Von der Erde zum Mond. Jules Verne
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VON DER
ERDE
ZUM
MOND
JULES VERNE
MIT DEN ILLUSTRATIONEN DER ORIGINALAUSGABE
Mit den Illustrationen der
französischen Originalausgabe des
Verlages J. Hetzel & Cie.
Nach der deutschen Übersetzung des
A. Hartleben’s Verlages (1874-1911)
der neuen Rechtschreibung angepasst.
Leicht bearbeitet durch den Wunderkammer Verlag.
© 2013 Nikol Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG,
Hamburg
Alle Rechte, auch das der fotomechanischen Wiedergabe
(einschließlich Fotokopie) oder der Speicherung auf
elektronischen Systemen, vorbehalten.
All rights reserved.
Titelabbildung: akg-images, Berlin
Umschlag: Timon Schlichenmaier, Hamburg
ISBN: 978-3-86820-956-3
ERSTES KAPITEL
Der Gun-Club[1]
M
ährend des Bundeskrieges der Vereinigten Staaten bildete sich in Baltmore in Maryland ein neuer Club von großer Bedeutung. Es ist bekannt, wie energisch sich bei diesem Volk von Reedern, Kaufleuten und Mechanikern der militärische Instinkt entwickelte. Einfache Kaufleute brauchten nur in ihrem Comptoir auf und ab zu schreiten, um unversehens Hauptleute, Obristen, Generäle zu werden, ohne die Militärschule in Westpoint absolviert zu haben. Bald standen sie in der ›Kriegskunst‹ ihren Kollegen der Alten Welt nicht nach und verstanden gleich diesen durch das Vergeuden von Kugeln, Millionen und Menschen, Siege zu erringen.
Aber in der Ballistik übertrafen sie die Europäer ganz außerordentlich. Sie bauten Geschütze nicht allein von höchster Vollkommenheit, sondern auch von ungewöhnlicher Größe, die folglich eine noch unglaublichere Reichweite haben mussten. Im Bezug auf die Schießkunst konnte man den Engländern, Franzosen und Preußen nichts mehr lehren, aber ihre Kanonen, Haubitzen und Mörser waren nur Sackpistolen gegen die fürchterlichen Maschinen der amerikanischen Artillerie.
Das war aber nicht zum Verwundern. Die Yankees, die ersten Mechaniker auf der Welt, waren geborene Ingenieure, wie die Italiener Musiker und die Deutschen Metaphysiker. Es war daher ganz natürlich, dass sich ihre kühne Genialität in ihrer Geschützkunde zu erkennen gab. Daher jene Riesenkanonen, die zwar weit weniger nützten als die Nähmaschinen, doch ebenso viel Staunen und noch mehr Bewunderung erregten. Bekannt wurden von solchen Wunderwerken die Parott, Dahlgreen, Rodman. Die Armstrong, Palliser, Treuille de Beaulieu mussten vor ihren überseeischen Rivalen die Segel streichen.
Daher standen denn auch während des fürchterlichen Kampfes der Nord- und Südstaaten die Artilleristen im allerhöchsten Ansehen. Die Journale der Union priesen ihre Erfindungen mit Enthusiasmus, und es gab keinen armseligen Krämer, keinen einfältigen Buben, der sich nicht den Kopf mit unsinnigen Schussberechnungen zerbrach.
Wenn aber einem Amerikaner eine Idee im Kopfe steckt, so sucht er sich einen zweiten Amerikaner, um sie zu teilen. Sind ihrer Drei, so wählen sie einen Präsidenten und zwei Sekretäre. Vier, so ernennen sie einen Archivisten und das Bureau wird aktiv. Bei Fünfen berufen sie eine Generalversammlung ein und der Club ist fertig. So ging es auch in Baltimore. Einer erfand eine Kanone, verbündete sich mit einem, der sie goss, und einem anderen, der sie bohrte. Aus einer solchen Kerngruppe erwuchs auch der Gun-Club. Einen Monat nach seiner Bildung zählte er 1.833 wirkliche Mitglieder und 30.575 passive.
Unerlässliche Bedingung für jedes Mitglied des Clubs war, dass man eine Kanone oder mindestens irgendeine Feuerwaffe erfunden oder zumindest verbessert hatte. Aber offen gesagt, die Erfinder von Fünfzehn-Schuss-Revolvern, von Pivot-Karabinern oder Säbelpistolen genossen kein großes Ansehen. Die Artilleristen behaupteten in jeder Hinsicht den ersten Rang.
