Zukunft des Staates – Staat der Zukunft. Группа авторов

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Zukunft des Staates – Staat der Zukunft - Группа авторов


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Verlauf seiner Geschichte hat der Staat ganz verschiedene Funktionen erfüllt, und aufgrund dieser Wandlungsfähigkeit ist es ihm gelungen zu überleben. So gehörte etwa estado, das spanische Wort für Staat, zu einem Sprachspiel, in dem es um die Bewahrung der Besitzaufteilung zwischen den sozialen Ständen der vormodernen Zeit ging. Die Güter von Monarchen, Feudalerben, Städten, Klöstern oder Diözesen sollten jeweiligen Ausgangszuständen (estados) entsprechen, von denen sie sich herleiteten.

      Doch neben solchen Stabilitätsversprechen hat der Staat bald über Verdichtung, Akkumulation und Beschleunigung auch Prozesse des Strukturwandels befördert. Das von den Monarchen auf den Staat übertragene Konzept der Souveränität bezog sich dabei auf eine Machtdynamik, die ihren maximalen Anspruch in der Formel vom »Ausnahmezustand« formulierte, bürokratische Systeme hervorbrachte und Institutionen zur Disziplinierung der Untertanen ausbildete. All diese Entwicklungen hatten sich bereits vor den bürgerlichen Revolutionen vollzogen, die dann die staatlichen Machtstrukturen weiter ausbauten und im Nationalstaat als einer neuen politischen Form zusammenfassten, die immer häufiger in die Gesellschaft eingriff. Anstelle der Religion war der Staat nun zum übergeordneten Hirten und zum Regenten über das gesamte Leben geworden.

      Souveränität des Staats

      Erst der Nationalstaat räumte sich selbst als Souverän einen kategorial übergeordneten Status ein. Mit der These, dass im Staat seiner Zeit der Weltgeist zu sich komme, wurde Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) zum Meisterdenker dieser Faszination. Von ihr beflügelt, bildeten sich während des 19.Jahrhunderts institutionelle Formen im Zusammenhang mit dem Staat heraus, die der Imperialismus bald über den gesamten Planeten verbreiteten sollte, nämlich die Verkoppelungen des Staats: mit den Industriekomplexen des Kapitalismus; mit kulturellen Konstellationen, aus denen Ideologien hervorgingen; mit neuen symbolischen Hierarchien; und natürlich auch mit den Traditionen und Instrumenten des Militärs.

      So kann man jene Phase der Geschichte für die meisten europäischen Länder als einen Prozess auffassen, in dem immer mehr Instanzen der sich ausdehnenden Nationalstaaten ihre Völker inneren Rationalitätsansprüchen unterwarfen. Spätestens seit der Mitte des 20. Jahrhunderts allerdings schwand (wohl unter dem Eindruck ideologisch-totalitärer Staaten) zunächst bei den Intellektuellen, dann aber auch bei Politikern jene klassische Staatsbegeisterung und wich einer Ernüchterung, die vielfältige Kritiken motivierte. Die expansive Epoche des souveränen Staats war abgelaufen, doch über drei verschiedene Problemkonfigurationen ist er in unserer Gegenwart weiter präsent geblieben.

      Nationalstaat und Weltwirtschaft

      Will man erstens auch davon ausgehen, dass entscheidende Steuerungsfunktionen für das menschliche Leben mittlerweile auf die Weltwirtschaft übergegangen sind, so hat sich doch erwiesen, dass deren Institutionen und Entwicklungen weiterhin auf eine Zusammenarbeit mit den Nationalstaaten angewiesen sind. Die Deregulierung der Finanzsysteme, die industrielle Globalisierung, die Abschaffung von Schutzzöllen, die Autonomisierung der international dominierenden Banken: All dies sind Bewegungen, die von einer Unterstützung durch die traditionelle Autorität und Legitimität der Staaten abhängen.

      In diesem Zusammenhang stoßen wir auf eine spezifische Spannung der Gegenwart: Einerseits wird der Staat aufgrund seiner verbleibenden Funktionen zu einem Instrument der internationalen Wirtschaft. Andererseits ist das politische Potenzial des Staats (vor allem in Europa) mit einem Versprechen sozialer Wohlfahrt verbunden, auf dessen Einlösung die Bürger bestehen. Das heißt: Sie klagen Leistungen von ihren Staaten ein, zu deren Erfüllung diese aufgrund ihrer Funktionen als Instrument der internationalen Wirtschaft nicht ohne weiteres imstande sind. Schärfer und als Paradox formuliert: Der Staat scheitert heute an der Herausforderung, uns als Wohlfahrtsstaat vor Effekten der Wirtschaft zu schützen, die er als Nationalstaat selbst mit ausgelöst hat.

