Geist & Leben 2/2017. Christoph Benke
Читать онлайн книгу.verba, in den frühen Textzeugen lässt sich keine eindeutige Einstiegsformel definieren. Die heute übliche Version wird wohl zurecht auf Joh 20,28 zurückgeführt: „Thomas antwortete und sprach zu ihm: Mein Herr und mein Gott!“ Es ist dies der Ausruf des Apostels Thomas vor dem Auferstandenen, das erste explizite Osterbekenntnis und damit eine Schlüsselstelle. Demgegenüber erinnert die Voranstellung des Wortes „Gott“ an Mk 15,34: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ und damit an die Stunde größter (Gott-)Verlassenheit.
Ein Gebet geht um die Welt
Heute verehren sehr viele Menschen Niklaus von Flüe und schätzen ihn hoch, weil sie ihn und seine Kernbotschaften nicht mit einer konfessionellen Zugehörigkeit in Verbindung bringen. Sein Weg ist, wie selbst in diesem groben Überblick deutlich geworden ist, nicht frei von Brüchen, von Zweifeln, von Fragen ohne Antworten, von einem Suchen, das zu Irrwegen geführt hat. Er ist kein „einfaches“ Vorbild. Gerade damit berührt er heute Menschen in ihrem Innersten. Sie wissen sich von ihm als gläubige und suchende Menschen verstanden und getragen. Vielen ist dabei sein Gebet ein täglicher Begleiter, wie die folgenden drei Beispiele eindrücklich belegen. Der offizielle Gedenkband Mystiker Mittler Mensch zu 600 Jahre Niklaus von Flüe enthält mehrere Beiträge, welche sich explizit und teils auf überraschende Weise mit dem Gebet auseinandersetzen.
Das Gebet um Versöhnung
Für den gebürtigen Libanesen Nabih Yammine (*1945), dem Gründer der spirituellen Allianz zwischen dem hl. Charbel Makhlouf (1828–1898) und Bruder Klaus, ist dieses Gebet eine Anleitung auf dem „Weg der Versöhnung“. Friede, im Kleinen genauso wie nach einem langen und blutigen Krieg, sei nur möglich mit Versöhnung (franz. réconciliation) und Heilung (franz. guérison). „Versöhnung heißt in diesem Kontext“, so Yammine: „den eigenen Hass, die eigene Wut zu überwinden, oder noch besser: den eigenen Hass loszulassen, von ihm frei zu werden, und Heilung bedeutet, sich neu mit der positiven Energie des Friedens zu füllen.“19
Das Gebet um Gelassenheit
Der bayerische Landvolkpfarrer Josef Mayer (*1960) deutet das „Gebet um Gelassenheit“20, ganz im Sinne des bedeutenden Bruder-Klausen-Biografen Pirmin Meier (*1947), aus unserem Alltag heraus und schließt seine Betrachtung mit den Worten: „Das tiefste Geheimnis aber liegt im Lassen. Wir Menschen wollen machen, machen, und immer wieder machen. Machen, so lange, bis wir gar nicht mehr können. Ich nehme mich da keinesfalls aus. Erst wenn mir eine letzte Grenze aufgezeigt wird, bin ich bereit, etwas loszulassen, es in Gottes Hände zu übergeben. Wie gerne hätte ich in einer sehr verzwickten Familiengeschichte, die mir in den letzten Monaten zugemutet worden ist, den Löser gespielt. Aber ich musste feststellen, dass hier nur mehr abgeben und loslassen geht, weil es letztlich nur einen Löser, den Erlöser gibt. Er löst! Ich bin höchstens ein mehr oder weniger guter Handlanger. Es war das Gebet, das dann doch noch eine Lösung möglich machte, mit der sich leben ließ. Das ungeheure Vertrauen des Niklaus von Flüe ist es, was ich brauche, was wir brauchen. Aber es ist Geschenk, und es kann nur täglich neu immer wieder von uns erbeten und erbetet werden.“21
Gebet am Sterbebett
Eine sehr persönliche Erfahrung beschreibt der bekannte Schweizer Theologe und Buchautor Pierre Stutz (*1953). Als 1982 seine Mutter an einer tödlichen Krebserkrankung litt, betete sie jeden Abend mit ihrer Familie, die sie zuhause pflegte, das Bruder-Klausen-Gebet. Daran anschließend schreibt er: „Jeden Tag sterben wir kleine Ego-Tode durch unsere kleinen Enttäuschungen und unsere durchkreuzten Lebenspläne. Jeden Tag können wir noch mehr eintauchen in unseren Friedensgrund, um zu entdecken, dass das Wesentliche schon da ist (…) Es hat meine Mutter vertrauensvoll in die Ewigkeit begleitet. Es drückt für mich bis heute meine tiefe Hoffnung aus, dass wir im Leben und im Sterben in Gottes Liebe hineingeboren werden.“22
Befreiendes, öffnendes Gottesverständnis
Bereits diese drei Beispiele zeigen, wie modern und zeitlos die grundlegenden Wahrheiten von Niklaus von Flüe bis heute sind. Dazu tragen neben dem Gebet zwei „Träger“ bei, die in der symbolischen und zeichenhaften Vermittlung von Niklaus von Flüe und seiner Botschaften eine besondere Rolle spielen, das Radbild und der Ranft, sein Ort der Einsamkeit.23
„So ist das göttliche Wesen“
Das Radbild ist das Niklaus von Flüe am zutreffendsten charakterisierende Symbol. „Siehst Du diese Figur?“, fragte er einen Besucher und erklärte ihm: „So ist das göttliche Wesen. Der Mittelpunkt ist die ungeteilte Gottheit.“ Von diesem Mittelpunkt gehe die göttliche Gewalt aus, umfasse den Himmel und alle Welt, führe wieder hinein und sei unteilbar in ewiger Macht. Gott war und blieb für ihn das Zentrum seines Denkens und Handelns. Die Schlichtheit des Niklaus von Flüe entspricht seinen scheinbar so einfachen Kernaussagen. Wie anspruchsvoll, wie unergründlich tief „dieses Buch, in dem ich lerne“ tatsächlich ist, wird nur dem bewusst, der sich näher darauf einlässt.
