen kommen sie aus allen Ritzen gekrochen, steigen auf, wo immer sich die Gelegenheit bietet, und sammeln sich wie Nebeltröpfchen in meinem Bewusstsein. Manche haben keinen Namen, manche kein Gesicht, aber alle haben eine Geschichte. Ich habe sie nicht gerufen, etwas hat sie aufgeweckt, hervorgelockt, als ob sie auf ein Zeichen gewartet hätten.
Thees also. Thees war, was man wohl eine treue Seele nennt, ein Freund, ein Beschützer, der immer auf seine Chance gewartet hat und darauf, dass sich das ganze Treusein und Beschützen eines Tages auszahlen würde. Ich war kaum auf der Party angekommen, da stand er schon neben mir. Er plapperte und tanzte um mich herum und machte sich zum Affen. Später hat er versucht, Affenherzen in Schweine zu transplantieren, für seine Doktorarbeit. Die Übertragung eines funktionsfähigen Herzens von einer Spezies auf die andere. Was für eine Idee! Fast immer ging es schief, und wenn einmal ein Schwein mit seinem Affenherzen ein paar Monate überlebte, galt es als großer Erfolg. Heute ist man da vermutlich weiter. Ich glaube, er ist tatsächlich Herzchirurg geworden, so ein dicker Oberarzt irgendwo in Deutschland. Man konnte damals schon erahnen, dass er dick werden würde, aber das war es nicht, warum aus uns nie etwas geworden ist.
Wir gingen aus, mit anderen und ohne. Er kochte für mich in seiner Wohnung unterm Dach, die in einem der entfernteren Stadtteile im Süden lag. Mein möbliertes Zimmer lag mitten in der Altstadt, mit dem Fenster zum Hof der Alten Universität und drei Minuten Fußweg zum Englischen Seminar. Ich musste ziemlich weit radeln, um zu ihm zu kommen. Er hatte eine Flasche Wein und einen Wok, den er virtuos bediente. Er dozierte über die Kunst des Wok-Kochens und zwischendurch warf er Brocken aus seiner Biografie ein, erzählte von seiner Freundin zu Hause, dass sie nicht mit nach Freiburg gekommen sei. Ich ging im Zimmer umher und machte Bemerkungen über die Sportgeräte, die überall herumstanden und herumlagen, Hanteln und Tennisschläger und ein Snowboard, ein Lenkdrache, selbst das Mountainbike hatte es bis unters Dach geschafft. Ich spürte, wie sein Blick mich verfolgte, und fing an, von Friedrich zu erzählen, dass er auch so ein Supersportler sei und auch Medizin studieren wolle, aber erst noch Zivildienst machen müsse. Dass er nicht mit nach Freiburg gekommen war, erzählte ich an diesem Abend nicht.
Als fünf Jahre später die Beziehung mit Friedrich zerbrach, lieh Thees mir sein Auto, um zu Theresa über den Schwarzwald nach Tübingen zu fahren, damit ich heulen kann und auf die Männer schimpfen. Ich war eine ungeübte Autofahrerin und ängstlich, aber diese Fahrt musste ich machen. Auf dem Rückweg geriet ich bei Hinterzarten in eine Polizeikontrolle. Reine Routine, und doch fühlte ich mich ertappt. Es war nicht mein Wagen, und ich wusste nicht, wo die Fahrzeugpapiere zu finden waren. Mit rotem Kopf wühlte ich im Handschuhfach. Dann musste ich aussteigen und hinter den beiden Polizisten in ihren VW-Bus klettern. Der Jüngere setzte sich mir gegenüber und blickte mich erwartungsvoll an, ohne zu lächeln. Ich entschloss mich zur Flucht nach vorn und gestand. Ich gestand, dass es das Auto eines Freundes war, und der junge Polizist glaubte meine Geschichte, aber seine Augen schienen zu sagen: Du lügst doch! Es ist verlogen, einfach sein Auto zu nehmen und Thees in der Hoffnung zurückzulassen, dass nun alles gut werden würde.
Die letzte Erinnerung, die ich an Thees habe, ist eine Nacht in meinem Zimmer am Seepark, wohin ich inzwischen umgezogen war. Er war damals schon aus der Stadt weggezogen, Praktisches Jahr irgendwo in der Schweiz. Wir saßen lange auf den warmen Bodenplatten vor der Terrassentür und schauten über das kurze Rasenstück,