Tödlicher Spätsommer. Ursula Dettlaff
Читать онлайн книгу.Büro und wandte sich unter anderem Computerspielen zu.
Während Helene die Warensendung mit der Bestellliste abglich, klingelte zum ersten Mal die kleine Glocke an der Ladentür.
Ein Freund von Heiner kam herein und für die nächsten beiden Stunden ereiferten sich die Männer über Fehlpässe, verpasste Torchancen und falsche Schiedsrichterentscheidungen, die alles in allem unweigerlich zur schmählichen Niederlage der Borussia geführt hatten.
„Na, und bei dir alles wie immer?“, fragte der Besucher, als Helene eben eine leere Bücherkiste ins Lager zurückstellte.
„Ach, du kennst doch Helene. Die beschäftigt sich immer bloß mit demselben Thema“, nahm ihr Chef die Antwort vorweg. Helene selbst hielt es für besser zu schweigen.
Die erste Kiste enthielt Kinderbücher. Liebevoll gestaltete Bilderbücher, Fußballbücher für das erste Lesealter, Pferde und Tiergeschichten. Teenieromane und natürlich genügend Angebote für Eltern, die ihren Sprösslingen schon im Kindergartenalter Schreiben und Rechnen beibringen wollten.
Um 15 Uhr kam der Dekorateur. Helene legte schon einmal eine bunte hölzerne Raupe und verschieden hohe Regale bereit. Drüben an der Kasse hatte Annette Mühe, die Kunden relativ schnell zu bedienen.
„Macht 19,80 €. Hätten Sie vielleicht 30 Cent? Dann gebe ich Ihnen 50 zurück“, erkundigte sie sich gerade, als Helene die nächste Kiste in den Laden holte.
Strandlektüre, Thriller, Sience-Fiction und Biografien. Einen Teil der Bücher räumte Helene in die Regale. Einzelne Exemplare legte sie auf die Theke.
„Kennen Sie das?“ fragte ein Kunde, als Helene gerade den Strandliegestuhl aus dem Keller nach oben trug.
„Frag´ nicht nach ihr“ von Carlene Thompson. „Ja“, gab sie zurück. „Ich lese gern Romane dieser Autorin.
„Anders als in manchen TV-Krimis denke ich dabei nicht die ganze Zeit ,Na, war doch klar‘. Schließlich ist er oder sie mir die ganze Zeit so merkwürdig vorgekommen. Vielmehr wandeln sich die Dinge schleichend. Das Ende ist dann irgendwie logisch.“
Dem Kunden schien die Inhaltsangabe zu gefallen. Er nahm das Buch, ging ohne eigenes Blättern zur Kasse, zahlte und Helene sah, dass er gegenüber an der Bushaltestelle stehen blieb und in Richtung Düsseldorfer Straße schaute.
Der Wagen des Dekorateurs parkte vor dem Laden. Der Mann trug einen sperrigen, ziemlich großen Karton ins Geschäft und stellte ihn neben dem Liegestuhl ab.
„Haben Sie jetzt etwas Zeit für die neue Deko?“ erkundigte er sich freundlich, während er Helene die Hand gab.
Eigentlich wollte sie sich gerade eine Tasse Tee aufbrühen. „Trinken Sie vorher einen Tee mit mir?“, gab sie zurück. „Lieber was kaltes, Cola oder Wasser“, kam die Antwort. Die Beiden kannten sich seit vielen Jahren und tauschten gern kreative Ideen aus.
Viele Gestaltungsvorschläge hatte sie in der Vergangenheit mit Jutta besprochen. Die griff ihrerseits gern den einen oder anderen Tipp auf.
Über die Jahre wechselten der Dekorateur und Helene auch gelegentlich ein privates Wort. „Olala, Helene. Den hast du ja mal wieder ganz schön angebaggert. „Der ist nicht zum Teetrinken, sondern zum Arbeiten bestellt“, mokierte sich Heiner später.
„Du zahlst ihm eine monatliche Pauschale. So steht`s im Vertrag“, stellte Helene klar. „Ach, echt, weiß ich nichts von. Vielleicht sollten wir sie kürzen.“
Keine gute Idee, fand Helene. Immerhin handelte es sich bei einigen Dekorationsstücken lediglich um Leihgaben. Dieser Deal sparte nicht nur Geld, sondern auch spätere Lagerfläche.
Das neu gestaltete Schaufenster erwies sich, kaum dass der letzte Handgriff erledigt war, als sprichwörtlicher Hingucker. Viele Passanten blieben stehen und nicht wenige betraten nach einem kurzen Blick auf die Titel den Laden, um die „Neuentdeckung“ zu erwerben.
Helene gefiel die scheinbar ungewollte Anordnung der Bücher ebenfalls. Mal als Stapel auf dem Boden, mal ein Einzelexemplar im Regal. Einige Regale ließen den Blick in den Laden zu. Andere lehnten an der zartgrünen Rückwand.
