Lichte Horizonte. Daniela Engist
Читать онлайн книгу.die Augen, nehme ihn in den Arm und sage nichts. »Ausziehen!«, ruft Alexander noch von der Tür. Er trägt den Christbaum quer durchs Zimmer nach draußen auf die Terrasse und erklärt dabei wortreich, dass er den schönsten Baum ausgesucht hätte, und ich dieses Mal bestimmt nichts daran auszusetzen fände, und dass es gar nicht so einfach gewesen sei, weil alle Bäume eben immer irgendwelche Fehler hätten, man könne ihn ja so stellen, dass man den fehlenden Ast auf der einen Seite gar nicht sehe. Die Kinder sind inzwischen in ihren Zimmern verschwunden, und Alexander verschwindet in seinem Büro. Ich gehe den Staubsauger und einen Eimer holen. Im Flur liegen Mattis Stiefel, Jacke und Mütze auf dem Boden. Als ich heißes Wasser in den Eimer fülle, verbrenne ich mich am Hahn und fluche. Ich sauge die Tannennadelspur bis zur Terrassentür auf, wo Alexanders Schuhe stehen. Dann scheuche ich die Besuchskatze aus dem Haus, die immer sofort da ist, wenn die Tür aufgeschoben wird. So wie sie aussieht, hat sie ein Zuhause, aber wir wissen nicht, wem sie gehört. Schließlich wische ich Jonas’ Dreckspur weg. »Vielen Dank!«, murmle ich. »Vielen, vielen Dank!«
Ich habe Stéphane geschrieben, dass ich am Freitag zu meiner Freundin nach Offenburg fahre. Das ist nicht weit von der französischen Grenze. Aber er hat nicht darauf reagiert und nur belangloses Zeug zurückgeschrieben. Ist er einer von denen, die sich dreimal bitten lassen? Herein, herein! Du musst es dreimal sagen! Du musst es sagen, und wenn sich dann der Teufel deine Seele nimmt, dann war’s doch auch deine Schuld.
Stéphane schreibt: Nichts ist mir mehr zuwider, als mich jemandem aufzudrängen, der nichts von mir wissen will.
Gleichzeitig schickt er mir Phantasien, die immer einen Schritt weiter gehen als meine.
3
Wir waren über ein Jahr zusammen, bevor Friedrich und ich auf die Idee kamen, miteinander zu schlafen. Ich ging zum Frauenarzt. Als ich zum ersten Mal die Pille nahm, fürchtete ich mich vor diesem Eingriff in meinen Körper. Mir war, als ob ich eine gefährliche Droge nähme, die mich für den Rest meines Lebens abhängig machen könnte. Das Bild, das mir geblieben ist: Die Nachttischlampe in Friedrichs Zimmer wirft ein rundes Licht auf die Blisterpackung, daneben der Beipackzettel auf dünnem Papier, dichtbedruckt, kleingedruckt. Ich habe ihm vorgelesen, Risiken und Nebenwirkungen. Ich drücke die erste Tablette aus ihrer Plastikblase und hoffe, dass er versteht.
Es folgte die Radtour übers Land, bergauf, bergab zum See. Übernachtung in der Jugendherberge. Die Suche nach einem Plätzchen für unser Vorhaben in der Dämmerung: ein Spielplatz, ein Toilettenhäuschen, die Treppenstufen zum See. Viel Herumgestochere, wenig Rauschhaftes. Wir enden in einer kleinen Pension. Die Wirtin mustert uns und kassiert vorab das Geld, das ein gewaltiges Loch in unsere Ausflugskasse reißt. Das rustikale Bett mit den dicken Federkissen am Nachmittag. Es gibt ein Foto von unseren ineinander verschlungenen Beinen, etwa ab Hälfte der Oberschenkel abwärts. Wo ist das geblieben? Ich habe es genau vor Augen, erinnere mich sogar an die winzige, rote Warze an meinem rechten Fußballen, über die ich mich wochenlang geärgert hatte, und die eines Tages einfach verschwand. Und ich erinnere mich an das lauwarme Gefühl, das die ganze Aktion begleitete. Der Rest ist weg.
Ich versuche, mir ein erfülltes körperliches Erlebnis mit Friedrich zurückzurufen. Wir waren sieben Jahre zusammen, das muss es doch gegeben haben? Aber es ist nichts mehr da. Dafür taucht ein anderes Bild auf: Wir sind in meiner Wohnung in der Innenstadt. Es ist helllichter Tag. Ich liege auf meinem Bett, das fast den ganzen Raum einnimmt, Friedrich daneben, aber ich kann ihn auf meinem Erinnerungsbild nicht sehen. Ich sehe nur mich, ich sehe, dass ich nackt bin. Eine nackte Frau. Nichts an der Frau bewegt sich. Man sieht nicht einmal, ob sie atmet. Der Augenblick wie eingefroren. Die Frau hält still, wie jemand, der auf keinen Fall gefunden werden will. Mit offenen Augen, vollkommen unbedeckt versteckt sie sich. Das Wort frigide habe ich ihm damals trotzdem nachgetragen. Heute glaube ich, dass er verzweifelt war. Er war so ein dummer Junge. Beide waren wir dumm und jung und ohne jede Erfahrung, wir kannten uns selbst nicht, und wir hatten keine Ahnung, wie wir miteinander umgehen sollten, weder mit uns selbst noch mit dem anderen. Und dann kommt mir doch noch ein warmer Moment in den Sinn: In einem dunklen Raum, in den nur schwaches Licht von draußen fällt, betrachte ich mit großen Augen, die seit Stunden an die Dunkelheit gewöhnt sind, diese Linie entlang der Wirbelsäule, und der weiche Schatten meiner Hand beschreibt das Auf und Ab des breiten Rückens, und ich denke, das ist die schönste Stelle eines Männerkörpers.
