Vernichten. Hansjörg Anderegg
Читать онлайн книгу.Zopf muss weg«, lag Chris auf der Zunge, doch sie hütete sich, die brutale Wahrheit nochmals auszusprechen. Mit Schrecken stellte sie fest, dass sie sich keinerlei Gedanken über den nächsten Schritt gemacht hatte, so fixiert war sie auf die Vorstellung, das strohblonde Teil loszuwerden, mit dem sie nicht zuletzt ihren Ehemann Jamie geangelt hatte. Jeanne erwartete glücklicherweise keine Antwort. Behände entflocht sie den dicken Zopf, der fast bis zum Po reichte, wickelte das lange Ende locker um einen Arm und rückte das Haar mit der andern Hand so zurecht, dass Chris eine Vorstellung davon bekommen sollte, was sie sich vorstellte.
»Passt!«, beeilte Chris sich zu versichern.
»Sie werden ein gaaanz neuer Mensch, Madame«, flüsterte die Hairstylistin ergriffen mit langgezogenem A. »Wir schneiden Ihnen ein luftiges Kurzhaarfrisürchen mit neckischer, schräger Ponypartie. Was halten Sie davon?«
Chris bekundete begeisterte Zustimmung, ohne zu verstehen, wovon die Gute sprach. Wenn Jeanne in den Pluralis Majestatis verfiel und die Sätze mit »Wir« begannen, blieb ohnehin wenig Spielraum für Diskussionen. Abgesehen davon hatte sie sich vorgenommen, im Laufe des Tages doch noch im BKA-Präsidium in den Treptowers aufzutauchen – bevor Staatsanwältin Winter die Fahndung auslösen würde. Jeanne hielt inne, bevor sie die Schere zum fatalen Schnitt ansetzte, und beugte sich mit ernster Miene zu ihr herunter.
»Vergessen Sie nicht, Sie haben mir etwas versprochen, Madame – das Geheimnis!«
»Sobald der Zopf ab ist.«
Jeanne begann seufzend mit der qualvollen Arbeit. Sorgsam reihte sie Strähne um Strähne des über fast zwei Jahrzehnte gewachsenen Haares auf dem Glastisch aneinander, als wären es kostbare Reliquien. Kolleginnen unterbrachen die Arbeit, fasziniert von einem Hochamt, wie es noch nie zelebriert worden war in diesem Salon. Die Chefin verließ ihren Arbeitsplatz ein weiteres Mal, um das Wunder aus der Nähe zu betrachten. Gedankenverloren ließ sie das Haar durch die Finger gleiten, bevor sie ohne ein Wort zu sagen an den Schreibtisch zurückkehrte.
»Sie ist scharf auf Ihr Haar«, flüsterte Jeanne aufgeregt. »Verkaufen Sie es ja nicht zu billig, mindestens fünfhundert.«
»Wie bitte?«
»Fünfhundert Euro mindestens für diese Länge und Qualität.«
Chris begann zu begreifen, dass sie das erste Mal im Leben etwas produziert hatte, was man verkaufen konnte. Während Jeanne den kümmerlichen Rest ihrer Haare wusch, um sie fürs Ausdünnen und Schneiden vorzubereiten, erfuhr sie mehr übers Geschäft, von dessen Existenz sie nichts geahnt hatte. Gesundes, langes Haar von Europäerinnen ist selten und gesucht. Es eignet sich besser für Perücken und Verlängerungen als Haar von Inderinnen, das zwar reichlich vorhanden ist aber erst aufwendig behandelt werden muss.
Vor dem Spülen legte Jeanne noch einmal eine Pause ein, begleitet von einem fragenden Blick. Chris winkte sie näher heran und flüsterte so leise, dass nur sie es hören konnte:
»Ich bin schwanger.«
»Neiiin!«
Jeannes Ausruf der Überraschung ließ den Salon erstarren. Für einen Augenblick stand die Zeit still. Beim nächsten Atemzug tauchte die Chefin bei ihnen auf.
»Alles in Ordnung?«, fragte sie, ohne die Lippen zu bewegen.
Chris lächelte verträumt. Nie zuvor hatte sie den Satz ausgesprochen, der ihr Leben auf den Kopf stellte: Ich bin schwanger. Nicht einmal Jamie ahnte etwas von ihrem Glück. Vielleicht glaubte er etwas zu ahnen, weil er mit ihr hoffte nach vielen vergeblichen Versuchen, aus Solidarität und Zweckoptimismus. Gewissheit hatte nur sie.
»Alles in Ordnung, Frau Kommissarin?«, fragte die Chefin noch einmal, tiefe Sorgenfalten auf der Stirn.
»Alles gut, es könnte nicht besser sein«, beruhigte sie.
