Lichte Horizonte. Daniela Engist
Читать онлайн книгу.einem Rutsch durchgehört. Jetzt kann ich ihn schon nicht mehr so gut leiden. Zum Glück. Und doch spüre ich Panik aufsteigen, dass alles so unversehens endet, wie es angefangen hat, und ich dann wieder dem ewig gleichen Alltag ausgeliefert sein werde, der mich so unendlich müde macht.
Stéphane schreibt: Ich habe dein Buch gelesen. Aber ich habe dich nicht darin gefunden.
Ich schreibe: Warst es nicht du, der sagte, die Wirklichkeit hat in einer Geschichte nichts zu suchen?
Stéphane schreibt: Wahrheit und Wirklichkeit sind keine Synonyme. Du willst dich also nicht fangen lassen?
Ich schreibe: Was würdest du tun, wenn du mich fingest?
Stéphane schreibt: Wenn ich dich fangen würde, müsste ich dich wohl festhalten, damit du mir nicht wieder entkommst. Und dann würde ich versuchen, dich zu küssen. Et puis …?
Ich muss Theresa anrufen. Ich suche nach dem Telefon, verräume die Wäsche im Kinderzimmer, setze mich aufs Bett meines Sohnes und drücke die Kurzwahltaste. Wir sehen uns selten, meistens bleibt es bei Absichtsbeteuerungen, weil wieder was dazwischengekommen ist, krankes Kind, kranker Mann, Arbeit, Urlaub. Aber schlimm ist das nicht. Wir können, ohne uns zu treffen oder ständig zu telefonieren, jederzeit dort anknüpfen, wo wir immer waren. Anders als ich, ist sie nach dem Studium von einer Stadt in die nächste gezogen und schließlich in Offenburg gelandet. Als sie hört, wie meine Stimme am Telefon klingt, sagt sie nur: Komm! Komm sofort! Also fahre ich am Freitag zu Theresa und werde ihr erzählen und die Ohren vollheulen.
Wir kennen uns seit über dreißig Jahren. In der achten Klasse waren wir in denselben Jungen verschossen. Er war süß und ein völliger Idiot. Am Ende ist er mit einer Dritten davongezogen. Danach begann, was wir für unsere wilden Jahre hielten. Mit roten Ohren umpflügten wir das Schulhaus in der großen Pause und drehten die Köpfe nach den Oberstuflern. Friedrich wollte ich unbedingt. Ich war nicht besonders verliebt, aber ich wollte ihn unbedingt. Es war auf der Studienfahrt nach Rom, und wir waren siebzehn, bald achtzehn. Wir fuhren zusammen mit der Parallelklasse aus dem altsprachlichen Zug. Es waren nur etwa zehn Schülerinnen und Schüler, lauter Bildungsbürgerkinder, darunter Friedrich und Marcus. Und am Ende der Woche knutschte Theresa mit Marcus und ich mit Friedrich.
Wie konnte man nur siebzehn sein und Friedrich heißen? In den Achtzigerjahren. Er kam aus einer anderen Welt. Sein Vater stammte aus einer Frankfurter Professorenfamilie, war Mediziner und wohnte als Privatdozent drei Tage die Woche getrennt von seiner Familie in Stuttgart. Seine Mutter war Malerin. Das Haus in bester Hanglage der kleinen Stadt, in der wir zur Schule gingen, war voller Kunst und Bücher, und der Bechstein-Flügel im Wohnzimmer war kein Ausstellungsstück, sondern das Trainingsgerät des musikalisch hochbegabten älteren Bruders. Friedrich hatte Geigenunterricht, Leichtathletiktraining, Tennisstunden und war Ministrant im Münster.
Besonders quälte mich die Vorstellung vom Leichtathletiktraining, wo er zweimal in der Woche auf das Mädchen traf, von dem er sich nach der Studienfahrt getrennt hatte. Ganze zehn Tage hatte er dafür gebraucht. In der ersten Zeit sahen wir uns außerhalb der Schule praktisch nie. Direkt nach dem Unterricht wurde er mit seinem Bruder von der Mutter im Auto abgeholt. Und ich schlug mich mit der Frage herum, warum er vor ihr verheimlichte, dass er eine neue Freundin hatte.
Friedrich war riesig, und es genügte nicht, mich auf die Zehenspitzen zu stellen, wenn ich ihn küssen wollte. Im Grunde küsste immer nur er mich, von oben herab. In der großen Pause gingen wir Hand in Hand zu einer der Bänke im hinteren Bereich des Schulareals. Auf seinem Schoß sitzend war ich auf Augenhöhe mit ihm. Seine Küsse fand ich nie besonders aufregend, aber wenn niemand in der Nähe war, schob er seine Hand unter mein Oberteil und streichelte meine Brüste. Konzentriert, mit offenen Augen, die ins Unendliche blickten, liefen seine Finger ihre Form ab, von außen nach innen, immer und immer wieder.
Ich glaube, es dauerte ein halbes Jahr, bis ich zum ersten Mal bei Friedrich zu Hause war. Obwohl sie eine große Villa hatten, musste er sich das Zimmer mit seinem Bruder teilen, der jedes Recht hatte, hereinzuplatzen, wann immer es ihm einfiel. Zum Glück befand sich der Flügel zwei Halbgeschosse vom Zimmer der Brüder entfernt, sodass meist genügend Zeit blieb zwischen dem Verstummen der Musik und dem Öffnen der Tür.