Stéphane schreibt: Ein Trophäenjäger bin ich nicht, das musst du mir glauben. Aber ein Engel bin ich wohl auch nicht. Hast du Erfahrung in diesen Dingen?
Ich schreibe: Was für Dinge meinst du genau?
Stéphane schreibt: Des intrigues amoureuses, Affären, Liebschaften oder wie immer du es nennen willst.
Die meisten Männer, die ich getroffen habe, seit ich verheiratet bin, waren langweilig und eindimensional. Die Art von Männern, die brav ihre Targets abliefern, sich eine dicke Uhr kaufen und angelesenes Zeug über Wein von sich geben. Das einzig Attraktive war ihre Macht und ihr Status – aber das hat mich nie wirklich interessiert. Und davor? Davor geht die Erzählung so: Ich wollte unbedingt an die ewige Liebe und Treue glauben … Der arme Friedrich! Ich glaube, ich habe ihn völlig überfordert. Vielleicht neige ich dazu, meine Männer zu überfordern.
Ich schreibe: Kann ich dir vertrauen?
Stéphane schreibt: Vermutlich würde dir jedes Schlitzohr sofort versichern, dass du ihm trauen kannst. Es wird dir also nicht viel helfen, wenn ich das schreibe. Aber: Ja, du kannst mir vertrauen.
Mit keinem bin ich so schnell im Bett gelandet wie mit Yannik, und mit keinem so oft. Dabei ging das Ganze vielleicht ein halbes Jahr, kaum länger. Zuerst hatte ich auf der Medizinerparty ein wenig mit einem anderen Kerl geflirtet, der mir sehr gut gefiel, aber er hatte eine Freundin, eine zierliche Medizinstudentin, der man anmerkte, dass sie diesen Mann nicht wieder aufgeben würde. Ich bin sicher, dass die beiden geheiratet und Kinder bekommen haben, und dass sie nie ihren Facharzt zu Ende gemacht hat. Und fast genauso sicher bin ich, dass er nach einer gewissen Zeit, als die Karriere und die Familie liefen, angefangen hat, sich nach anderen Frauen umzuschauen. Ganz diskret natürlich. Lutz hieß er. Wie sie hieß, weiß ich nicht mehr. Auf den ersten Blick war mir klar gewesen, dass Lutz beruflich sehr weit kommen würde, und weil ich auch seinen Nachnamen noch erinnere, finde ich im Internet prompt die Bestätigung: Radiologe, Professor Doktor, mittlerweile in der Schweiz. Er sieht noch genauso aus wie früher, nur alt, und das Alter steht ihm nicht. Es gibt diese Art von hübschen jungen Männern, die schlecht altern, so wie Ivo Pogorelich. Die Hülle seiner Schubert-Platte aus den Achtzigern hatte ich mir damals übers Bett gehängt. Und wie sieht er heute aus!
Yannik war ein Freund von Lutz. Nach ihm kann ich nicht suchen, der Nachname ist weg. Wieder eine Party, dieses Mal irgendwo privat, aber wo genau? Eher Innenstadtlage, denke ich. Jedenfalls war die Bude rappelvoll, eine Wohngemeinschaft, glaube ich. Jetzt hab ich’s: Lutz’ Freundin wohnte dort, und es war ihre Party.
Es war nicht lange, nachdem Friedrich mir mit furchtbar viel Schweigen erklärt hatte, dass er nicht mehr könne. Er war gerade nach Mannheim gezogen, um an seiner Promotion am Deutschen Krebsforschungszentrum zu arbeiten. Aber auch weniger räumliche Distanz hatte unsere Beziehung nicht retten können. Ich schaltete von Erfrieren auf Verbrennen um. Freddy Mercury war noch nicht lange tot, und überall liefen die alten Queen-Platten, Tonight, I’m gonna have myself a real good time … So don’t stop me now!
Wir haben getanzt. Nie vorher und nie nachher hat ein Mann so mit mir getanzt wie Yannik. Ich weiß, wovon ich spreche. Alexander macht immer ein beleidigtes Gesicht, wenn ich sage, ich könne mit jedem alles tanzen, wenn er nur führe. Dabei war es seine Idee gewesen, einen Tanzkurs mit mir zu machen. Bis zum Goldabzeichen haben wir es gebracht, aber selbst in der Zeit, als wir noch regelmäßig zum Tanzen gingen, bestand er auf die immer gleiche Abfolge der Figuren und zählte mit halboffenem Mund leise den Takt mit, obwohl er wusste, dass es mich wahnsinnig machte. Mit Yannik war es, als tanze er mich, als seien meine Bewegungen seine und seine meine. Eine Weile mischte Lutz noch mit. Wir probierten uns im Sandwich-Tanz, einer von vorne, einer von hinten und ich mitten drin, und wir lachten furchtbar viel. Bis Lutz’ Freundin neben uns auftauchte. Ich hatte sie schon eine Weile still an der Tür stehen