Mord oder Absicht?. Lothar Schöne
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Für Jutta und Martin
Der Roman spielt hauptsächlich in bekannten Regionen, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Handlungen und Charaktere sind frei erfunden. Tatsächlich existierende Personen haben ihre Zustimmung erteilt.
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EPub Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbH
eISBN 978-3-8271-8412-2
Lothar Schöne
Mord
oder
Absicht?
Ein Rhein-Main-Krimi
Das ist ja die verkehrte Welt,
Wir gehen auf den Köpfen!
Die Jäger werden dutzendweis
Erschossen von den Schnepfen.
(Aus „Verkehrte Welt“ von Heinrich Heine)
1 Herr Tod, ich bin enttäuscht!
„Ich bin nicht normal“, murmelte er und lehnte sich erschöpft an ein Bäumchen im Kurpark, „ich bin überhaupt nicht normal.“ Er streckte sich zu voller Länge, umgriff den Stamm mit beiden Händen und flehte das Bäumchen an: „Sag du mir, ob ich noch normal bin!“
Der Mann war umhergeirrt, als wüsste er nicht, wo er sich befand. Jetzt stieß er sich von dem Stamm ab, und das sah gerade so aus, als wolle er einen lästigen Zeugen, der die Antwort verweigerte, abschütteln. Der groß gewachsene Mittdreißiger sah nach oben in den Himmel, der nachtschwarz über ihm lastete. Nur ein trüber Halbmond gab etwas Licht.
„Ich muss krank sein“, kam es dann leise über seine Lippen, und er lauschte, doch der Himmel schwieg, und noch nicht einmal ein Sternlein blinkte auf.
Er machte einige tapsende Schritte in Richtung zum nahe gelegenen Weiher, und ihm ging durch den Kopf, dass er nicht krank, sondern schwer krank, ja tödlich krank sein müsse. Oder war er schon tot? Tappte er im Jenseits herum und hatte es nicht gemerkt? Hätte ihm der Baum vielleicht sagen sollen, dass er unter den Toten wandelte?, überlegte er weiter. Doch es handelte sich offenbar um einen vornehmen, einen feinsinnigen Baum, der deshalb nicht zu mir sprach, weil ich vermutlich nicht als Toter, sondern als Untoter über die Erde krauche. Gewissermaßen ein vampirisches Leben führen muss …
Solche Überlegungen hielten den Burschen nicht davon ab, sich zum Weiher zu bücken, um sich mit der rechten Hand Wasser ins Gesicht zu schaufeln. Wasser ist schließlich ein Lebenselement, aber zählte auch das Wasser dieses Weihers dazu? Selbst in der Düsternis der Nacht, nur streifenhaft erhellt durch die Laternen der nahe gelegenen Wilhelmstraße, konnte man den Kot der Enten im Weiher entdecken.
Unser unnormaler Nachtgänger schreckte zurück. Vermutlich hatte er sich mit seinen Wasserspritzern den endgültigen Todesstoß versetzt, einen erbarmungslosen Stoß ins Reich der Toten oder vielmehr Untoten.
Sogleich hielt er inne, und ein anderer Gedanke kam ihm in den Sinn. Vielleicht war er betrunken – das war gut möglich. Denn normalerweise düngte er seine inneren Organe lediglich mit gesunden Tees. Ein Schluck Alkohol konnte Verheerendes bewirken. Er musste Alkoholisches zu sich genommen haben. Aber wo? Und mit wem? Schließlich war er kein Alleintrinker, kein einsamer Zecher, der sich in Kaschemmen herumtrieb, um sich auf Teufel komm raus Hochprozentiges in den Schlund zu schütten.
Der Mann erhob sich, verabschiedete sich mit einer Verbeugung vom Weiher, dessen Wasser zwar nicht das gesündeste Getränk, aber immerhin doch ein Labsal war, und ging stockend in Richtung der großen Straße. Stockend? Einmal taumelte er sogar, und als er schließlich auf dem Fußweg der Wilhelmstraße angelangt war, überlegte er, wie er heimfinden würde. Oder sollte er zu Carola? Carola – ja, die gab es, er erinnerte sich an sie. Gleich verwarf er den Gedanken wieder. Seine Freundin würde sein Leiden vermutlich verschlimmern, ihn zum Nachtdienst einer Klinik schaffen, wo man vermutlich seinen baldigen Tod feststellen würde. Wenn er nicht in der Klinik selbst verendete, an Apparaturen festgezurrt, und im Hinübergleiten in die jenseitige Welt würde er noch die geflüsterte Diagnose des Arztes hören: Nichts mehr zu machen, dieser Mann war nicht zu retten.
