Systemische Organisationsanalyse. Günther Mohr

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Systemische Organisationsanalyse - Günther Mohr


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wenn nach einem Skandal mancher seinen Chefsessel räumen muss und die Vorstände ausgetauscht werden, ändert sich damit meist nicht das System. So musste sich der Aufsichtsrat eines großen Industriekonzerns wundern. [DER GORBATSCHOW-EFFEKT] Er hatte gerade für den ausscheidenden charismatischen Vorstandsvorsitzenden einen jungen, starken Nachfolger bestimmt. Der versprach alles zu ändern, war aber nach kurzer Zeit genauso weit weg von den realen Erfordernissen wie der alte Chef, der zuletzt nur noch sein Lebenswerk unbefleckt und unbeschadet erscheinen lassen wollte. Äußerst selten findet man den Gorbatschow-Effekt, dass einer, der im System langsam nach oben gestiegen ist, plötzlich das ganze System von oben verändert.

      Es gilt, die beiden Perspektiven, System Design und System Emergence, zusammen zu bringen. Das heißt heraus zu finden, welche Steuerungsdimensionen ein Unternehmen in seiner inneren Dynamik charakterisieren und wie sich darauf Einfluss nehmen lässt.

       Das Chaotische an komplexen Systemen

      Zunächst sollen Sie einmal alle Standardperspektiven auf Unternehmen beiseite lassen. Vergessen Sie Hierarchiediagramme und Charts. Stellen Sie sich vor, Sie kommen von einem anderen Stern und begegnen einer Firma oder einer anderen Organisation, die Sie kennen. Gehen Sie ganz unvoreingenommen an das unternehmerische System heran!

      Ein unternehmerisches System ist ein komplexes System. [JE NACH PERSPEKTIVE FÄLLT ETWAS ANDERES INS AUGE] Es zeigt sich zunächst in sehr vielen verschiedenen Aspekten. Je nach dem, worauf man schaut, gewinnt ein anderer Gesichtspunkt die Aufmerksamkeit. Bei der Zusammenschau der vielen Aspekte erscheint es zuweilen chaotisch.

      Man versucht Ertrag und Umsatz zu erreichen. Zahlen und Zeiten spielen eine große Rolle. Menschen verbringen Zeit miteinander, bewegen sich in Räumen, begegnen sich manchmal. Es gibt Erfolge und Niederlagen. Es wird gefeiert und man giftet sich an. Einige Themen enthalten Sprengstoff, andere sind tödlich langweilig. Manche Beteiligte haben mehrere Rollen, »tragen eine Menge Hüte« und jonglieren mit diesen herum. Andere fühlen sich eher am Rande, manchmal sogar außerhalb, als hätten sie mit der ganzen (Unternehmens-)Sache nichts zu tun. Technik ist allenthalben zu sehen. Waren gehen rein und raus, Datenströme fließen umher. Verschiedene Sprachen werden gesprochen: »betriebswirtschaftlich«, »technisch«, »IT-isch«, »umgangssprachlich«, »fremdsprachlich«. Es gibt Zusammenkünfte von Menschen, ganz so wie sich Menschen schon seit Tausenden von Jahren gerne in größeren Gruppen versammeln.

      Aber gibt es denn dann die Möglichkeit ein unternehmerisches System auch zu steuern? Mit welchen Phänomenen muss man umgehen, um das Organisationssystem zu steuern? Wie sind die Aspekte zu identifizieren, die relevant sind für das Verhalten, Denken und Fühlen der Menschen im unternehmerischen System?

       Ausgetretene Pfade

      Viele versuchen ein Unternehmen zu erfassen, indem sie sich mit Standardbegriffen nähern:

      – »Welche Bilanz hat das Unternehmen?«

      – »Wie ist sein Cash Flow?«

      – »Welche Erträge werden erwirtschaftet?«

      – »Wie ist das Organigramm?«

      Alles keine schlechten Fragen. Aber sind sie relevant, wenn man auf den Erfolg wirklich Einfluss nehmen will? Gerade Topmanager, die diese Informationen kennen, klagen über die unzureichende Beeinflussbarkeit ihres eigenen Unternehmens. Man müsse es nur schlanker machen, dann gehe es wieder. Vom großen Tanker ist die Rede. Darin steckt leider nur manchmal die Demut, nicht alles zu können. Häufiger ist es aber die innere Distanz zum wirklichen Geschehen, die den Manager wie einen Feldherrn im Sandkasten Schlachten schlagen lassen, Truppenverbände bewegen und auch manchmal ganze Bereiche opfern lässt.

