Das Karpatenschloss. Jules Verne
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DAS
KARPATEN
SCHLOSS
JULES VERNE
MIT DEN ILLUSTRATIONEN DER ORIGINALAUSGABE
Mit den Illustrationen der
französischen Originalausgabe des
Verlages J. Hetzel & Cie.
Nach der deutschen Übersetzung des
A. Hartleben’s Verlages (1874-1911)
der neuen Rechtschreibung angepasst.
© 2014 Nikol Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG,
Hamburg
Alle Rechte, auch das der fotomechanischen Wiedergabe
(einschließlich Fotokopie) oder der Speicherung auf
elektronischen Systemen, vorbehalten.
All rights reserved.
Titelabbildung: Bridgeman Art Library, Berlin
Umschlag: Timon Schlichenmaier, Hamburg
E-Book Erstellung: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH
ISBN: 978-3-86820-958-7
ERSTES KAPITEL
D
ie nachfolgende Erzählung ist nicht fantastischer, sie ist nur romantischer Art. Es würde ein Irrtum sein, wegen ihrer Unwahrscheinlichkeit zu glauben, dass sie nicht wahr wäre. Wir leben in einer Zeit, wo Alles möglich ... ja man wäre berechtigt zu sagen, wo Alles schon vorgekommen ist. Wenn unsere Erzählung heute auch nicht wahrscheinlich sein sollte, so ist sie es vielleicht schon morgen, Dank den wissenschaftlichen Hilfsmitteln, die sich der Zukunft bieten, und dann würde es Niemand in den Sinn kommen, sie als sagenhaft zu bezeichnen. Heute, nahe dem Abschlusse des so praktischen, so positiven neunzehnten Jahrhunderts, entstehen übrigens keine Sagen mehr, weder in der Bretagne, dem Gebiete der wilden Korrigans, noch in Schottland, der Heimat der Brownies (Heinzelmännchen) und der Gnomen; weder in dem sagenumwobenen Norwegen, dem Vaterlande der Asen, Elfen, Sylphen und Walküren, noch auch in Transsilvanien (Siebenbürgen), wo die mächtige Kette der Karpaten für Geisterbeschwörungen und Geistererscheinungen einen so günstigen Boden bietet, obwohl wir hierzu die Bemerkung nicht unterdrücken dürfen, dass gerade im transsilvanischen Lande der Aberglaube früherer Zeiten noch in üppiger Blüte steht.
Gerando hat dieses entlegene Gebiet Europas beschrieben, Elisée Reclus hat es besucht. Beide erwähnen nichts von den Vorkommnissen, worauf unsere Erzählung beruht. Vielleicht hatten sie davon Kenntnis, wollten ihnen aber keinen Glauben beimessen. Das ist schon deshalb zu bedauern, weil der Eine diese Ereignisse mit der Verlässlichkeit des Geschichtsschreibers wiedergegeben, der Andere sie mit dem unbewussten poetischen Schwunge geschildert hätte, der seine Reiseberichte so vorteilhaft auszeichnet.
Da das also beide unterlassen haben, will ich versuchen, es für sie zu tun.
Am 29. Mai eines der letzten Jahre hütete ein Schäfer seine Herde am Rande eines grünen Wiesenplans am Fuße des Retyezat, der ein mit geradästigen Bäumen besetztes und mit reichen Ackerfeldern geschmücktes Tal überragt. Über jene offene, ganz schutzlose Hochfläche streichen zur Winterszeit die Galernen, das sind die scharfen, schneidenden Nordwestwinde, wie das Messer des Barbiers. Man sagt dann auch dort zu Lande, dass die Höhe sich – und zuweilen sehr glatt – »rasiert«.
Jener Schäfer zeigte in seinem Äußeren nichts arkadisches und auch nichts bukolisches in seiner Haltung. Es war kein Daphnis, Amyntas, Tityros, Lycidus oder Meliböus. Der Lignon murmelte nicht zu seinen mit plumpen Holzschuhen beschwerten Füßen; die walachische Sil war es, die mit ihrem klaren, frischen Gewässer würdig gewesen wäre, durch die Windungen des makedonischen Asträus zu fließen.
Frik, Frik aus der Dorfschaft Werst – so nannte sich der ländliche Hirt – von Person ebenso vernachlässigt wie seine Tiere, schien wie geschaffen, mit in dem am Eingange des Dorfes errichteten schmutzigen Neste zu wohnen, in dem auch seine Schafe und Schweine in empörendem Schlamm und Unrat hausten, wie das übrigens für alle Schäfereien des Comitats gleichmäßig zutrifft.
