Elisabeth Petznek. Michaela Lindinger
Читать онлайн книгу.nach Schönau holen. Dann könne sie das Mädchen in ihre Dienste nehmen und beobachten. Erzsi folgte dem Ratschlag, fuhr mit ihrem Chauffeur zu dem Güssinger Telepathen und fragte ihn aus. Nachdem sie der Ansicht war, alles Wissenswerte über Wilma erfahren zu haben, besuchte sie das Mädchen und sprach Wilma auf Ungarisch an. Diese fasste rasch Vertrauen zu der fremden Dame und kam gerne mit. Um die „Entführung“ etwas erträglicher zu gestalten, wurde auch Wilmas Bruder mit nach Schönau genommen. Die ungewöhnliche Reisegesellschaft trat die Rückfahrt zum Schloss an und die beiden Jugendlichen erhielten Quartier in den Dienstbotenkammern. Am nächsten Tag wies man ihnen einfache Arbeiten in Haus und Küche zu. Schrenck-Notzing wurde von dem Zuwachs an Domestiken in Kenntnis gesetzt und war begeistert von seiner neuen Mitarbeiterin im Schloss. Er instruierte Erzsi genauestens, wie sie es mit Wilma angehen solle. Sie müsse Tagebuch führen und alles notieren, was mit Wilma zu tun habe: wie sie sich verhalte, welchen Eindruck Erzsi von ihr habe, wann die Phänomene aufträten, wann Wilma ihre Regel habe. Außerdem seien immer zu berücksichtigen: die jeweilige Mondphase, Tageszeit und Beleuchtungsverhältnisse, Standort des Mädchens. Weiters solle Erzsi sich fragen: Kann Wilma das Phänomen selbst hervorrufen? Wo tritt das Phänomen auf? Und natürlich müsse sie die schriftlichen Zeugenaussagen der Anwesenden aufnehmen. Wilma müsse auch im Schlaf überwacht werden, um etwaige Spontanaktionen nicht zu versäumen. Ob sie im Schlaf spreche? Aufstehe? Herumgehe? Überhaupt, ob sie somnambule Zustände zeige? Und dann das Entscheidende: Ob sie durch ihren Willen imstande sei, mehr oder weniger weit entfernte Gegenstände zu bewegen, ob sich hierbei ein Spalt-Ich („Doppelgänger“, Astralleib) zeige, der automatisch schreiben kann, ob sie in Trance falle.
Im Garten des Schlosses Schönau, 2019
Beim Auftreten von Phänomenen solle man auch Hans Thirring und Michael Dumba beiziehen. Dumba, ein Nachfahre der einflussreichen Ringstraßenfamilie Dumba, war der neue Gönner von Karl Krauss. Auch er bewegte sich in jenen Zirkeln von Ex-Adeligen, die sich mit dem Spiritismus im weitesten Sinn beschäftigten.
Offenbar geschahen bald seltsame Dinge im Küchenreich von Schloss Schönau, denn wenig später bezeichnete Schrenck-Notzing die junge Wilma als Spukmedium. Aus seinem Antwortbrief an Erzsi geht hervor, dass sie bereits von Problemen mit der burgenländischen Küchenmagd berichtet haben muss: „Wenn man die Sache sich selbst überläßt, so geht sie natürlich weiter. Man muß versuchen, sie zu beherrschen, sich den Unfug energisch verbitten.“ Er ging davon aus, dass diverse Spaltpersönlichkeiten Wilmas für den „Unfug“ verantwortlich seien. Man solle zwei Sitzungen wöchentlich mit ihr abhalten, damit sich ihre zurückgehaltenen psychischen Kräfte dort austoben können. Als last resort empfahl der „Geisterbaron“, Wilma „zu Wagner-Jauregg in die Klinik zu geben, damit die Herren endlich einmal durch die ‚schlagende‘ Wirkung der fliegenden Gegenstände von der Realität dieser Vorgänge überzeugt werden. Das wäre die beste Lösung.“ Bis heute befassen sich Forscher mit der „Psychokinese“ („PK“), also mit der Fähigkeit, Gegenstände zu bewegen, ohne sie zu berühren.
Nicht zuletzt führte der Filmklassiker „Poltergeist“ (1982) vor, dass es oft (heranwachsende) Mädchen sind, die durch ihre psychischen Veranlagungen paranormale Aktivitäten auslösen können. Bei diesen „Spukerscheinungen“ entstehen aus unerfindlichen Gründen Lärm und Bewegung. Geschirr segelt durch die Luft und zersplittert. Alle Gegenstände, die durch Poltergeister bewegt werden, bekommen ein unkontrollierbares Eigenleben. Sie schaffen es durch Türen und Fenster, auch durch solche, die kleiner sind als sie selbst. Ebenso ist es möglich, dass Dinge urplötzlich mitten in der Luft erscheinen. Phänomene dieser Art sollen weltweit verbreitet sein. Angesehene Wissenschaftler wie der Freud-Schüler C. G. Jung schilderten Fälle, in denen sie selbst Zeugen derartiger Vorkommnisse geworden sind: Es ging um Gegenstände, die sich ohne wahrnehmbare äußere Krafteinwirkung im Raum herumbewegten.