       Die Distanz der betriebswirtschaftlichen Messgrößen

      Bisher ist es üblich, auf den ausgetretenen »Zahlen«-Pfaden mit sehr viel Distanz auf die lebendigen Prozesse in Unternehmen zu schauen. Vermeintlich scheinen sie einen Überblick zu geben, tatsächlich erzeugen sie lediglich einseitige Grobmarkierungen, so als ob man Länder nur nach ihren Höhenunterschieden bemisst. Welche »Bodenschätze« vorhanden sind, welche »Temperaturen« herrschen, welches Leben festzustellen ist, bleibt unberücksichtigt. [»KÄSTCHEN« DES ORGANIGRAMMS] Ob also die betriebswirtschaftlichen Zahlenkolonnen für das Unternehmen gute Abbildungen sind, ist fraglich. Dennoch, interne und externe Revisoren, Controller, Steuerberater, Wirtschaftsprüfer, Unternehmensberater und Analysten, alle schauen auf die Magie einer recht überschaubaren Reihe von Zahlen. Eine Lösung wird häufig in derselben Logik gesehen: Man kreiert noch mehr Zahlen. »Kennzahlen müssen her«, heißt dann die Devise. Der Effekt ist, man erfasst noch mehr desselben. Dynamische und qualitative Aspekte bleiben weiter außen vor. Es gilt eine bessere Landkarte für Unternehmenssysteme zu finden.

      [KRISE DES BENCHMARKING] Auch die bisher herrschenden deutlich auf die Aufbaustrukturen ausgerichteten Beschreibungen für Unternehmen wie die Kästchen des Organigramms haben sich als wenig aussagefähig erwiesen. Sie geben scheinbar ein vergleichbares Bild einzelner Teile des Unternehmens wieder. Beunruhigenderweise scheint es keine idealtypische Organisationsform zu geben. Die Methode des Benchmarking kommt in die Krise. Das Schielen nach dem anderen, dem Optimalen ist nur eine Kerze im Nebel der Komplexität. Der Erfolg einer Organisation scheint relativ unabhängig von beispielsweise Zentralisierung oder Dezentralisierung zu sein. Wirkliche Entwicklungen in eine erfolgreiche oder nicht erfolgreiche Richtung liegen nicht auf dieser Ebene. Viel interessanter ist: Wie kommt die Struktur zustande und welche Dynamiken stehen dahinter?

       Spürbare Dimensionen

      In Bezug auf Organisationssysteme gilt es, die für die Menschen wirksamen Dimensionen zu erfassen. [DIE LEBENSENERGIE EINES UNTERNEHMENS] Die hier vorgestellten Dimensionen richten dabei den Fokus auf die tatsächliche Situation der Lebensenergie eines Unternehmens. Es geht um die für Menschen direkt spürbaren, erfahrbaren und dadurch entscheidenden Fragen:

      – Worauf richten die Menschen tatsächlich ihre Energie und Aufmerksamkeit?

      – Wie wirken sich die Menschen und die Beziehungen aus?

      – Wie schafft die Firma die Verbindung zu den Bewegkräften der Menschen?

      – Wie geht man mit veränderten Szenarien um?

       Bewegungskräfte

      Die zentralen Aspekte einer Unternehmensorganisation sind die Bewegungskräfte. Struktur, Abläufe und Dimensionen der »weichen Daten«(wie Kultur, Kommunikation, Leistungsmotivation) sind nicht statisch, sondern in Bewegung begriffen. Deshalb sind hier dynamische Kräfte am Werk. Dynamik zeigt Lebendigkeit an. [DYNAMISCHE DIMENSIONEN] Dabei bedeutet Dynamik keineswegs hektisches Zappeln und Strampeln. Sie kann eine ruhige, kraftvolle Bewegung sein. Sie kann aber auch eine schnelle Veränderung sein. Egal ob es sich um ein Großunternehmen, einen Handwerksbetrieb, eine politische Partei oder einen Fußballverein handelt, bestimmte Dynamiken sind im inneren Zusammenspiel immer wirksam. Die entscheidende Frage ist, wie auf ein Unternehmenssystem so Einfluss genommen werden kann, dass die Menschen tatsächlich ihre Ziele und Werte mit denen des Unternehmens verbinden können.

      Das Wort »Unternehmen« bezeichnet schon das Gegenteil von Stillstand. Es sollte etwas »unternommen« und nicht »unterlassen« werden. Die dynamischen Dimensionen im Organisationssystem betreffen das tatsächlich gelebte Leben in Unternehmen. Wohin wird die Aufmerksamkeit der Unternehmensangehörigen gelenkt? [LENKUNG DER AUFMERKSAMKEIT] Dies wird häufig im Kontrast der großen strategischen Vorgabe und dem konkreten Handeln – beispielsweise eines Mitarbeiters im direkten Kundenkontakt vor Ort – deutlich. So befassen sich Unternehmenslenker wie Vorstände und Geschäftsführer statistisch gesehen sehr viel mit taktisch-politischen Einzelfragen. Dabei machen diese nur ca. zehn Prozent des Erfolges aus, während die strategische Gesamtausrichtung zu fast 70 Prozent den Erfolg bestimmt (Schwaninger 2001).

      Dynamiken sind das, was ständig lebendig und in Veränderung begriffen ist. Dadurch liegen stetige Aufgabenfelder vor. Dies macht auch Führung zu einem kontinuierlichen Prozess der Einflussnahme auf dynamische


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