Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. Johann Gottfried Herder
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Johann Gottfried Herder
Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit
Herausgegeben von Hans-Dietrich Irmscher
Reclam
Gonthier-Louis Fink gewidmet
1990, 2021 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2021
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-961907-1
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-014221-9
Titelseite des Erstdrucks
[7]Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit
Erster Abschnitt
Je weiter hin es sich in Untersuchung der ältsten Weltgeschichte, ihrer Völkerwandrungen, Sprachen, Sitten, Erfindungen und Traditionen aufklärt:a desto wahrscheinlicher wird mit jeder neuen Entdeckung auch der Ursprung des ganzen Geschlechts von Einem. Man nähert sich immer mehr dem glücklichen Klima, wo ein Menschenpaar unter den mildesten Einflüssen der schaffenden Vorsehung, unter Beistande der erleichterndsten Fügungen rings um sich her den Faden anspann, der sich nachher mit solchen Wirrungen weit und lang fortgezogen: wo also auch alle ersten Zufälle für Anstalten einer mütterlichen Vorsehung gelten können, einen zarten Doppelkeim des ganzen Geschlechts mit alle der Wahl und Vorsicht zu entwickeln, die wir immer dem Schöpfer einer so edeln Gattung und seinem Blick auf Jahrtausend und Ewigkeit hinaus zutrauen müssen.
Was waren diese Neigungen? Was sollten sie sein? Die natürlichsten, stärksten, einfachsten! für alle Jahrhunderte der Menschenbildung die ewige Grundlage: Weisheit statt Wissenschaft, Gottesfurcht statt Weisheit, Eltern-, Gatten-, Kindesliebe statt Artigkeit und Ausschweifung, Ordnung des Lebens, Herrschaft und Gottregentschaft eines Hauses, das Urbild aller bürgerlichen Ordnung und Einrichtung – in diesem allen der einfachste Genuss der Menschheit, aber zugleich der tiefste – wie konnte das alles, ich will nicht fragen, erbildet, nur angebildet, fortgebildet werden, als – durch jene stille ewige Macht des Vorbilds, und einer Reihe Vorbilde mit ihrer Herrschaft um sich her? Nach unserm Lebensmaße wäre jede Erfindung hundertfach verlorengegangen; wie Wahn entsprungen und wie Wahn entflohen – welcher Unmündige sollte sie annehmen? welcher zu bald wieder Unmündige sie anzunehmen zwingen? Es zerfielen also die ersten Bande der Menschheit im Ursprung oder vielmehr damals so dünne kurze Fäden, wie hätten sie je die starken Bande werden können, ohne die selbst nach Jahrtausenden der Bildung das menschliche Geschlecht durch bloße Schwächung noch immer zerfällt? – Nein! mit frohem Schauer stehe ich dort vor der heiligen Zeder eines Stammvaters der Welt! Ringsum schon hundert junge blühende Bäume, ein schöner Wald der Nachwelt und Verewigung! aber siehe! die alte Zeder blüht noch fort, hat ihre Wurzeln weit umher und trägt den ganzen jungen Wald mit Saft und Kraft aus der Wurzel. Wo der Altvater auch [10]seine Kenntnisse, Neigungen und Sitten herhabe? was und wie wenig diese auch sein mögen? ringsum hat sich schon eine Welt und Nachwelt zu diesen Neigungen und Sitten, bloß durch die stille, kräftige, ewige Anschauung seines Gottesbeispiels gebildet und festgebildet! zwei Jahrtausende waren nur zwo Generationen.
