Lichte Horizonte. Daniela Engist

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Lichte Horizonte - Daniela Engist


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war längst nicht mehr da. Er hatte sich nicht verabschiedet. Genau so war’s. Hatte ich vergessen. Ich weiß auch nicht mehr, welche Worte zwischen Yannik und mir gefallen sind, oder ob überhaupt Worte gefallen sind, und ich weiß auch nicht mehr, wie wir den Weg zu meinem Zimmer am Seepark zurückgelegt haben. Aber wenn ich die Augen schließe und es zulasse, taucht da wieder der Rausch im Kopf, im Bauch und zwischen den Beinen auf, ich erinnere mich an die vollkommene Hemmungslosigkeit dieser Nacht oder besser dieser frühen Morgenstunden und all derer, die noch folgen sollten.

      Er hatte eine Wohnung im Westen der Stadt, nicht weit vom Seepark, in der ich von da an jede Nacht und dazu den halben Morgen verbrachte. Zwei Zimmer, Küche, Bad, in dieser Wohnung gab es keinen Ort, an dem wir nicht miteinander geschlafen hätten. Erst mit der Zeit fiel mir auf, dass wir uns nie küssten. Wir taten die intimsten Dinge mit allen möglichen Körperteilen, aber wir küssten uns nie, und wenn wir zusammen ausgingen, dann traten wir nicht als Paar auf.

      Nur ein Mal. Es war der Silvesterball hoch oben auf dem Tübinger Schlossberg. Noch nie war mir so nach Jahreswechsel zumute gewesen. Ich wollte alles hinter mir lassen, war ganz auf Neuanfang eingestellt. Wir fuhren in Yanniks Auto über den Schwarzwald. An diesem Rastplatz bei Hinterzarten erzählte ich vermutlich meine Anekdote von der Polizeikontrolle. Ich hatte ein atemberaubendes Ballkleid im Gepäck, ausgeliehen aus dem Theaterfundus, roter Samt, enganliegend, schulterfrei, nur am Hals von einem Knoten zusammengehalten, tiefer Ausschnitt. Die roten Riemchenschuhe dazu waren meine eigenen, hatten zum letzten meiner Turnierkleider gehört, das ich längst verkauft hatte. Wir kamen in Verkleidung. Wir bestellten Sekt und Lachscanapés, spielten verliebt, verlobt, verheiratet, als wären wir in einem anderen Lebensjahrzehnt gelandet. Es fühlte sich an, als würde der Ball nur für uns veranstaltet werden, der gedeckte Tisch, das bunte Licht, das Tanzorchester, alles war nur für uns da. Es muss voll gewesen sein, aber ich kann mich an keine anderen Menschen erinnern, nicht einmal an Theresa, die uns überhaupt erst nach Tübingen eingeladen hatte, oder ihre Freunde. Nein, wir waren bestimmt nicht allein gekommen, und doch sind sie alle aus meinem Gedächtnis verschwunden. Da ist nur Yannik im ebenfalls geliehenen Smoking, der aussieht wie gemalt und den ich mir in meiner Erinnerung nur zehn Jahre älter vorstellen kann, als er damals war. Wir tanzen. Seine Hand auf der nackten Haut meines Rückens. Beim Wiener Walzer schaut er mich andauernd an, ich ermahne ihn mit gespieltem Ernst, gefälligst seine Augen von mir abzuwenden, wie wolle er uns sonst unfallfrei durchs Gedränge lotsen? Und überhaupt sei das ganz und gar nicht reglementgemäß. Aber ab und zu bewege ich selbst den Kopf hin und her, um den Drehschwindel noch zu intensivieren. Im Laufe der Nacht war es, als füllten sich Kleid und Smoking mit Leben. Vielleicht war aber auch nur die äußere Lüge nach innen gewandert, bis innere Wahrheit und äußere Verstellung nicht mehr zu unterscheiden waren.

      In den frühen Morgenstunden, seine Smoking-Jacke über meinen Schultern, die kaputtgetanzten Schuhe in meiner Hand, wandern wir über das eiskalte Kopfsteinpflaster. Über dem Neckar steht der Nebel. Wir gehen und sprechen, führen ein Zwiegespräch, das so nah ist wie nie zuvor, so nah an irgendeiner inneren Wahrheit wie nie. Für die Dauer des kurzen Weges bis zu Theresas Wohnung scheint an diesem Neujahrsmorgen alles möglich. Wir legen uns erschöpft ins Bett, wie Bruder und Schwester. Binnen Minuten ist er eingeschlafen. Er sieht aus wie ein Schuljunge, wie er daliegt auf dem Bauch, das Gesicht halb ins Kissen vergraben, mit leicht geöffnetem Mund. Mit großer Klarheit sehe ich, wie alles für einen Moment wahr ist und im nächsten schon nicht mehr. Ich weiß, dass ich ihn ziehen lassen muss, und dass ich ihn auch gar nicht haben will, nicht diesen Yannik, nicht den, der er ist, höchstens den, für den ich ihn gerne gehalten hätte. Für einen kurzen Moment halte ich an meinem Bild fest, weil es so schön ist, hänge diesem geliehenen Gefühl nach, wie man ein geliehenes Kleid für einen Abend trägt, als wäre es das eigene. Die roten Schuhe landen in Theresas Müll.

