Existenzielle Psychotherapie. Irvin D. Yalom

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Existenzielle Psychotherapie - Irvin D. Yalom


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werden. Große Literatur überlebt, wie Freud in seiner Erörterung über Oedipus Rex22 hervorhob, weil etwas im Leser auftaucht, das die Wahrheit erfasst. Die Wahrheit fiktiver Charaktere bewegt uns, weil es unsere eigene Wahrheit ist. Darüber hinaus lehren uns große Werke der Literatur etwas über uns selbst, weil sie glühend ehrlich sind, so ehrlich wie irgendwelche klinischen Daten: Der große Romancier, so sehr seine Persönlichkeit auch auf viele Charaktere aufgespalten sein mag, ist letztlich höchst selbstenthüllend. Thornton Wilder schrieb einmal: »Wenn Königin Elizabeth oder Friedrich der Große oder Ernest Hemingway ihre Biografien lesen könnten, würden sie ausrufen, ›Oh – mein Geheimnis ist immer noch sicher!‹ Aber wenn Natascha Rostow Krieg und Frieden lesen könnte, würde sie ihr Gesicht mit den Händen bedecken und ausrufen, ›Wie konnte er das wissen? Wie konnte er das wissen?««23

      Zuvor hatte ich die existenzielle Therapie mit einem heimatlosen Kind verglichen, das keinen Zugang zu der besseren akademischen Nachbarschaft hatte. Das Fehlen akademischer Unterstützung durch die akademische Psychiatrie und Psychologie hat bedeutsame Folgen für das Feld der existenziellen Therapie, da akademisch dominierte Institutionen all die entscheidenden Versorgungslinien kontrollieren, die die Entwicklung der klinischen Disziplinen beeinflussen: das Training von Klinikern und Akademikern, die Forschungsfinanzierung, Lizenzvergaben und Zeitschriftenveröffentlichungen.

      Es lohnt sich, einen Augenblick darüber nachzudenken, warum der existenzielle Ansatz durch das akademische Establishment so unter Quarantäne gehalten wird. Die Antwort konzentriert sich vor allem auf die Frage nach der Grundlage des Wissens – das heißt, wie wissen wir, was wir wissen? Die akademische Psychiatrie und Psychologie, die in einer positivistischen Tradition steht, wertet empirische Forschung als die Methode, Wissen zu validieren.

      Betrachten wir die typische Karriere des Akademikers (und ich spreche nicht nur aufgrund von Beobachtung, sondern aus meiner eigenen akademischen Karriereerfahrung): Der junge Dozent oder Assistenz-Professor wird angestellt, weil er oder sie die Fähigkeit und Motivation für empirische Forschung zeigt, und wird später auf der Grundlage sorgfältiger und methodisch abgesicherter Forschung belohnt und befördert. Die wesentliche Entscheidung über die Amtszeit wird auf der Grundlage der Menge empirischer Forschung, die in angesehenen wissenschaftlichen Zeitschriften veröffentlicht wurde, getroffen. Andere Faktoren, wie die Fähigkeit zu lehren oder nicht-empirische Bücher, Buchkapitel und Essays, werden ganz entschieden weniger berücksichtigt.

      Es ist außerordentlich schwierig für einen Gelehrten, sich eine akademische Karriere auf der Grundlage empirischer Erforschung existenzieller Fragen zurechtzuschneidern. Die grundlegenden Annahmen der existenziellen Therapie sind so, dass empirische Forschungsmethoden oft nicht anwendbar oder unangemessen sind. Beispielsweise erfordert die empirische Forschungsmethode, dass der Erforscher einen komplexen Organismus studiert, indem er ihn in seine Komponenten aufteilt, wobei jede einfach genug sein muss, um empirische Untersuchungen zu ermöglichen.

      Aber dieses Grundprinzip negiert ein grundlegendes existenzielles Prinzip. Eine Geschichte, die Viktor Frankl erzählte, mag das veranschaulichen.24

      Zwei Nachbarn waren in einem bitteren Streit miteinander. Der eine behauptete, dass die Katze des anderen seine Butter gefressen hatte, und dementsprechend forderte er Wiedergutmachung. Da die beiden nicht in der Lage waren, das Problem zu lösen, gingen sie mit der Katze unterm Arm zum Dorfweisen, um sein Urteil zu hören. Der Weise fragte den Kläger, »Wieviel Butter hat die Katze gegessen?« »Zehn Pfund«, war die Antwort. Der weise Mann legte die Katze auf eine Waage. »Oh, schau an!«, sie wog genau zehn Pfund. »Mirabile dictu !«, rief er aus. »Hier haben wir also die Butter. Aber wo ist die Katze?«

      Wo ist die Katze? Alle Teile zusammengenommen, ergeben keine Rekonstruktion der Kreatur. Ein grundlegendes humanistisches Credo ist, dass »der Mensch mehr ist als die Summe seiner Teile.« Ganz gleich, wie gründlich man die Bestandteile des Geistes versteht – zum Beispiel das Bewusste und Unbewusste, das Über-Ich, das Ich, und das Es – begreift man doch nicht die zentrale Lebensinstanz, die Person, deren Unbewusstes (oder Über-Ich oder Es oder Ich) es ist. Außerdem hilft empirische Forschung der Person, die diesen Teil besitzt, niemals dabei, etwas über die Bedeutung dieser psychischen Struktur zu erfahren. Bedeutung kann niemals aus dem Studium von Komponenten gewonnen werden, weil Bedeutung niemals verursacht ist; sie wird durch eine Person, die all ihren Komponenten übergeordnet ist, geschaffen.