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Indes auch von diesen heroischen Anfängen der Bildung menschlichen Geschlechts weggesehen: nach den bloßen Trümmern der weltlichen Geschichte und nach dem flüchtigsten Raisonnement über dieselbe à la Voltaire – welche Zustände können erdacht werden, erste Neigungen des menschlichen Herzens hervorzulocken, zu bilden, und festzubilden, als die wir schon in den Traditionen unsrer ältesten Geschichte würklich angewandt finden? Das Hirtenleben im schönsten Klima der Welt, wo die freiwillige Natur den einfachsten Bedürfnissen so zuvor oder zu Hülfe kommt, die ruhige und zugleich wandernde Lebensart der väterlichen Patriarchenhütte, mit allem, was sie gibt, und dem Auge entziehet, der damalige Kreis menschlicher Bedürfnisse, Beschäftigungen und Vergnügen, nebst allem, was nach Fabel oder Geschichte dazu kam, diese Beschäftigungen und Vergnügen zu lenken – man denke sich alles in sein natürliches, lebendiges Licht – welch ein erwählter Garten Gottes zur Erziehung der ersten, zartesten Menschengewächse! Siehe diesen Mann voll Kraft und Gefühl Gottes, aber so innig und ruhig fühlend, als hier der Saft im Baum treibt, als der Instinkt, der tausendartig dort unter Geschöpfe verteilt, der in [11]jedem Geschöpfe einzeln so gewaltig treibet, als dieser in ihn gesammlete stille, gesunde, Naturtrieb nur würken kann! Die ganze Welt ringsum, voll Segen Gottes: eine große, mutige Familie des Allvaters: diese Welt sein täglicher Anblick: an sie mit Bedürfnis und Genusse geheftet: gegen sie mit Arbeit, Vorsicht und mildem Schutze strebend unter diesem Himmel, in diesem Elemente Lebenskraft welche Gedankenform, welch ein Herz musste sich bilden! Groß und heiter wie die Natur! wie sie im ganzen Gange still und mutig! langes Leben, Genuss sein selbst auf die unzergliederlichste Weise, Einteilung der Tage durch Ruhe und Ermattung, Lernen und Behalten – siehe, das war der Patriarch für sich allein. – – Aber was für sich allein? Der Segen Gottes durch die ganze Natur, wo war er inniger als im Bilde der Menschheit, wie es sich fortfühlt und fortbildet: im Weibe für ihn geschaffen, im Sohn seinem Bilde ähnlich, im Gottesgeschlecht, das ringsum und nach ihm die Erde fülle. Da war Segen Gottes sein Segen: sein, die er regiert, sein, die er erzieht; sein die Kinder und Kindeskinder um ihn ins dritte und vierte Glied, die er alle mit Religion und Recht, Ordnung und Glückseligkeit leitet. – Dies das unausgezwungene Ideal einer Patriarchenwelt, auf welches alles in der Natur trieb: außer ihm kein Zweck des Lebens, kein Moment Behaglichkeit oder Kraftanwendung zu denken. – Gott! welch ein Zustand zu Bildung der Natur in den einfachsten, notwendigsten, angenehmsten Neigungen! – Mensch, Mann, Weib, Vater, Mutter, Sohn, Erbe, Priester Gottes, Regent und Hausvater, für alle Jahrtausende sollt’ er da gebildet werden! und ewig wird, außer dem tausendjährigen Reiche und [12]dem Hirngespinste der Dichter, ewig wird Patriarchengegend und Patriarchenzelt das goldne Zeitalter der kindlichen Menschheit bleiben.
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Dass nun zu dieser Welt von Neigungen selbst Zustände gehören, die wir uns aus einem Betruge unsrer Zeit oft viel zu fremde und schrecklich dichten, dürfte eine Induktion nach der andern zeigen. – Wir haben uns einen Despotismus des Orients aus den übertriebensten, gewaltsamsten Erscheinungen meist verfallender Reiche abgesondert, die sich mit ihm nur in ihrer letzten Todesangst sträuben (eben dadurch aber auch Todesangst zeigen!) – und da man nun nach unsern europäischen Begriffen (und vielleicht Gefühlen) von nichts Schrecklicherm als Despotismus sprechen kann: so tröstet man sich, ihn von sich selbst ab, in Umstände zu bringen, wo er gewiss nicht das schreckliche Ding war, das wir uns aus unserm Zustande an ihm träumen.b Mag’s sein, dass im Zelte des Patriarchen allein Ansehen, Vorbild, Autorität herrschte, und dass also, nach der aufgefädelten Sprache unsrer Politik, Furcht die Triebfeder dieses Regiments war – lass dich doch, o Mensch, vom Worte des Fachphilosophenc nicht irren, sondern siehe erst, was es denn für ein Ansehen, was für eine Furcht sei? Gibt’s nicht in jedem Menschenleben ein Alter, wo wir durch trockne und kalte [13]Vernunft nichts, aber durch Neigung, Bildung nach Autorität alles lernen? wo wir für Grübelei und Raisonnement des Guten, Wahren und Schönen kein Ohr, keinen Sinn, keine Seele; aber für die sogenannten Vorurteile und Eindrücke der Erziehung alles haben – siehe! diese sogenannte Vorurteile, ohne Barbara celarent aufgefasst und von keiner Demonstration des Naturrechts begleitet, wie stark, wie tief, wie nützlich und ewig! – Grundsäulen alles dessen, was später über sie gebaut werden soll, oder vielmehr schon ganz und gar Keime, aus denen sich alles Spätere und Schwächere, es heiße so glorwürdig als es wolle (jeder vernünftelt doch nur nach seiner Empfindung), entwickelt – also die stärksten, ewigen, fast göttlichen Züge, die unser ganzes Leben beseligen oder verderben; mit denen, wenn sie uns verlassen, uns alles verlässt – – Und siehe, was jedem einzelnen