Station 9. Hansjörg Anderegg
Читать онлайн книгу.neben sie.
»Doktor von Matt!«
Nick, noch im Gang stehend, drehte sich überrascht um.
»Ja – kennen wir uns?«
»Und ob!«
Im nächsten Atemzug hatte der Unbekannte Nick im Würgegriff. Seine Pistole zielte auf die Schläfe des Arztes.
»Sie tun jetzt genau, was ich sage«, zischte ihm der Angreifer ins Ohr.
Allmählich begriffen die Umstehenden, was sich abspielte. Mona sprang entsetzt auf.
»Ruhig bleiben. Setzen Sie sich«, befahl Chris.
Sie gehorchte mechanisch, mit offenem Mund auf die Waffe starrend, als wäre die auf sie gerichtet. Wie durch eine Explosion in Zeitlupe stoben die Teilnehmer auseinander. Einzelne Schreckensrufe, gefolgt von spitzen Schreien trieben auch die weiter entfernt Sitzenden von den Stühlen. Im Nu gab es kein Durchkommen mehr am Ausgang. Ein Schuss peitschte durch den Saal. Jede Bewegung erstarrte. Totenstille.
»Niemand verlässt den Saal!«, rief der Unbekannte. »Alle mal herhören. Dr. von Matt hat euch etwas zu berichten.«
Während sie die Polizei heimlich auf dem Handy alarmierte, wie viele andere wohl auch, beobachtete Chris, wie der Angreifer Nick nach vorn vor ein Mikrofon zerrte.
»Einschalten!«, befahl er.
Zwei Uniformierte tauchten auf der Galerie auf. Ein weiterer Schuss vertrieb sie augenblicklich. Chris identifizierte sich leise als Kommissarin des deutschen Bundeskriminalamts, schilderte kurz die Lage und ließ die Leitung offen, damit die Kollegen in der Wiener Einsatzzentrale mithörten, was im Billrothhaus vor sich ging. Eingreifen kam nicht infrage. Der Unbekannte schien zu allem entschlossen. In seinem Magazin befanden sich noch sechs weitere Patronen, falls sie sich nicht täuschte – und ihre Glock lag im Hotelsafe. Mona regte sich nicht mehr. Zur Salzsäule erstarrt, als hätte sie aufgehört zu atmen, fixierte sie die Waffe an Nicks Schläfe.
Eine Rückkoppelung gab das Zeichen, dass das Mikrofon eingeschaltet war.
»Wer sind Sie – was wollen Sie?«, fragte Nick scheinbar ruhig.
»Schnauze!«
Kein Wiener.
»Das Fernsehen soll das aufzeichnen. Ich will, dass dies in alle Welt verbreitet wird, um die Leute zu warnen. Dr. von Matt wird hier und jetzt seine Seele erleichtern und beichten. In zwanzig Minuten will ich einen Kameramann des ORF sehen.«
Chris gelang es, ein Foto zu schießen. Der Geiselnehmer befand sich allerdings zu weit weg für eine gute Aufnahme. Vielleicht könnten die Wiener Techniker trotzdem ein Porträt herausarbeiten, um ihn zu identifizieren.
»Kennen Sie den Mann?«, fragte sie Mona.
Die Scheintote reagierte nicht. Alle Augen richteten sich auf den Herrn im Maßanzug, der sich dem Geiselnehmer zu nähern wagte. Sie verstand nicht, was er sagte. Die Antwort tönte umso deutlicher aus den Lautsprechern:
»Achtzehn Minuten!«
Der Anzugtyp, einer der Organisatoren, wie sie vermutete, wich zurück, Telefon am Ohr. Das rote Gesicht glänzte vom Schweiß. Am Ausgang des Festsaals entstand Bewegung.
»Niemand verlässt den Saal!«
Ein Schuss Richtung Tür versetzte auch Chris für kurze Zeit in Schockstarre. Noch fünf Schuss. Niemand unternahm einen weiteren Fluchtversuch.
»Nur der Kameramann wird eingelassen. Fünfzehn Minuten!«
In diesem Augenblick erkannte sie die Ausweglosigkeit der Lage.
»Das wird tödlich enden«, sprach sie leise ins Handy.
Die Zeit gefror. Die Stille im Saal erschwerte das Atmen.