Kaum waren sie wieder allein, begannen Jeannes Fragen auf sie einzuprasseln. Die neue Frisur entstand nebenbei aus dem Handgelenk. Wichtig war nur noch das eine Thema. Die Aufregung stand Jeanne ins Gesicht geschrieben, als wäre sie selbst schwanger geworden. Chris spielte eine Weile mit. Es tat ihr gut, mit jemandem darüber zu sprechen. Sie sonnte sich im Gefühl, es gäbe nichts anderes Wichtiges mehr auf der Welt, alles drehte sich einzig und allein um das winzige Lebewesen, das in ihrem Bauch heranwuchs.
»Sie werden doch jetzt nicht weiter Ganoven jagen«, sagte Jeanne unvermittelt, das nackte Entsetzen in den Augen.
Chris zuckte die Achseln. »Jemand muss es eben tun.«
»Aber – das Kind! Denken Sie an Ihr Kind! Was wird‘s denn, Junge oder Mädchen oder etwas dazwischen?«
Chris lachte laut auf. »Eine Überraschung. Es ist noch zu klein, um Farbe zu bekennen.«
Jeanne schnipselte und kämmte eine Weile schweigend weiter, bis sie innehielt und versonnen seufzte:
»Hach, ich beneide Sie.«
»Was glauben Sie, wie ich Sie manchmal beneide. Sie erschaffen Schönheit, machen Schönes noch schöner, können den ganzen Tag elegante Kleider und Schuhe tragen, ohne fürchten zu müssen, sie zu ruinieren, und haben erst noch geregelte Arbeitszeiten.«
Jeanne schüttelte traurig den Kopf. »Und was mache ich am Feierabend? Ich sitze einsam und verlassen in meiner tristen Einzimmerwohnung vor der Glotze.«
Chris musste dringend etwas Positives einfallen, damit sie sich wieder ihrem Kurzhaarschnitt mit schräger Ponypartie widmete.
»Gönnen Sie sich eine Reise – nach Paris zum Beispiel. Sammeln Sie schöne Erinnerungen. Die sind das Kostbarste, was es gibt.«
»Außer Kindern und einer Familie«, murmelte Jeanne fast unhörbar. Bevor Chris antworten konnte, fuhr sie mit bitterem Lächeln fort: »Paris war schon immer mein Traum.«
»Wollen Sie damit andeuten, noch nie dort gewesen zu sein?«
»Kann ich mir nicht leisten.«
»Ach was, Paris ist nicht teurer als Berlin, wenn man den Kaffee nicht gerade bei der Oper trinkt.«
Jeanne schüttelte entschieden den Kopf und drohte, die Arbeit an der Frisur ganz einzustellen.
»Sie haben ja keine Ahnung, Madame«, klagte sie. Die Hand auf der Brust, fügte sie an: »Die OP hat mich komplett ruiniert. Ich werde den Kredit wohl bis ans Lebensende abzahlen müssen. Nicht einmal die Farben der Saison kann ich mir leisten. Tragisch, nicht wahr?«
So melodramatisch sie sich ausdrückte, in ihrer Stimme und den Augen lag eine Traurigkeit, die Chris berührte. Jeanne war bei aller Exaltiertheit ein zutiefst unglücklicher und einsamer Mensch. Da ihr keine passende Antwort einfiel, endete die Unterhaltung abrupt. Jeanne widmete sich mit neuer Inbrunst dem Kunstwerk auf ihrem Kopf. Bisher hatte Chris den Blick in den Spiegel vermieden, doch jetzt, nachdem Jeanne eine letzte Strähne gebändigt hatte, musste sie in den sauren Apfel beißen. Eine fremde Frau sah sie an, deren Gesichtszüge sich langsam entspannten. Sie wagte gar ein Lächeln, denn was sie sah, gefiel ihr. Die neue Chris gefiel ihr so sehr, dass Jeanne sich heimlich eine Träne trocknen musste. Sie liebte die große Geste.
»Jetzt beginnt ein neuer Lebensabschnitt«, sagte sie, zufrieden mit ihrem Werk.
Sie sprach Chris aus der Seele.
Das schrille Geheul einer Polizeisirene drang durch die halb offene Tür in den Salon. Ein Rettungswagen raste auf der Straße am Fenster vorbei. Der Alltag hatte sie wieder. Sie griff automatisch zum Telefon, das sie stumm geschaltet und während der Verwandlung im Salon nicht beachtet hatte. Drei Anrufe aus dem Präsidium, eine SMS vom Kollegen Haase und eine Nachricht von Jamie. Der musste warten. Sie rief Haase an.
»Sie sollten sofort herkommen«, sagte er ruhig und emotionslos wie stets, wenn er nicht gerade Kaffee braute. »Es brennt.«
»Das Büro brennt?«
»Die Staatsanwaltschaft.«
»Besser.«
»Im Ernst, die Winter sucht sie