      Ich hatte gewusst, dass er in ein paar Monaten nach Amerika gehen würde, um einen Teil seines Praktischen Jahres dort zu absolvieren, und ich hatte keine Illusionen, was seine eingeschränkten Möglichkeiten in puncto Treue betraf. Aber auch wenn das Ende von Anfang an absehbar gewesen war, tat es doch mehr weh, als ich geglaubt hatte. Ich half ihm noch bei der Auflösung seiner Wohnung, zusammen mit Lutz und ein paar anderen aus ihrer Mediziner-Clique. Wir packten alles in einen gemieteten Transporter und brachten es zu seinen Eltern nach Hause, die in einer kleinen Stadt im Schwarzwald lebten. Dort saßen wir dann am Esstisch, und ich musste unaufhörlich lächeln, weil es mir so bizarr erschien, wie Yannik von seiner Mutter umsorgt wurde, und wie der Vater bürgerliche Reden schwang.

      Ich war neben Hannes zu sitzen gekommen. Wenn ich mich recht entsinne, hatte er schon auf der Fahrt ganz nah bei mir gesessen. Unsere Helferschar war nicht klein, und im Transporter war es eng zugegangen. Hannes bemühte sich sehr um mich, spielte den aufmerksamen Tischherren. Vielleicht fühlte er sich von meinem ständigen Lächeln ermutigt. Wie sich später herausstelle, war er völlig ahnungslos, was mein Verhältnis zu Yannik anging. Eigentlich naiv, er kannte ihn doch schon viel länger als ich. Ich glaube, Hannes hätte es wissen können. Ich glaube sogar, es war schwerer, sich einzureden, da sei nichts, als es wahrzunehmen. Für die Sache mit Hannes schäme ich mich, für ihn allerdings auch. Er hatte etwas Bedürftiges, und er hatte Vorstellungen von der Zukunft, mit denen er mich nicht verschonte. Einen Jaguar wolle er mal fahren, wie sein Vater. Das sei kein so gewöhnliches Auto. Daimlerfahren könne doch jeder Landarzt. Dabei beobachtete er ängstlich, ob seine Worte auch die beabsichtigte Wirkung auf mich ausübten. Er tat mir leid, denn es war offensichtlich, dass er hoffte, ich würde aus der Exklusivität seines Geschmacks Rückschlüsse auf seine partnerschaftlichen Qualitäten ziehen.

      Aus Mitleid nahm ich seine Essenseinladung in den Süden der Stadt an. Kochen und Wein. Zu viel Wein. Er bot mir an zu übernachten, überließ mir sein Bett und machte sich ein Lager auf dem Boden. Wir redeten die halbe Nacht, und in der Dunkelheit des Zimmers begann Hannes sich aufzulösen. Es blieb nur seine Stimme und irgendwann seine Hand, die nach meiner suchte und sich weiter tastete. Nur die Stimme und die Finger auf der Haut. Am anderen Morgen hatte ich einen Kater, nicht nur wegen des Weins. Er lud mich zu einem Ausflug nach Straßburg ein (wieso wollen immer alle nach Frankreich?), und weil ich es nicht übers Herz brachte, ihm abzusagen, standen wir bald darauf stumm nebeneinander auf der Grand Île. Es muss ein Foto davon geben! Ich erinnere mich dunkel an ein paar Fotos. Und dann habe ich noch ein einziges Mal mit ihm geschlafen. In meinem Zimmer am Seepark. Bei Tageslicht. Es war grauenhaft.

      Danach erzählte ich ihm von Yannik, natürlich nicht im Detail, aber Hannes flippte völlig aus. Der treibe es doch mit jeder! Das sei ein Schwein sondergleichen! Wenn er das gewusst hätte. Wir müssten sofort einen HIV-Test machen, beide, auf der Stelle! Er spielte sich auf, als sei er der Rächer meiner Ehre und der Retter meines Lebens. Ich ging zu meiner Hausärztin, die sich wie eine Freundin verhielt und bald Entwarnung gab. Dann schrieb ich eine wütende E-Mail an Yannik, der gekränkt reagierte. Ob ich denn tatsächlich glaubte, dass er sich und mich und andere in Gefahr bringen würde? Schließlich sei er Arzt.

      Du kannst mir vertrauen. Kann man einem Betrüger vertrauen? Einem Lügner glauben? Man muss die Kategorien verschieben, darf den Betrug nicht Betrug nennen, die Lüge nicht Lüge. Wie immer du es nennen willst. Man muss andere Worte finden, sich andere Worte zurechtlegen, mit denen man das Ding behängt und schmückt, es bekleidet und frisiert, und man muss das Kind zum Schweigen bringen, das laut rufen will, der Kaiser sei nackt und ein Betrug ein Betrug und eine Lüge eine Lüge.

      Beim Abendessen erkläre ich den Kindern und Alexander, dass ich vor Weihnachten unbedingt noch Theresa besuchen müsse. Wir hätten uns ewig nicht gesehen, und so könne das Jahr nicht zu Ende gehen. Dass auf halbem Weg zwischen Offenburg und Straßburg die Île du Rohrschollen liegt, eine Rheininsel im Niemandsland zwischen hier und dort, bequem in dreißig Autominuten aus beiden Richtungen zu erreichen, sage ich nur Stéphane.

      Alexander sage ich, dass ich bereits am Freitag fahren wolle. Er könne doch einen seiner seltenen Homeoffice-Tage einlegen, ausnahmsweise. Freitag hin, Samstag zurück, das sei doch kein Ding. Alexander grummelt herum, dann konsultiert er seinen Kalender und lenkt ein. Er wundert sich nicht, dass ich unbedingt mit dem Auto fahren und nicht den Zug nehmen will, wo ich mich doch sonst vor der Fahrerei drücke. Tausende Kilometer Urlaubsfahrten musste er deshalb schon alleine bewältigen. Manchmal frage ich mich, wie gut


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