Nietzsche leicht gemacht. Georg Römpp

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Nietzsche leicht gemacht - Georg Römpp


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wahrzunehmen, in der der einzelne nur im aufgelösten Zustand enthalten ist: „Der Mensch ist nicht mehr Künstler, er ist Kunstwerk geworden.“ (GT III-1, 26) Offenbar ist gerade das Kunstwerk in ganz ausgezeichneter Weise der Ort, an dem der Übergang vom Ungeformten zur Form und damit das Entstehen einer neuen Gestalt geschieht. Dieser Übergang muss schließlich weiterführen bis zu solchen bestimmten Formen, die Gegenstand von Wissenschaft sein können, weil sie in bestimmten Begriffen zum Ausdruck kommen und damit die Grundlage für ein allgemeines und mit dem Bewusstsein von Notwendigkeit auftretendes Wissen darstellen.

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      Welche Bedeutung für Nietzsche die Tragödie (und zuvor die Musik) in diesem Zusammenhang hat, ergibt sich vor allem daraus, dass die Prinzipien des Apollo und des Dionysos alleine nicht bestehen können; sie sind fundamental defizitär, wie Nietzsche in der folgenden zusammenfassenden Formulierung verdeutlicht: das Apollinische und das Dionysische sind „künstlerische Mächte“,

      

„die aus der Natur selbst, ohne Vermittlung des menschlichen Künstlers, hervorbrechen, und in denen sich ihre Kunsttriebe zunächst und auf direktem Wege befriedigen: einmal als die Bilderwelt des Traumes, … andererseits als rauschvolle Wirklichkeit, die wiederum des Einzelnen nicht achtet, sondern sogar das Individuum zu vernichten und durch eine mystische Einheitsempfindung zu erlösen sucht.“ (GT III-1, 26)

      Nichtsdestoweniger gibt es doch charakteristische Kunstformen für diese künstlerischen Mächte, obwohl sie ohne die Präsenz des jeweils entgegengesetzten Prinzips nicht existieren könnten. Es sind dies die Plastik und das Epische auf der Seite ­Apollos, während der „dionysische Musiker“ und der „lyrische Genius“ Gestalten auf der dionysischen Seite der Kunst darstellen:

      

„Der Plastiker und zugleich der ihm verwandte Epiker ist in das reine Anschauen der Bilder versunken. Der dionysische Musiker ist ohne jedes Bild völlig nur selbst Urschmerz und Urwiederklang desselben. Der lyrische Genius fühlt aus dem mystischen Selbstentäusserungs- und Einheitszustande eine Bilder- und Gleichniswelt hervorwachsen, die eine ganz andere Färbung, Kausalität und Schnelligkeit hat als jene Welt des Plastikers und Epikers.“ (GT III-1, 40)

      Die Unterscheidung zwischen dem Epischen und dem Lyrischen bezieht sich in diesem Zusammenhang vor allem auf die Bedeutung des Erzählten – der Geschichte – in der ersteren Form und auf das Entstehen aus der Musik, die für die Kunstform des Lyrischen charakteristisch ist: „Die Melodie gebiert die Dichtung aus sich, und zwar immer wieder von Neuem.“ (GT III-1, 44 –45) Man könnte jedoch auch sagen, dass das Epische in erster Linie die Sprache zur Beschreibung von gestalteten und gebildeten Ereignissen außerhalb der Sprache einsetzt, während in der Lyrik der Ursprung die (Sprach-)Musik selbst ist und der Klang im Vordergrund steht, weshalb sie der Musik weit näher steht – üblicherweise werden Gedichte vertont, nicht aber Romane. Nietzsche beschreibt diesen Vorgang so:

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„Hiermit haben wir das einzig mögliche Verhältnis zwischen Poesie und Musik, Wort und Ton bezeichnet: das Wort, das Bild, der Begriff sucht einen der Musik analogen Ausdruck und erleidet jetzt die Gewalt der Musik an sich. In diesem Sinne dürfen wir in der Sprachgeschichte des griechischen Volkes zwei Hauptströmungen unterscheiden, je nachdem die Sprache die Erscheinungs- und Bilderwelt oder die Musikwelt nachahmte.“ (GT III-1, 45)

      Wir könnten uns dieses Verhältnis von Poesie und Musik so denken: wenn Beethoven ein Musikstück als ‚Pastorale‘ bezeichnet, so wird natürlich nicht beansprucht, mit dieser Musik werde eine ländliche Szene beschrieben, sondern die Beschreibung einer ländlichen Szene wird als eine mögliche verbale Haltung gegenüber dieser Musik vorgeschlagen, die selbst natürlich keineswegs von beschreibendem Charakter ist.