Ranft: Ort der Stille, des Gebets
Der dritte „Träger“ ist der Ranft. Dieser identitätsstiftende, spirituelle Kraft- und Sehnsuchtsort nahe dem geografischen Zentrum der Schweiz steht – zusammen mit Bruder Klaus als herausragende und geschichtswirksame Vermittlerfigur – für ein Ankommen wie für ein Mehr an Rückzug und Reflexion, ein Mehr an Ruhe und Meditation, ein Mehr an Gelassenheit und Genügsamkeit, ein Mehr an Zuhören und ein Weniger an Ich-Bezogenheit. Es ist ein Ort der Stille, des Gebets, eine Oase des Friedens und Innehaltens.
Der Ranft ist sowohl ein geografisch definierbarer Raum wie die Bezeichnung für einen Sehnsuchtsort, der letztlich irgendwo sein kann. Diesem Bedürfnis nach Stille tragen viele Kirchen und spirituelle Orte Rechnung und bieten spezielle Räume der Stille an, die nicht selten den Namen „Ranft“ tragen oder auf andere Weise mit Niklaus von Flüe verknüpft werden.
Unio mystica in der Pilgervision
In einer der drei großen Visionen hört Bruder Klaus eine Stimme, die die Gegend und das Erdreich füllt, und alles, was zwischen Himmel und Erde ist. Es kam aus einem Ursprung und kehrte an einen Ort zurück. „Er hatte drei vollkommene Worte gehört, von denen keines das andere berührte, und er konnte doch nur von einem Wort sprechen.“ Demselben Besucher, den wir als Autoren des Pilgertraktats kennen, verriet er, dass Gott, – er erwähnte dies im Zusammenhang mit der geweihten Hostie –, „in jedem Partikel“ mit seiner Allmächtigkeit vollkommen sei.
Dies ist kein Zitat eines Genforschers, der uns über neuste Erkenntnisse in der DNA-Analyse informiert, es stammt von einem Bauern vom Flüeli, der dort vor 600 Jahren auf die Welt kam. Gott ist überall und im kleinsten Partikel so vollkommen wie im ganzen Universum gegenwärtig. Er setzt damit dem mechanischen Welt- und Gottesbild des Mittelalters ein dynamisches Welt- und Gottesbild entgegen, das an Modernität bis heute unübertroffen ist: „Da erkannte er [Niklaus von Flüe] an ihm solche Liebe, (…) dass er in sich geschlagen war, und erkannte, (…) dass die Liebe in ihm war.“24 So lautet in der Pilgervision der entscheidende Satz, der im Kontext christlicher Mystik als unio mystica, als mystische Vereinigung mit Gott bezeichnet wird. In dieser Vision begegnet er der Kraft der Liebe. Die Kernaussage ist so einfach wie umwerfend: Gott liebt den Menschen. Diese Erfahrung gibt er auch an uns weiter.
1 Die Quellentexte von und zu Niklaus von Flüe liegen in drei gewichtigen Bänden mustergültig ediert und kommentiert vor: R. Durrer, Bruder-Klaus. Die ältesten Quellen über den seligen Niklaus von Flüe, sein Leben und seinen Einfluss. Sarnen 1917 – 1921 [unveränderter Nachdruck 1981] sowie P. R. Amschwand, Bruder Klaus. Ergänzungsband zum Quellenwerk von R. Durrer. Sarnen 1987. Die Zitate zu seinem Tode siehe R. Durrer, 393 ff.
2 H. Stirnimann, Der Gottesgelehrte Niklaus von Flüe. Drei Studien. Freiburg i.Ue. 1981, 71 – 140 sowie zu den Quellentexten P.R. Amschwand, Quellenwerk, 208–217 [s. Anm. 1].
3 H. Stirnimann, Gottesgelehrte, 95 [s. Anm. 2].
4 Siehe P.R. Amschwand, Quellenwerk, 216 [s. Anm. 1].
5 Ebd., 212.
6