Aber warum, warum nur bin ich dem Tod geweiht?, ächzte der Unbekannte auf, ich bin doch erst sechsunddreißig, das ist doch kein Alter für den Tod! Da hat er doch gar keine Freude. Und im letzten Fall habe ich den Tod schließlich persönlich kennengelernt. Nicht nur kennen-, gewissermaßen auch schätzen gelernt. Als Regisseur hatte der was drauf. Gar kein unangenehmer Geselle. Wenn er es auf mich abgesehen hätte, könnte er doch auch jetzt erscheinen. Damals hat er mir als Hase aufgelauert, jetzt könnte er mich als Ente im Kurpark überraschen. Schließlich ist der Tod erfindungsreich, dem sind keine Varianten fremd, und seien sie auch noch so tierisch.
Kommissar Vlassopolous Spyridakis, denn um keinen anderen handelte es sich, schaute in den Park zurück. War da eine Ente, die sich auffällig benahm und sich als der Herr Tod entpuppen würde? Er machte ein paar Schritte in den Kurpark. Doch er sah nur schlafendes Federvieh, sodass er schließlich ausrief: „Herr Tod, ich bin enttäuscht! Wenn man Sie braucht, sind Sie nicht da. Immer kommen Sie zur unrechten Zeit. Jetzt, wo ich einen Rat vertragen könnte, haben Sie sich offenbar aufs Ohr gelegt!“
Keine der schlummernden Enten am Weiher fühlte sich durch seine Rede genötigt aufzuwachen. Es blieb alles ruhig. So drehte sich Vlassi um und ging zurück zur Straße. Heim musste er, nichts als heim, überlegte er. Aber wo wohnte er noch mal? War ihm seine Behausung etwa auch abhandengekommen? Mein Gedächtnis hat gelitten, kam es ihm in den Sinn. Todkrank bin ich, vielleicht schon tot, und obendrein ohne Gedächtnis. Wenn ich endgültig ins Jenseits schwebe, werde ich es nicht einmal bemerken. Aber was mach’ ich mir Sorgen, im Grunde ist es gar nicht so übel, den eigenen Tod nicht mitzukriegen.
Dann kam ihm in den Sinn, dass etwas Fürchterliches passiert sein musste. Ein Verbrechen? Ihm flatterten die Vokabeln Mord oder Absicht durchs Hirn. Blödsinn, dachte er im selben Moment, das passt doch gar nicht zusammen, das ist doch gaga. Mord ohne Absicht, das ginge, aber Mord oder Absicht … Bald sehe ich mich wahrscheinlich doppelt, und auf meinen Köpfen wachsen Glühbirnen, die leider nicht glühen.
Vermutlich leide ich nur an vorzeitiger Vergreisung, beruhigte er sich. Mich hat die Demenz überfallen, das kann ja in jedem Alter passieren. Die fehlende Erinnerung wird bei mir ergänzt durch sinnlose Vokabeln, Mord oder Absicht ... grotesk. Er machte ein paar Schritte, es war weit nach Mitternacht, und auf der Wilhelmstraße fuhr ein Taxi langsam an ihm vorbei, stoppte aber plötzlich, der Fahrer ließ das Fenster herunter und fragte: „Brauchen Sie ein Taxi?“ Der Chauffeur hatte offenbar erkannt, dass Vlassopolous Spyridakis einen fahrbaren Untersatz nötig hatte.
Vlassi nickte und erwiderte stockend: „Brauchen schon, aber ich … also … ich könnte Ihnen nicht sagen, wo wir hinmüssen.“
„Verstehe“, erwiderte der Fahrer lächelnd, der einen Mann vor sich wähnte, der zu tief ins Glas geschaut hatte, und gab dann einen Rat, der Vlassi einleuchtete: „Denken Sie scharf nach, dann fällt’s Ihnen bestimmt ein. Ich komm noch mal vorbei.“
Nachdenken, das muss ich tun, sagte sich Vlassi, als das Taxi entschwunden war. Aber scharf nachdenken – bin ich dazu in der Lage? Wenn man das Gedächtnis verloren hat und die Demenz einsetzt – dann fehlt neben dem Denken auch jede Schärfe und das Hirn verludert zu einem Unsinnskasten.
Wo bin ich eigentlich?, fragte er sich im nächsten Augenblick. Er lehnte sich an den Zaun eines Gartens und schaute auf. Ah, das Literaturhaus, das Wiesbadener Literaturhaus. War das nicht ein guter Ausgangspunkt, um irgendwohin zu finden – und sei es zum eigenen Zuhause.