Systemisches Coaching. Bernd Schmid

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Systemisches Coaching - Bernd Schmid


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leicht das Gefühl beispielsweise »keinen Platz zu haben«. Die meisten Menschen wenden sich daher irgendwann ab oder sind in der Interaktion ebenfalls nicht wirklich anwesend: »Ich lasse Sie einfach reden …«. Manche treten auch in eine Mit-Hektiker-Dynamik ein. Ihr Gefühl, im Kontakt mit dem Hektiker keinen Platz zu haben und Wichtiges nicht unterbringen zu können, führt dazu, selbst auch hektische Verhaltensmuster zu zeigen. Der Versuch, Ruhe in die Situation zu bringen, wird mit verstärkter Hektik beantwortet, da dies die Angst, etwas zu verpassen, steigert.

      1.6.3 Emotionale Dynamik, Wirklichkeitslogik und Beziehungsmuster

      Hektikerinnen trauen sich in wichtigen Situationen nicht, ihr Wesen im Kontakt hindurchtönen zu lassen, weil sie glauben, dass dafür keine Zeit ist oder sich niemand dafür interessiert. Bietet sich dann eine Gelegenheit, versuchen sie ganz schnell ganz viel auszudrücken, weil sie davon ausgehen, dass der Adressat sowieso nicht lange zuhören wird. Die natürliche Reaktion des Gegenüber ist, das Interesse zu verlieren. Der »Beeil-dich-Mensch« wird als nicht anwesend erlebt und lädt daher nicht ein, selbst anwesend zu sein.

      Grundgefühl der »Beeil-dich-Menschen« ist es, Wesentliches zu verpassen. Sie haben Angst, das Leben zerrinne oder eine Gelegenheit gehe vorbei, bevor etwas ihnen Wichtiges möglich war. Sie versuchen dann im Moment zu packen, was sie kriegen können, so viel zu erzählen wie nur möglich usw. Folglich bleibt keine Zeit, zu atmen oder im Gespräch auf die Reaktionen des Gegenüber zu achten oder gar darauf zu hören, was dieser zu sagen hat.

      Wesentliches glauben sie dadurch zu erreichen, dass sie ihm nacheilen. Erfüllt-Sein wird ersetzt durch Schnell-Sein, Viel-Tun, Aufgeregt-Sein. Dort, wo »Anwesenheit« verlangt ist, um Wesentlichkeit zu spüren, führt die Art und Weise, wie sie dem nacheilen aber gerade dazu, dass sie das Wesentliche verpassen. Was ihnen fehlt ist, Wesentliches zu erleben, sich dafür die angemessene Zeit zu nehmen und andere daran teilhaben zu lassen. Je mehr Energie sie verbrauchen, um etwas nachzujagen, desto mehr schneiden sie sich von den Ressourcen, von der Ruhe ab, die eigentlich nötig wären. Das führt wiederum nicht zu einem Innehalten, sondern zu noch mehr Hektik.

      Die »Beeil-dich-Dynamik« wird selbst mehr und mehr zu einer Kompensation für fehlenden Sinn und Erfüllung des Daseins. Diese Lebensform ständig erhöhter Aktivierung kann einen Suchtcharakter bekommen, so dass auch Situationen, die eigentlich mit innerer Anwesenheit in Ruhe durchlebt werden könnten, zu Hektiksituationen werden. Ihre Feuerwache ist immer in Alarmbereitschaft, auch wenn es nirgends brennt.

      Hektik kann zur agitierten Depression werden, d.h. eine hektische Form, zunehmende innere Entleerung zu verwalten. Das kann bis zu abrupten Zusammenbrüchen führen. Oft wählen sich Hektiker aber kleinere Aus-stiege, werden krank, betrinken sich oder brechen sich ein Bein, damit sie entspannen müssen.

      1.6.4 Antithesen zum »Beeil-dich-Antreiber«

      Aus der Grundfurcht des Hektikers, Wesentliches im Leben zu verfehlen, leitet sich auch die Hauptberatungsstrategie ab. Der Coach muss eine Idee, ein Gefühl entwickeln, was dem »Beeil-dich-Menschen« wichtig ist, und mit ihm gemeinsam erfolgversprechende Wege konzipieren, dies zu verfolgen.

      Diese Menschen brauchen im Kontakt das Gefühl, dass der Coach etwas von dem versteht, was ihnen wesentlich ist. Nur wenn sie die Idee haben, dass sie mehr von dem bekommen, was sie suchen, wenn sie sich führen lassen, entspannen sie sich und können ihr hektisches Agieren loslassen. So können sie die Erfahrung machen, dass – obwohl weniger gesprochen wurde – ein Gewinn entstanden ist, und diese Haltung in andere Situationen übernehmen.

      »Beeil-dich-Menschen« sind auch oft mit der einfachen Intervention zu beruhigen: »Ich höre dir zu«. Das müssen sie öfter hören, um es zu glauben. »Ich höre dir gern zu, nimm dir Zeit.« Und wenn sie fürchten nicht zu Ende zu kommen »Es ist OK, jetzt einen Teil von dem zu erzählen, was dir wichtig ist und zu einem anderen Zeitpunkt wieder dranzukommen«. Demgegenüber stellen die Gesprächsstrategien, das Tempo mitzugehen, als auch Versuche, zu bremsen nach dem Motto: »Jetzt seien Sie erst mal ganz ruhig«, für den Hektiker keine annehmbaren Lösungen dar.