Unvermittelt merkte Helene plötzlich, dass sie den ganzen Tag noch nicht an Jutta gedacht hatte. Tränen schossen ihr in die Augen. Müdigkeit und das Alter, dachte sie. Mit 50, so hörte sie immer wieder, spielen langsam aber sicher die Hormone verrückt. Da wird Frau leicht zur Heulsuse.
Heute war sie mit dem Auto zur Arbeit gekommen. Zwei- vielleicht dreimal pro Woche machte sie das so. Statt vom Laden aus direkt nach Hause zu fahren, entschied sie sich für einen Abstecher zum Schwimmbad. Die Tasche mit den nötigen Utensilien lag immer im Auto. Einfach nur ein paar Bahnen ziehen. Manchmal half das, die Gedanken zu ordnen.
Oft allerdings wollte sie sich am liebsten nur verkriechen, dasitzen, nichts tun und mit niemandem reden.
Der Wecker klingelte um halb sieben wie immer. Gerade am freien Tag hielt Helene an klaren Strukturen fest. Dazu gehörte das Einschalten der Waschmaschine vor dem Frühstück, damit die Sachen aufgehängt werden konnten, bevor sie das Haus verließ.
Vorher noch die Einkaufsliste zusammenstellen. Instinktiv legte sie einen kleinen Notizblock und ihren Füller in die Handtasche. Man konnte nie wissen.
Für Lachs und die kleine Portion Walnusseis war es wohl am besten, die Tiefkühlbox mitzunehmen. Einen kleinen Frischkäsekuchen mit Erdbeerfüllung zu bevorraten, konnte ebenfalls nicht schaden.
Helene war, als habe soeben jemand geklingelt. Sie brauchte nur die Tür zu öffnen und Jutta stünde vor ihr. Na bestens, dachte sie, während sie laut in ihr Taschentuch schnäuzte. Genau die richtige Stimmung für ein Gespräch mit Schumann.
Klare Fakten
Wie oft hatte sie in den vergangenen Monaten das Präsidium betreten. Am Anfang spürte sie lediglich eine große innere Leere und vor allem weiche Knie.
Verwundert nahm sie zur Kenntnis, dass das Leben um sie herum weiterging, als sei nichts geschehen. Die Straßenbahn rollte die Düsseldorfer Straße entlang. Autos surrten über das Kopfsteinpflaster.
Am unerträglichsten erschien Helenes herzliches Lachen.
Der Leere folgte die Wut auf die ermittelnden Beamten beider Länder. Von großem Interesse, den Fall aufzuklären, konnte keine Rede sein. Alles sah nach einem ganz normalen Unfall aus, wie er im Jahr tausendfach vorkommt. Bedauerlicherweise mit tödlichem Ausgang, zugegeben. „Das ist für die Hinterbliebenen schlimm“, meinte Schumann zur Begrüßung.
Er war von seinem Schreibtischstuhl aufgestanden, um der Frau entgegen zu gehen und ihr die Hand zu reichen. Im Laufe der Zeit hatte der Oberkommissar seine Meinung über die „eiserne Jungfrau“ wie Helene im ganzen Präsidium genannt wurde, geändert.
Zwar ging ihm noch immer ihre Beharrlichkeit gründlich auf die Nerven. Noch dazu diese Unterstellung, man sei untätig gewesen. Was dachte sich diese Tussi dabei? Wie sollte ein so kleiner Stab von Mitarbeitern so viele Fälle aufklären?
Vor allem der Vorwurf, nicht jeder erdenklichen Spur mit der nötigen Sorgfalt nachgegangen zu sein, wurmte ihn ziemlich.
Ein Ferienhaus ist nun mal nicht so gegen Einbruch gesichert, wie ein Bankgebäude. Muss es aber auch nicht. Vermutlich gab es ganz logische Erklärungen für die wenigen verbliebenen Ungereimtheiten, obwohl, die Spurensicherung an der Türklinke, der Spüle und dem Kühlschrank beispielsweise überhaupt keine Fingerabdrücke sicherstellen konnte, war bestimmt mit der kurzen Zeit erklärbar, die die Tote in dem Haus verbracht hatte. Sie muss einen Reinlichkeitstick gehabt haben.
Schumann warf noch einmal einen Blick auf die Tatortfotos. Auf dem Tisch im Wohnzimmer stand ein Glas, in dem sich ein Rest Saft befand, daneben ein Teller mit Brotkrümeln. Alles verschimmelt, was mit der Zeit, in der die Sachen unbenutzt dastanden, erklärbar war.
Im Kühlschrank fanden die dänischen Kollegen die angebrochene Saftflasche, Käse, verschiedene Aufstriche und Brot.