Als wir den Führerschein hatten, fingen wir an, uns mit den Zweitwagen der Mütter regelmäßig zu besuchen. Das war im Herbst neunundachtzig, und in Berlin überschlugen sich die Ereignisse. Seit Jahrzehnten war im Westen klar, was im Fall des Mauerfalls zu denken und zu fühlen sei. Ohne kollektiven Freudentaumel in ganz Deutschland würde es nicht gehen, mit abnehmender Intensität von Nordosten nach Südwesten. Während sich in Berlin wildfremde Menschen um den Hals fielen, saßen Friedrich und ich am entgegengesetzten Ende des Landes unter einer Autobahnbrücke, das Autoradio aus, die Scheiben des Wagens beschlagen, seine Hand unter meinem Pulli, meine Hand in seiner Hose. Weiter weg vom Weltgeschehen konnte man nicht sein, und in meinem Kopf kreiste die Frage, was er wohl empfand und was ich wohl empfinden sollte.
Später begleitete ich ihn auf dem Bechstein, wenn er für die Vorspiele seines Musikleistungskurses übte. Der Bruder war inzwischen nach Freiburg gezogen, wo er Musik studierte. Er hatte das Instrument zurückgelassen, weil er in seinem Studentenzimmer nur für ein Klavier Platz hatte. Friedrichs Geigenspiel war technisch sauber, aber brutal, das Instrument erschien unterdimensioniert in seinen großen Händen. Vor jeder praktischen Prüfung mussten wir als Generalprobe seinem Vater vorspielen, den ich ansonsten selten zu Gesicht bekam und der sich in meiner Erinnerung fast nur aus von Friedrich erzählten Episoden zusammensetzt. Von dem jovialen, unterhaltsamen Mann, den mir sein Sohn beschrieb, bekam ich kaum eine Kostprobe. Ich sehe ihn nur mit hochrotem Gesicht und zusammengekniffenen Augenbrauen vor mir, wie die Speicheltropfen fliegen, und er mit heiserer Stimme schreit und schilt. Es galt nie mir, und doch fühlte ich mich schuldig, weil es mir nicht gelungen war, Friedrichs gefühlloses Spiel mit meiner Klavierbegleitung zu retten, obwohl ich alles gegeben hatte.
Ich werde also Theresa in Offenburg erzählen, wie sich unsere Blicke trafen, und ich werde ihr von den verpassten Momenten des Wochenendes erzählen. Da war dieses Festival für Literatur und Musik, werde ich sagen.
Schon am Freitagabend sah ich ihn im anderen Raum des Hotel-Restaurants sitzen. Ich hatte mich vorher über die Künstler, die mit mir auftreten würden, informiert, und mich gut gefühlt, weil ich mit ein paar bekannten Autoren das Podium teilen würde. Die Musiker sagten mir alle nichts, aber eine Internetabfrage später wusste ich dies und das. Das ist so ein Chanson-Sänger, der ist recht bekannt in Frankreich, sagte ich zu Alexander. Gut sieht der aus, dachte ich. Und neben ihm sitzt seine schöne junge Frau, dachte ich. Klar. Aber es war nur eine der Veranstalterinnen.
Nach dem Essen trafen sich Musiker und Autoren und Moderatoren in einem Nebenraum. Es gab nur einen Platz, auf den ich wirklich Lust gehabt hätte. Aber da saß schon der alte Kulturredakteur, der vor einiger Zeit eine meiner Lesungen moderiert hatte, und nahm den gutaussehenden Chansonnier in Beschlag. Höflich und geduldig sprach er mit dem Redakteur. Ich setzte mich zu irgendeinem Menschen, der mich nicht interessierte, und machte Konversation. Aber ab und zu fing ich einen Blick von meinem Sänger auf und wünschte mir, dass er sich wegwünschte vom Redakteur und hinwünschte auf die andere Seite des Tisches zu mir.
Ich muss Theresa auch erzählen, dass ich in manchen Momenten des Festival-Wochenendes meinen Mann und meine Kinder, die mich begleiteten, wegwünschte, und wie sehr ich mich dafür schämte, dass ich das tat.
Ich schreibe: Ich hätte schon am Freitagabend mit dir nach draußen gehen sollen. Aber ich rauche nicht. Und du hast mich nicht gefragt. Und zum Nachlaufen bin ich zu stolz. Und am Samstagmorgen hätte ich dich gerne geküsst. In einem anderen Leben. Aber so blieb’s im Ungefähren und Ungenauen, und jegliche körperliche Annäherung blieb innerhalb der Norm der französischen Umgangsformen. Wenigstens küsst man sich zum Abschied zweimal fast und hält nicht den anderen eine Armeslänge von sich weg.
Ich höre das Schloss in der Haustür, gleich darauf Trampeln und Geschrei im Treppenhaus. Der Große singt mit krächzender Stimme einen Spottgesang, begleitet vom immer schriller werdenden »Hör auf!« seines Bruders. Alexanders Stimme hallt ärgerlich im Gang. Die Tür zum Wohnzimmer wird aufgestoßen. Vor Empörung schluchzend läuft der Kleine