Station 9. Hansjörg Anderegg
Читать онлайн книгу.nach dem Bericht.
»Das ist der erste konkrete Hinweis, dass ich keine Gespenster sehe«, sagte er zu Winter, »und es bestätigt mir, dass Chris genau die Richtige ist für diesen Job.«
Sie horchte auf. Es hörte sich zu sehr nach Ärger an.
»Welcher Job?«
Die beiden Juristen tauschten Blicke, die verrieten, dass sie sich nicht einig waren über die Antwort. Winter kostete es offensichtlich Überwindung, den Mund zu halten. Sie hatte keine Wahl. Hendrik war der Senior in der Runde und besaß beste Beziehungen bis hinauf zum allmächtigen Generalbundesanwalt Osterhagen. Er antwortete:
»Es besteht der Verdacht, dass die Operation Spider sabotiert wird. Die ungelösten Todesfälle sind ein weiteres Indiz.«
Haase hatte sie gewarnt.
»Spider sagt mir nichts«, log sie.
»Spider sollte die größte Operation gegen den organisierten Schmuggel deutscher Hightech-Waffen in Kriegsgebiete im Nahen Osten werden. Die Operation musste jetzt sistiert werden, da man gewissermaßen der Spinne den Kopf abgeschlagen hat.«
Deutsche Hightech-Waffen, gibt‘s die?, war sie versucht zu fragen, doch sie biss sich auf die Lippen.
»Ist es nicht Aufgabe des ZKA, solche Ermittlungen durchzuführen?«, fragte sie stattdessen.
Hendrik schüttelte den Kopf. »Nicht bei einer Bedrohung von außen und wenn nationale Interessen auf dem Spiel stehen.«
Genau daran zweifelte Winter. Sie sah es in ihren Augen und musste ihr insgeheim zustimmen. Hendrik bemerkte die Skepsis und doppelte nach:
»Die Sache ist politisch äußerst brisant. Bei der Befreiung von Palmyra vom IS sind deutsche Panzerabwehrwaffen aufgetaucht. Menge und Alter lassen darauf schließen, dass es keine Zufallsfunde sind. Die Waffen werden professionell ins Kriegsgebiet geschleust. Spider ist jetzt zur Chefsache erklärt worden. Vizekanzler König persönlich leitet den Krisenstab.«
»Trotz allem«, widersprach sie, »die zwei ungeklärten Todesfälle müssen nicht mit der Operation Spider zusammenhängen.«
Winter nickte zustimmend. »Sie erwähnten den Krisenstab …«
»Ein hochkarätig besetztes Gremium. Ich kenne nicht alle Mitglieder, aber Generalbundesanwalt Osterhagen ist dabei, Dr. Jana Schubert, Direktorin Ihrer Abteilung für schwere und organisierte Kriminalität im BKA, und Norbert Hahn, Vizedirektor ZKA, Stellvertreter des verstorbenen Arno Schmitz.«
Chris rümpfte die Nase. »Gibt es auch jemanden, der am Fall arbeitet?«
Hendrik lachte kurz auf. »Genau da kommst du ins Spiel.«
Jetzt war es raus. Sie hatte so etwas erwartet seit dem Telefongespräch mit Haase in Wien. Trotzdem schmeckte der Brocken nicht, den Hendrik ihr zum Fraß vorwarf. Je prominenter die Besetzung des Krisenstabs, desto unproduktiver die Arbeit. Diese simple Relation hatte sich immer wieder bestätigt. Winters Problem war wohl ein anderes, aber im Endeffekt zogen sie am selben Strang. Die Staatsanwältin fürchtete sich vor den Grabenkämpfen zwischen Zollbehörden, BKA und Bundesanwaltschaft. Deshalb das Feuer im Dach. Der Name des Vizekanzlers hatte Winter kurzzeitig in Schockstarre versetzt. Sie und Chris öffneten gleichzeitig den Mund, um zu protestieren, doch Hendrik winkte ab.
»Tut mir leid, meine Damen, aber Generalbundesanwalt Osterhagen und Präsident Meister bestehen auf deinem Einsatz.«
Sie hätte sich mit Jana Schubert, der Chefin ihrer Abteilung, ohne Weiteres angelegt, sich jedoch gegen den BKA-Präsidenten zu sträuben, wäre beruflicher Selbstmord. Und Osterhagen … Der attraktive Single imponierte ihr. Sie wusste selbst nicht genau, weshalb. Doch, sie wusste es, aber sie durfte es sich nicht eingestehen. Der letzte Fall, bei dem sie mit ihm zusammengearbeitet hatte, war erfolgreich abgeschlossen worden. Es könnte also klappen.
»Und wie stellt sich das erlauchte Gremium das Vorgehen vor?«, fragte sie nach einer Weile.