      Die hier gemeinte Musik beschreibt also nicht, sondern führt aus sich selbst heraus zu einer – poetischen – Sprache, weshalb „die lyrische Dichtung als die nachahmende Effulguration der Musik in Bildern und Begriffen“ betrachtet werden muss (GT III-1, 46). Der lyrische Künstler deutet also die Musik in Bildern (GT III-1, 47). Aufgrund ihrer Ursprünglichkeit ist es notwendig, der Musik „einen verschiedenen Charakter und Ursprung vor allen anderen Künsten“ zuzuerkennen (GT III-1, 99 –100). Nietzsche schrieb sogar, gerade dies sei die „wichtigste Erkenntnis aller Ästhetik, mit der, in einem ernstern Sinne genommen, die Ästhetik erst beginnt.“ (GT III-1, 100) Deren Frage ließe sich aufgrund dieser Bedeutung der Musik deshalb auch so charakterisieren: „wie verhält sich die Musik zu Bild und Begriff?“ (GT III-1, 100) Offenbar handelt es sich hier um eine Übersetzung dessen in eine kunsttheoretische Frage, was Nietzsche auch als das Verhältnis von Dionysischem und Apollinischem beschreibt. Die Musik ist also nicht einfach irgendeine Kunst, sondern von besonderer Bedeutung, weil sie, obwohl selbst nicht sprachlich, doch eine Sprache aus sich entstehen lässt, die sich ursprünglich nicht aus einer Beziehung auf Zusammenhänge in der Welt rechtfertigt. Nietzsche spricht hier von der „Befähigung der Musik, den Mythus d. h. das bedeutsamste Exempel zu gebären und gerade den tragischen Mythus: den Mythus, der von der dionysischen Erkenntnis in Gleichnissen redet“ (GT III-1, 103)

      Aber auch innerhalb der Musik gab es nach Nietzsche in Griechenland eine entsprechende Unterscheidung zwischen einer apollinischen und einer dionysischen Form. Die apollinische Musik wird hörbar nur „in angedeuteten Tönen“ und als „Wellenschlag des Rhythmus“ – dies war nach Nietzsche vor allem die Musik der Kithara. Dagegen macht den Charakter der dionysischen Musik „die erschütternde Gewalt des Tones, der einheitliche Strom des Melos und die durchaus unvergleich­liche Welt der Harmonie“ aus (GT III-1, 29). Darüber hinaus ist diese Musik in erster Linie Tanz – „die

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      volle, alle Glieder rhythmisch bewegende Tanzgebärde.“ (GT III-1, 29 –30) Auch innerhalb der Musik erscheint also wieder die Unterscheidung zwischen dem Rauschhaften, Undifferenzierten, Unartikulierten auf der einen Seite und dem Besonnenen, Individuierten und Artikulierten auf der anderen Seite.

      Nietzsches Verständnis der Lyrik geht also davon aus, „dass die Lyrik ebenso abhängig ist vom Geiste der Musik als die Musik selbst, in ihrer völligen Unumschränktheit, das Bild und den Begriff nicht braucht, sondern ihn nur neben sich erträgt.“ (GT III-1, 47) Die Musik ist demnach von allen Künsten am fernsten der Individuierung und dem Gestaltbilden. Ist sie deshalb die ‚wirklichere Wirklichkeit‘ oder die ‚eigentliche Wahrheit‘, wie Nietzsches Formulierungen an manchen Stellen anzudeuten scheinen, wenn er etwa darauf hinweist, dass gerade die Musik sich symbolisch auf das „Ur-Eine“ und damit auf eine Sphäre „über aller Erscheinung und vor aller Erscheinung“ bezieht (GT III-1, 47)? Dies würde nur gelten, wenn wir diese Sphäre als die Wahrheit und die Erscheinung (den Bereich der ‚Bilder‘ als individuierter Gestalten) demgegenüber als ‚bloßen Schein‘ und Unwahrheit auffassen müssten.

      Wir werden noch näher darauf eingehen, dass dies in Nietzsches Denken keineswegs der Fall ist; aber schon die Bedeutung der Tragödie zeigt, dass der apollinische Schein nicht das Negative ist, das einfach beseitigt werden müsste, damit das Wahre übrig bleibt, denn die Tragödie enthält bekanntlich nicht nur Musik und Lyrik, sondern auch eine zusammenhängende Geschichte, die Bedeutung für das Leben des Publikums beansprucht. Auf dieser Grundlage wird bei Nietzsche die Erscheinung und damit die empirische Welt als Ergebnis einer ordnenden, bildenden, gestaltenden und damit individuierenden – also apollinischen – Leistung auf der Basis des dionysischen Ursprungs in Musik und Lyrik aufgefasst. Die Musik wird dann verstanden als eine symbolische Darstellung des Zustandes, der dieser ordnenden Leistung vorausliegend angenommen werden muss, um überhaupt von einer solchen Leistung sprechen zu können, also als eine Darstellung im Sinne einer Repräsentation oder einer Referenz auf das, was im Reich der Ordnung, der Gestalten und damit der Individuierung anders nicht erscheinen kann.

      Wichtiger


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