      Kapitalismus und demokratischer Staat

      Die zweite Problemkonstellation des Staats von heute hat mit der Tatsache zu tun, dass aus historischen Gründen Formen des demokratischen Lebens, die wir nicht aufgeben wollen, an seine Struktur gebunden sind. Bis vor wenigen Jahrzehnten vertraute man darauf, dass der Kapitalismus im staatlichen Rahmen immer eine solche demokratische Praxis entstehen lassen und bewahren würde. Dass diese Affinität zwischen Kapitalismus und demokratischer Politik als vermeintlich notwendige nicht existiert, belegt die mit großer Effizienz funktionierende Kombination von Diktatur und Kapitalismus in der Volksrepublik China.

      Andernorts beobachten wir Verflechtungen von kapitalistischer Wirtschaft mit neuen Intensitätsgraden persönlicher Macht. Sollte Carl Schmitt (1888–1985) dies verstanden und vorweggenommen haben, als er am Vorabend der nationalsozialistischen Machtergreifung von 1933 »eine gesunde Wirtschaft in einem starken Staat« forderte? Trotz seiner Allianz mit dem Dritten Reich genießt Schmitts Denken heute bei Politikern und Intellektuellen sowohl der Rechten wie der Linken besonderes Ansehen, weil beide Seiten – aus ganz verschiedenen Gründen – mit ihm auf einen sich unbegrenzt ausdehnenden Staat setzen: sowohl zur Stärkung nationaler Autonomie als auch zur Ermöglichung unbegrenzter Sozialleistungen.

      Neue Imperien und Formen des Staats

      Solche Entwicklungen vollziehen sich vor allem innerhalb überkommener Formen des Nationalstaats. Länder wie Russland, Indien, China und die Vereinigten Staaten entsprechen allerdings nicht wirklich diesem Modell und spannen deshalb einen dritten Problemhorizont gegenwärtiger Staatlichkeit auf. Es handelt sich bei ihnen um weite Räume, die mit ihrem Potenzial, die ganze Welt zu integrieren, an die Imperien der Vergangenheit erinnern. Ihnen gegenüber stehen die Nationalstaaten auf ebenso verlorenem Posten wie im Verhältnis zu den Steuerungsimpulsen der Weltwirtschaft. Zugleich zeigen jene Räume aber auch die typischen Schwächen der alten Reiche: Grenzkonflikte, unbestimmte Übergangszonen mit begrenzter Kontrolle, einen wachsenden Bedarf an Präventivmaßnahmen der Krisensteuerung, unzufriedene Minderheiten. Dies sind die Symptome, aus denen sich immer neue Momente von Staatslabilität ergeben.

      Die spanische Geschichte zeigt, dass solche Reiche früher oder später sogar ihre ursprünglichen Bevölkerungsgruppen kolonisieren. Heute jedoch treiben sie vor allem eine sich exponentiell steigernde Tendenz zu gigantischen Ballungszonen an. Aus ökologischen Gründen und angesichts ihrer Unüberschaubarkeit werden solche Schwarzen Löcher der Demographie langfristig wohl nicht mit menschenwürdigem Leben vereinbar sein.

      Föderalismus als Lösung?

      Werden die hier beschriebenen Dynamiken, also die demographische Konzentration in den Großräumen, die sich ausdehnenden Wohlfahrts- oder Nationalstaaten und schließlich ihre paradoxale Bindung an die internationale Wirtschaft, das Schicksal des Staats im 21. Jahrhundert bestimmen?

      Nicht unbedingt. Die fruchtbarsten Antworten auf die herausfordernde Frage, wie sich solche Bewegungen unter Kontrolle bringen lassen, finden wir im Denkhorizont des Föderalismus. Unter ihm als Prämisse kann es der Staat vermeiden, zum passiven Instrument globaler Wirtschaftssteuerung oder zum Katalysator unendlicher Räume und Bevölkerungskonzentrationen zu werden. Allein föderale Strukturen ermöglichen ihm darüber hinaus ohne Abstriche gegenüber jenen Prinzipien der Gerechtigkeit zu regieren, die zum Projekt der Demokratie gehören. Um dies zu erreichen, muss sich der Staat allerdings intern auf einen angemessenen Grad seiner Macht festlegen. Maßnahmen zur Förderung von Divergenz und Dezentralisierung sind also gefragt.

      Francisco Pi i Margall (1824–1901), ein spanischer Denker des 19. Jahrhunderts, für den die kantonale Schweiz das Ideal der Verfassungswirklichkeit darstellt, schlug beispielsweise vor, nicht von einem, sondern von drei politischen Prinzipien mit je verschiedenen Bereichen des Handelns auszugehen: Er wies die Dimension des alltäglichen Lebens der Stadt zu, die Dimension der Geschichte dem Land und die Dimension der Vernunft dem Staat. Die Vernunft des Staats war dabei nicht als Anspruch auf Überlegenheit konzipiert, sondern als Verpflichtung, Gründe zu finden, welche die Städte und Länder dazu brächten, den Staat zu unterstützen. Offensichtlich ging es Pi i Margall hier um mehr als bloße Dezentralisierung und bloße Delegierung der Politik an die beiden anderen Dimensionen. Im Zentrum der föderalen Strukturen sollte die Energie


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