»Gar nicht«, war die schnelle Antwort. »Die nächste Sitzung findet heute Nachmittag um vier im Kanzleramt statt. Wir beide sind herzlich eingeladen. Dort wirst du dein Vorgehen präsentieren.«
»Dort werde ich mein Vorgehen präsentieren!«, äffte sie verärgert nach. »Was soll der Blödsinn? Bevor ich festlegen kann, wie ich vorgehen will, muss ich verdammt noch mal wissen, worum es eigentlich geht. Heute Morgen habe ich noch nichts von einer Operation Spider geahnt, und jetzt soll ich einen Plan gegen Saboteure haben? Entschuldige Hendrik, aber bei aller Liebe …«
Sie verzichtete auf das Ende des Satzes. Er kannte ihre Temperamentsausbrüche und versuchte zu beschwichtigen:
»Ich habe mich etwas ungeschickt ausgedrückt.«
»Kann man wohl sagen«, schnaubte sie.
Er beugte sich vor und dämpfte die Stimme. Das sollte sie beruhigen.
»Du weißt doch, wie der Hase läuft. Die Herrschaften wollen dich nur beschnuppern. Sie wollen sich einreden, die Sache wäre in guten Händen. Alle werden verstehen, dass du dich zuerst einarbeiten musst. Du kannst gar nichts falsch machen.«
»Das beruhigt mich ungemein. Und jetzt werdet ihr mich entschuldigen. Ich muss mich einarbeiten.«
Staatsanwältin Winter erwachte aus ihrer Starre, wagte aber nicht, zu widersprechen. Hendrik rief ihr schmunzelnd nach:
»Viertel vor vier am Empfang im Kanzleramt.«
Haase besaß den sechsten Sinn. Vielleicht dachte er auch nur logisch konsequent. Jedenfalls lag ein dickes Dossier mit der Aufschrift SPIDER auf dem Schreibtisch, als sie in ihr Büro zurückkehrte. Wie immer hatte er eine lückenlose Faktensammlung bereitgestellt inklusive prägnanter Zusammenfassung auf zwei Seiten. Management Summary nannte er diesen Teil. Quintessenz fand sie angemessener. Es war auch schon vorgekommen, dass seine Zusammenfassung aus einem einzigen Wort bestand: Blabla. Diesmal nicht. Trotzdem gab die Akte nicht viel her, denn die Operation Spider war noch nicht wirklich angelaufen. Die Kollegen hatten im Wesentlichen Daten, Kontakte und Beweise für illegale Waffenlieferungen zusammengetragen. In keinem einzigen Fall konnte bisher die Spur der Waffen lückenlos zum Hersteller in Deutschland zurückverfolgt werden.
»Das gibt‘s doch nicht«, sagte sie zu Haase. »Bei jeder Scheiß Pistole wird die Nummer beim Verkauf registriert. Der Verkäufer weiß genau, wem er wann welche Waffe verkauft hat, und bei Panzerfäusten soll das nicht möglich sein?«
Er blätterte kurz in seiner Akte. Die Seite, die er aufschlug, war die Kopie eines Lieferscheins.
»Alles ganz legal, wie Sie sehen«, sagte er mit spöttischem Lächeln. »Die Herstellerfirma verkauft die Waffe einer Firma in Schweden, die für die dortigen Streitkräfte arbeitet. Die Lieferung geht auch tatsächlich nach Stockholm. Nur bei der schwedischen Armee kommt sie nie an.«
Sie nickte nachdenklich. »Verstehe, und die Firma, die das Zeug gekauft hat, existiert nicht mehr. Habe ich recht?«
»Genau so ist es. Der Geldfluss kann übrigens auch nicht nachvollzogen werden. Die Zahlung an die Herstellerfirma erfolgte völlig unverdächtig über eine Schweizer Bank.«
»Unverdächtig, na klar, und niemand hat eine Vorstellung, woher das Geld stammt.«
Haase zuckte die Achseln. »Vorstellung schon aber keine Beweise.«
Damit schlurfte er zur Kaffeemaschine. Gegen Mittag hatte sie noch immer keine Ahnung, was sie den Herrschaften im Kanzleramt erzählen sollte – außer der Frage, was denn eigentlich ihr Job sei. Eine weitere Stunde verging, ohne dass sie Hunger verspürte. Ein wenig Brennstoff und Wasser musste sie zu sich nehmen, wollte sie nicht Gefahr laufen, um vier aus den Latschen zu kippen. Ärgerlich schmiss sie den Bettel hin und stand auf, um die Cafeteria aufzusuchen. Sie war noch nicht an der Tür, als sie wie angewurzelt stehenblieb.
»Ich dumme Kuh!«, rief sie aus.
Eilig kehrte sie an den Schreibtisch zurück. Es hatte die ganze Zeit vor ihr gelegen.