      Aber es gibt bei dem existenziellen Ansatz ein Problem mit empirischer Forschung, das sogar grundlegender ist als dasjenige von der Art »Wo ist die Katze?«. Rollo May spielt darauf an, wenn er Existenzialismus definiert als »das Bemühen, den Menschen zu verstehen, indem man die Kluft zwischen Subjekt und Objekt unterläuft, welche westliches Denken und westliche Wissenschaft seit der Zeit kurz nach der Renaissance belastet hat.«25 Die »Kluft zwischen Subjekt und Objekt« – ich möchte das genauer anschauen. Die existenzielle Position fordert die traditionelle kartesische Ansicht von einer Welt voller Objekte und Subjekte, die jene Objekte wahrnehmen, heraus. Offensichtlich ist dies die grundlegende Annahme der wissenschaftlichen Methode: Es gibt Objekte mit einer endlichen Zahl von Eigenschaften, die man durch objektive Erforschung verstehen kann. Die existenzielle Position unterläuft diese Kluft zwischen Subjekt und Objekt und betrachtet die Person nicht als ein Subjekt, das unter den richtigen Bedingungen externe Realität wahrnimmt, sondern als ein Bewusstsein, das an der Konstruktion der Realität teilhat. Um dies hervorzuheben sprach Heidegger immer von dem menschlichen Wesen als Dasein [im Original dt.]. Da bezieht sich auf die Tatsache, dass die Person da, ein geschaffenes Objekt (»empirisches Ich«) ist, und zur gleichen Zeit die Welt schafft (das heißt ein »transzendentales Ich« ist). Dasein ist gleichzeitig der Sinngeber und das Gewusste. Jedes Dasein erschafft daher seine eigene Welt; alle Wesen mit einem standardisierten Instrument zu erforschen, als wenn sie in der gleichen objektiven Welt lebten, bedeutet, dass man einen monumentalen Irrtum in seine Beobachtung einführt.

      Es ist jedoch wichtig, sich bewusst zu sein, dass die Begrenzungen empirischer psychotherapeutischer Forschung nicht auf eine existenzielle Orientierung in der Therapie beschränkt sind; nur sind sie in dem existenziellen Ansatz offensichtlicher. Sofern Therapie eine tief persönliche, menschliche Erfahrung ist, wird eine empirische Studie der Psychotherapie jedweder ideologischen Ausrichtung Irrtümer enthalten und von begrenztem Wert sein. Es ist allgemein bekannt, dass die psychotherapeutische Forschung in ihrer dreißigjährigen Geschichte wenig Einfluss auf die Praxis der Therapie gehabt hat. Tatsächlich nehmen, wie Carl Rogers, der Gründer empirischer psychotherapeutischer Forschung traurig bemerkte, nicht einmal die Psychotherapieforscher selbst ihre Forschungsergebnisse ernst genug, um ihr Konzept von Psychotherapie zu verändern.26

      Es ist auch allgemein bekannt, dass die große Mehrzahl der Kliniker aufhört, empirische Forschung zu betreiben, wenn sie einmal ihre Dissertation beendet haben oder in Amt und Würden sind. Wenn empirische Forschung ein gültiges wahrheitssuchendes und wahrheitsfindendes Bemühen ist, warum legen Psychologen und Psychiater ihre Zahlentabellen für Stichproben für immer beiseite, wenn sie einmal die akademischen Hürden überwunden haben? Ich glaube, dass er oder sie allmählich anzuerkennen beginnt, dass in einem empirischen Studium der Psychotherapie unglaubliche Probleme stecken.

      Eine persönliche Erfahrung mag dies veranschaulichen. Vor einigen Jahren führten zwei Kollegen und ich ein großes Forschungsprojekt über den Prozess und die Ergebnisse von Encountergruppen durch. Wir veröffentlichten die Ergebnisse in einem Buch, Encounter Groups: First Facts,27 das gleichzeitig als ein Markstein für Genauigkeit in klinischer Arbeit bejubelt und durch viele humanistische Psychologen wild angegriffen wurde. Tatsächlich wurde eine Ausgabe des schon erwähnten Journal of Humanistic Psychology einem energischen Angriff auf diese Arbeit gewidmet. Meine Kollegen schrieben handfeste und wirkungsvolle Erwiderungen auf die Kritiken, aber ich lehnte das ab. Zum einen, weil ich vollständig damit beschäftigt war, ein Buch zu schreiben. Auf einer tieferen Ebene hatte ich Zweifel an der Bedeutung unserer Forschung – nicht aus den Gründen, die öffentlich aufgegriffen wurden, sondern aus anderen: Ich konnte nicht glauben, dass die wahre Erfahrung der Teilnehmer mit unserem hochtechnischen, computermäßigen Statistikansatz


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