Das »immanum pecus« weidet also unter der Obhut des genannten Frik ... »immanior ipse«. Auf einem Haufen zusammengetragenen Grases ausgestreckt, schlief er mit dem einen und wachte mit dem anderen Auge, immer die dicke Tabakspfeife im Munde; nur dann und wann rief er seine Hunde an, wenn sich ein Lamm zu weit von dem Weideplatze verirrte, oder ließ er einen schrillen Pfiff ertönen, den das Echo von den Bergwänden vielfach wiederholte.
Es war jetzt vier Uhr Nachmittags. Die Sonne begann zu sinken. Einzelne Felsengipfel im Osten, deren Fuß sich in wallenden Dunstwolken badete, erglänzten schon im Abendlichte. Nach Südwesten zu ließen zwei Lücken der Bergkette ein schräges Strahlenbündel hereinfallen, so wie ein Lichtstreifen durch wenig geöffnete Türen dringt.
Das Gebirgssystem der Gegend gehörte zu dem wildesten Teile Transsilvaniens, der im Comitat Klausenburg oder Kolosvar zu suchen ist.
Ein merkwürdiges Bruchstück des österreichischen Kaisertums, dieses Transsilvanien, das »Erdely« in magyarischer Sprache, d. h. »das Land der Wälder«. Nach Norden und nach Westen zu wird es von Ungarn begrenzt; im Süden berührt es die Walachei und im Osten die Moldau. Bei einer Oberfläche von sechzigtausend Quadratkilometern oder sechs Millionen Hektaren – d. i. fast dem zehnten Teile der österreichisch-ungarischen Monarchie – erscheint es als eine Art Schweiz, ist aber, obwohl um die Hälfte größer als der helvetische Staatenbund, doch nicht volkreicher als jene. Mit seinen dem Ackerbau erschlossenen Hochebenen, den üppigen Weideflächen, den nach allen Richtungen hin streichenden Tälern und seinen schroff aufstrebenden Felsriesen, wird Transsilvanien, das die vielen plutonischen Höhenzüge der Karpaten fast überall streifig bedecken, von zahlreichen Wasserläufen durchzogen, von Zuflüssen der Theiß und der stolzen Donau, in der das sogenannte Eiserne Tor wenige geografische Meilen weiter im Süden den Abfall der Balkankette zwischen der Grenze Ungarns und des osmanischen Reiches verschließt.
So erscheint das Bild des alten Daciens, das Trajan im ersten Jahrhundert der christlichen Zeitrechnung eroberte. Die Unabhängigkeit, deren es sich unter Johann Zapoly und dessen Nachfolgern bis zum Jahre 1699 erfreute, hatte ein Ende mit Leopold I., der das Gebiet dem der österreichischen Kronländer einverleibte. Trotz veränderter politischer Verhältnisse ist es aber stets der Wohnsitz verschiedener Rassen geblieben, die hier mit einander in Berührung stehen, doch nicht verschmelzen, die Heimat von Walachen oder Rumänen, von Ungarn, Zigeunern, Szeklern moldauischer Abstammung, und auch von Sachsen, die durch Zeit und Umstände sich zu Gunsten der transsilvanischen Einheit doch schließlich »magyarisieren« dürften, so hartnäckig sie bisher auch ihre Stammeseigentümlichkeit behaupteten.
Welchem Typus der Schäfer Frik angehörte und ob er etwa ein entarteter Nachkomme der alten Dacier war, das hätte man angesichts seines wirren Haarschopfes, des nicht gerade sauberen Antlitzes, des struppigen Bartes, der dichten, wie aus rötlichen Borsten gebildeten Augenbrauen und der zwischen grün und blau schillernden, stechenden, doch am Hornhautrande schon den sogenannten Greisenbogen zeigenden Augen des Mannes nur schwer bestimmen können. Dass er bereits fünfundsechzig Jahre zählte, konnte man schon leichter sehen. Dabei war er groß, sehnig und hielt sich straff unter dem weichen Filzhute, der freilich weniger Haare zeigte als seine halb entblößte Brust – kurz, ein Maler würde ihn, wenn er so, auf den langen Stab mit Krähenschnabelgriff gestützt, unbeweglich wie ein Felsen dastand, gewiss gern als Modell benutzt haben.
Als die Sonnenstrahlen sich durch die Berglücke im