»Die Achtung, welche sie genießen«, sagte einmal einer der gescheitesten Redner des Gun-Clubs, »steht im Verhältnis zur Masse ihrer Kanonen, und zwar in direktem Maßstab zum Quadrat der Distanzen, welche ihre Geschosse erreichen.«
Und darüber hinaus verpflanzte sich das newtonsche Gravitationsgesetz in die moralische Welt.
Man kann sich leicht vorstellen, was das erfinderische Genie der Amerikaner in dieser Hinsicht zutage förderte, nachdem der Gun-Club einmal gegründet war. Die Kriegsmaschinen nahmen einen kolossalen Maßstab an und die Geschosse flogen weit über die ihnen gesteckten Ziele hinaus, um harmlose Spaziergänger zu zerreißen. All diese Erfindungen ließen die schüchternen Werkzeuge der europäischen Artillerie weit hinter sich. Man urteile aus folgenden Zahlen.
Einst, ›wenn es gut ging‹, vermochte ein Sechsunddreißigpfünder auf eine Entfernung von dreihundert Fuß sechsunddreißig Pferde von der Seite her zu durchbohren und dazu achtundsechzig Mann. Die Schießkunst lag damals noch in der Wiege. Seitdem hat sie Fortschritte gemacht. Die Rodman-Kanone, die eine Kugel von einer halben Tonne[2] sieben (engl.) Meilen weit schleuderte, hätte leicht hundertundfünfzig Pferde und dreihundert Mann niedergeworfen. Es war im Gun-Club gar die Rede davon, eine förmliche Probe damit anzustellen. Aber ließen es sich die Pferde auch gefallen, das Experiment zu machen, an Menschen fehlte es leider.
Wie dem auch sei, diese Kanonen leisteten Mörderisches, und bei jedem Schuss fielen die Menschen wie die Ähren unter der Sense. Was wollte neben solchen Geschossen die berühmte Kugel zu Coutras bedeuten, welche im Jahre 1587 fünfundzwanzig Mann kampfunfähig machte, und die andere, welche bei Zorndorf 1758 vierzig Mann tötete, und 1742 bei Kesselsdorf die österreichische, die bei jedem Schuss siebzig Feinde niederwarf? Was war dagegen das erstaunliche Geschützfeuer bei Jena und Austerlitz, das die Schlachten entschied? Da gab es während des Bundeskrieges ganz andere Dinge zu schauen! Bei Gettysburg traf ein kegelförmiges Geschoss aus einer gezogenen Kanone dreiundsiebzig Feinde, und beim Übergang über den Potomak beförderte eine Rodmankugel zweihundertfünfzehn Südstaatler in eine ohne Zweifel bessere Welt. So verdient auch ein fürchterlicher Mörser, den J. T. Maston, ein hervorragendes Mitglied und beständiger Sekretär des Gun-Clubs, erfand, erwähnt zu werden. Seine Wirkung war noch mörderischer, denn beim Probieren tötete er dreihundertsiebenunddreißig Personen – freilich beim Explodieren!
Diese Zahlen legen kommentarlos ein beredtes Zeugnis ab. Auch wird man ohne Widerrede die folgende, vom Statistiker Pitkairn aufgestellte Berechnung gelten lassen: dividiert man die Anzahl der durch die Kugeln gefallenen Opfer mit der Zahl der Mitglieder des Gun-Clubs, so ergibt sich, dass auf Rechnung jedes Einzelnen des Letzteren durchschnittlich 2.375 Mann kommen, nebst einem Bruchteil.
Zieht man diese Zahlen in Betracht, so ist es offensichtlich, dass das Trachten dieser gelehrten Gesellschaft vor allem auf Menschenvernichtung und auf Vervollkommnung der Kriegswaffen gerichtet war. Es war ein Verein von Würgengeln, ansonsten aber die besten Menschenkinder der Welt.
Ferner muss man erwähnen, dass es diese Yankees von erprobter Tapferkeit nicht beim Reden bewenden ließen, sondern persönlich für ihre Ideen eintraten. Man zählte unter ihnen Offiziere jeden Grades vom Lieutenant bis zum General, Militärpersonen jeden Alters, Anfänger im Kriegsdienst und an der Lafette ergraute Männer. Manche fielen auf dem Schlachtfeld und ihre Namen wurden ins Ehrenbuch des Gun-Clubs eingetragen, und von denen, welche davonkamen, trugen die meisten Zeichen ihres unzweifelhaften Heldentums an sich: Krücken, hölzerne Beine, künstliche Arme, Haken statt der