Der Ausdruck „Poltergeist“ ist jedoch irreführend, denn es handelt sich mitnichten um einen Geist. Eher könnte man den Poltergeist als eine unsichtbare Kraft beschreiben, die Dinge bewegt, Türen knallen lässt, kinetische Lärmbelästigung verschiedenster Art hervorruft. Um in Aktion treten zu können, scheint der Poltergeist die Gesellschaft (weiblicher) Kinder oder pubertierender Jugendlicher im Alter zwischen zwölf und 16 Jahren zu benötigen. Der Poltergeist gilt als unzerstörbarer Garant für Chaos und gelangt im Allgemeinen zusammen mit dem ihn aktivierenden Jugendlichen in ein Gebäude. Und so nahm ein ziemlich umtriebiger Poltergeist das Schloss Schönau in Besitz.
Erzsi schaffte es nicht, die Kräfte, die offenbar von Wilma Molnar ausgingen, in den Griff zu bekommen. Sie war zwar im Lauf der Jahre geistig geschult worden und hatte Kenntnisse auf den Gebieten der Psychologie und Parapsychologie erworben, die für einen Laien alles andere als selbstverständlich waren. Doch wurde sie von den Ereignissen rund um das ungeschulte Medium Wilma Molnar überrollt. Es muss zu heftigen Phänomenen gekommen sein, zu unbekannten Energien, deren Entwicklung und Konsequenz Erzsi in Schrecken versetzten. Von den Sitzungen mit Hans Thirring kannte Erzsi den sozialdemokratischen Mathematiker Hans Hahn, ein Mitglied des „Wiener Kreises“ rund um den Philosophen und Physiker Moritz Schlick. Sie wandte sich an Hahn mit der Bitte, sich um Wilma zu kümmern und das Mädchen unter wissenschaftlicher Kontrolle zu beobachten. Diese Veränderung ihres Alltags stieß bei Wilma auf immensen Widerstand. Sie hatte keine Lust, in Käfigen zu sitzen, an elektrische Kabel angeschlossen zu sein und fremden Männern als Versuchsobjekt zur Verfügung zu stehen. Erzsi zeigte Verständnis und holte Wilma zu sich in ihre Wiener Wohnung. Doch die Phänomene gingen weiter. Das Eisenbett, in dem Wilma schlafen sollte, fiel zweimal um, sodass sie darunter begraben wurde. Das Mädchen zitterte und weinte. Jedoch war das Bett sehr schwer, sodass Erzsi allein es kaum manövrieren konnte. Sie war mit der Situation überfordert und wusste nicht, wie sie mit Wilma weiter umgehen sollte.
Kaum war man wieder in Schönau, machten die Poltergeister mit unerwartet auftretenden Geräuschen, deren Herkunft nicht geklärt werden konnte, auf sich aufmerksam. Erzsi hatte den Eindruck, dass zu jeder Tages- und Nachtzeit etwas Unvorhergesehenes geschehen konnte. Sie wurde immer nervöser.
Im Jahr 1927 erkrankte Albert von Schrenck-Notzing. Er reiste aber trotzdem zum Kongress der Parapsychologen nach Paris, wovon er Erzsi in Kenntnis setzte. Unterdessen litten Eigentümerin und Angestellte unter der sich immer mehr verschärfenden, grimmigen Atmosphäre in Schönau. Einst war das Schloss geprägt von Blumenduft, Heiterkeit, luxuriöser Sommerunterhaltung. Doch nun regierten kaum mehr unterdrückbare Angstgefühle. Es ereigneten sich die merkwürdigsten Dinge, deren mysteriöse Ursachen alle Bewohner fürchteten. Erzsi riss sich zusammen und erwartete dies auch von allen anderen im Schloss. Für die Herrin war Wilma noch immer in erster Linie ein einzigartiger „Fall“ und sie wollte ihre „Forschungen“ mit dem Mädchen weiterführen. Dass dies ein normales Leben auf dem Anwesen unmöglich machte, war ihr wieder einmal egal.
Einen Vorfall in der Schlossküche schilderte Franzi folgendermaßen: Lautes Geschrei ertönte im Haus, Wilma stand in der Küchentür und schlug die Hände vors Gesicht. Sie wollte nicht sehen, wie die Kartoffeln über den Kachelboden der Küche hüpften. Angeblich waren die Knollen von allein aus dem Korb gesprungen. An einem anderen Tag eilte Erzsi wegen bizarrer Dissonanzen, die sie bis in ihre entlegenen Zimmer wahrnahm, hinunter in die Küche. Wilma umklammerte mit jeder Hand verzweifelt einen Pfannenstiel und versuchte, die Pfannen auf dem Herd zu halten. Gleichzeitig hatten sich zwei Töpfe von der Wand gelöst und flogen in einer Höhe von zwei Metern durch die Luft. Erzsi tat ihr Bestes, um Wilma auf Ungarisch zu beruhigen, und führte sie aus der Küche. Da dies der „Hauptwirkungsbereich“ Wilmas war, manifestierten sich die Klopfgeister dort am stärksten. Anders gesagt: Das von Wilma abstrahlende Energiefeld schien in diesen Räumlichkeiten seine höchste Konzentration zu erreichen.
Hatte Erzsi anderweitig zu tun, lag die Überwachung der Küchenmagd in Franzis Verantwortung. Eines Tages wurde er dringend in die Küche gerufen. Wieder einmal war es so weit. Teller, Messer, Gabeln und Löffel flogen aus geschlossenen Schubladen, bewegten sich in allen Richtungen durch die Luft. Schließlich richteten sich die Messer gegen Wilma. Doch bevor sie das Mädchen erreichten, fielen sie mit lautem Geklapper zu Boden. Die Messer jagten Wilma die größte Angst ein. Das „Herbeibringen“,