      Eine Schwierigkeit kann sich im Coaching auch dann ergeben, wenn Hektikerinnen im Entspannungszustand beginnen, den depressiven Anteil der Dynamik zu spüren. Hier kann zum einen hilfreich sein, den »Hektik-Entzug« zu planen bzw. etwas zu suchen, was in Maßen anregend ist und doch langsam zur Ruhe kommen lässt. Zum anderen kann dieser depressive Zustand auch als normale Entlastungsreaktion gedeutet werden, ein temporärer Erschöpfungszustand, der sich mit der Zeit und bei angemessener Begleitung wieder normalisiert.

      Die Erlaubnis für Hektikerinnen lautet: »Du darfst dir Raum und Zeit nehmen. Schau, was für dich lebenswerte Zeit oder eine lebenswerte Arbeitswelt ist. Du darfst herausfinden, was dir wesentlich ist, du darfst daran glauben, dass andere dir zuhören können, wenn du dich traust, anwesend zu sein, in dem, was du sagst.« Manchmal muss diese Erlaubnis auch als Anweisung gegeben werden, wenn solche Menschen auf Erlaubnisse nicht mehr reagieren.

      1.6.5 Ressourcen des »Beeil-dich-Antreibers«

      »Beeil-dich-Menschen« können kurzfristig auf hohem Aktivationsniveau leistungsfähig bleiben und dies auch bei hoher Situationskomplexität. Sie entwickeln sogar eine gewisse Lust, auf diesem Niveau zu leisten. Diese Menschen wünscht man sich auf der Notfallstation oder bei Crashs im EDV-System. Die Deeskalation und »Erlösung« aus der Dynamik führt zu einer reif entwickelten Tugend. Der Unterschied der erlösten Position zur Antreiberdynamik liegt darin, dass das »erlöste« Verhalten nicht mehr in der »OK, wenn«-Logik steht. Es kann vielmehr kontextspezifisch gewählt werden: »Ich kann mich entscheiden, ob und wann ich mich beeile.«

      1.6.6 Konterdynamik »Jetzt erst mal langsam!«

      Kontrahektiker sind Menschen, die auch fürchten, dass ihnen das Wesentliche verloren geht. Sie geraten aber v.a. im Kontakt mit Hektikern reflexhaft in eine verharrende Haltung: »Jetzt erst mal langsam«. Der Hektiker neigt zum Eilen, wenn er glaubt, Wesentliches zu verfehlen, der Kontrahektiker zum Bremsen, insbesondere wenn er fürchtet, durch die Hektik anderer angesteckt zu werden. Beide leben in der gleichen Welt, nur mit verteilten Rollen. Kontrahektiker sind am ehesten daran zu erkennen, dass man beginnt den Hektikerpart zu spielen. Beide brauchen die Zuversicht, zum Wesentlichen zu kommen, um dies in angemessener Dynamik zu tun.

      1.7 Systemische Beratungsstrategien bei Antreiber-Dynamiken

      Die Dienstleistung systemischer Beratung besteht darin, Unterschiede zu generieren, die für Klienten einen Unterschied machen. Eine der wichtigsten Voraussetzungen hierfür ist aus wirklichkeitskonstruktiver Perspektive, nicht in die Antreiberwirklichkeit des Klienten einzutreten, sondern die einengenden Wirklichkeits- und Beziehungsgewohnheiten des Klienten in Frage zu stellen (Schmid 1987, siehe Lit. Kap. 1, 4) bzw. eine antreiberarme Atmosphäre zu schaffen.

      Eine Art, weiterführende Wirklichkeiten zu stimulieren, wird in der systemischen Beratung durch die Art der Befragung erreicht. Dabei werden durch vielfältige Fragetechniken alte Wirklichkeitsgewohnheiten der Klienten verstört und in einem gemeinsamen Kommunikationsprozess neue schöpferische Wirklichkeiten erzeugt. So kann etwa bei einer »Sei-perfekt-Dynamik« die Idee eingeführt werden, wie Menschen anders reagieren, wenn man ihnen mit der Haltung »Du darfst Fehler machen und aus ihnen lernen« begegnet.

      Eine ebenso effektive Beratungsstrategie besteht darin, auf der Ebene der Beratungsbeziehung einen Unterschied zu (er-)finden. Anknüpfend an die narrative Denkrichtung (vgl. Boeckhorst 1994, siehe Lit. Kap. 1, 1) könnte man sagen, dass sich nicht nur das »Was« der gemeinsamen Erzählung, sondern auch das »Wie« verändert. Der Coach gestaltet die Beratungsbeziehung in einer Art und Weise, die zu Beziehungs- oder Wirklichkeitsgewohnheiten des Klienten einen Unterschied macht. Er erzählt nicht nur davon, dass man Fehler machen und daraus lernen darf, sondern inszeniert diese Idee gleichzeitig in der Beratungsbeziehung.

      Die Herausforderung besteht darin, dass der Klient den Coach einlädt, in seinem alten Stück, seinen gewohnten Beziehungs- oder Wirklichkeitsgewohnheiten


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