»Fünf Minuten!«
Kurz danach verkündete eine laute, feste Stimme an der Tür:
»Der Herr vom ORF ist jetzt da.«
»Herkommen, langsam! Ich will die Hände sehen!«
Ihr geschultes Auge bemerkte die Bewegung hinter der Brüstung oben auf der Galerie und sie wusste: Ihre Bemerkung war bei den Einsatzkräften angekommen. Der Geiselnehmer konnte kein abgebrühter Profi sein, eher ein Verzweifelter, der aus seiner Sicht noch etwas richtigstellen musste. Dieser Auftritt würde sein letzter sein. Er wusste es und sie und die Kollegen des Wiener SEK auf der Galerie ebenso.
Der Kameramann brachte sich in Stellung.
»Kann‘s endlich losgehen?«
»Augenblick.«
Der Kameramann änderte die Position, um den Geiselnehmer besser ins Bild zu bekommen. Dabei verrutschte seine Weste. Chris sah das Schulterhalfter im selben Augenblick wie der Angreifer. Ihr stockte der Atem.
»Ein Bulle!«
Die Hand mit der Pistole schnellte in Richtung des falschen Kameramannes. Der dumpfe Knall aus der Waffe des Scharfschützen auf der Galerie ging beinahe unter im kollektiven Aufschrei. Der Geiselnehmer sank zu Boden. Im nächsten Atemzug umstellten Männer des Einsatzkommandos Täter und Opfer. Notarzt und Sanitäter eilten herbei.
Allmählich kehrte Leben in den Festsaal zurück. Chris sprang auf, wollte zu Nick. Mona blieb sitzen. Sie zitterte am ganzen Leibe, stand offensichtlich unter Schock. Chris ließ sich wieder in den Sessel fallen, legte den Arm um sie und zog sie sanft zu sich.
»Es ist vorbei«, flüsterte sie.
Jamie stürzte herbei.
»Mein Gott, seid ihr O. K.? Die haben uns nicht in den Saal gelassen. Was ist – wo ist Nick?«
Der Name ihres Kollegen belebte Mona. Sie erhob sich.
»Ich muss mit ihm sprechen.«
Chris hielt sie zurück. »Ich glaube, das geht jetzt nicht. Die Polizei braucht seine Zeugenaussage.«
Sie ließ sich nicht aufhalten.
»Verwirrt«, murmelte Jamie.
»Der Schock. Ich sollte sie jetzt nicht allein lassen.« Sie drückte und küsste ihn. »Die Wiener Kollegen werden auch mit mir sprechen wollen. Wir sehen uns im Hotel.«
Abends stand Chris ratlos vor dem spärlich bestückten Kleiderschrank im Hotelzimmer.
»Muss es unbedingt das nobelste Lokal sein?«, fragte sie Jamie.
Er löste den Blick vom Panorama des abendlichen Museumsquartiers.
»Vor allem soll es Wiens beste Küche bieten – und da bin ich heikel. Das weißt du.«
»Ich habe trotzdem nichts anzuziehen.«
Er lachte. »Diesen Satz wollte ich schon immer aus deinem Mund hören, Frau Hauptkommissarin.«
»Mach dich nur lustig über mich. Ich hoffe, dein Fisch wird zäh wie Leder und versalzen.«
»Ich esse doch keinen Stockfisch.«
Ihre Laune besserte sich ein wenig beim Gedanken ans Dinner mit Mona, um sogleich wieder in Verzweiflung umzuschlagen. Wie das arme Mädel aus der Vorstadt würde sie neben der schönen Orientalin wirken. Was war los mit ihr? Sie kannte sich selbst nicht mehr. Durch die Begegnung mit Mona war sie zur hohlen Tussi mutiert, nur auf ihr Äußeres bedacht und nie damit zufrieden. Immerhin ein ganz neues Gefühl. Sie wandte sich wieder dem Schrank zu.
»Also was jetzt?«
Jamies Handy unterbrach die fruchtlose Konversation. Sie griff blind in den Schrank. Das Blaue mit dem Spitzenshirt war eigentlich fürs romantische Picknick auf dem Riesenrad vorgesehen, aber warum nicht? Die Jeans wäre ohnehin deplatziert im Steirereck.
»Das war Nick«, sagte Jamie.
»Abgesagt? Gut …«
»Blödsinn. Er hat den Namen des Geiselnehmers erfahren.