Herausforderungen der Wirtschaftspolitik. Dirk Linowski
Читать онлайн книгу.rel="nofollow" href="#fb3_img_img_7e542ee1-d595-53a4-adfb-bb17e25dee0a.jpg" alt=""/>Aufgabe zur Selbstreflexion:
Versuchen Sie, die für Sie fünf wichtigsten „Güter“ einer Gesellschaft im allgemeineren volkswirtschaftlichen Sinne zu benennen (z.B. Eigenschaften, die mit Demokratie zusammenhängen, oder Demokratie ganz allgemein, öffentliche Sicherheit, Funktionsfähigkeit des Rechtssystems, Öffnungszeiten der Supermärkte, Qualität der Fußballnationalmannschaft usw.) und ihre subjektiven Wahrnehmungen auf einer diskreten Fünferskala von „trifft ganz zu“ bis „trifft überhaupt nicht“ auf Deutschland, Frankreich, Großbritannien, China und die USA (auch wenn Sie nicht alle diese Länder selbst besucht haben) anzuwenden und ermitteln Sie nachfolgend die Summen der absoluten Abstände. Das Ergebnis wird Sie vermutlich überraschen!
In dem großartigen Buch des englischen Wissenschaftshistorikers Peter Watson „Ideen: Eine Kulturgeschichte von der Entdeckung des Feuers bis zur Moderne“ merkt Watson als Kommentar zur Entstehung der altgriechischen Demokratien an: „Aber wenigstens verdeutlicht es, dass das, was wir im 21. Jahrhundert als Demokratie ansehen, in Wahrheit eine Wahloligarchie ist.“[11] Diese Aussage, über die es sich nachzudenken lohnt, bezieht sich nicht auf RusslandRussland oder ChinaChina, sondern auf „unsere“ westlichen Demokratien. Noch besser sollte es der ehemalige US-Präsident Jimmy Carter gewusst haben, als er 2015 – vor der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten! – festhielt: „Jetzt ist [das politische System der USA] nur noch eine Oligarchie, in der unbegrenzte politische Bestechung das Wesen der Nominierung zum Präsidenten oder der Wahl zum Präsidenten ausmacht. Und das Gleiche gilt für die Gouverneure, US-Senatoren und Kongressabgeordneten. Jetzt haben wir gerade eine Subversion unseres politischen Systems erlebt, als Lohn für Großspender, die Gefälligkeiten für sich selbst wollen, erwarten und manchmal auch bekommen, nachdem die Wahl vorbei ist.“ [12]
Wir – jeder von uns – haben per se die Angewohnheit, Wertungen zu treffen, ohne die Voraussetzungen zu hinterfragen. Interessante Ausführungen dazu und vieles mehr finden Sie im gut lesbaren Buch des einzigen Nichtökonomen, der bisher den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaft erhalten hat: in Daniel Kahnemans „Schnelles Denken, langsames Denken“. Sehr verkürzt und salopper, frei nach dem englischen Philosophen John Locke ausgedrückt: Die wahren Verrückten sind diejenigen, die auf den falschen Voraussetzungen basierend die richtigen Schlussfolgerungen ziehen.
Im davor liegenden Bereich der Wirtschaftstheorie sind es die Konstrukte des homo oeconomicus, der Rationalität, des Wettbewerbs und der Regulierung, die in der vorherrschenden volkswirtschaftlichen Lehrbuchliteratur zumeist quasi-axiomatischen Charakter besitzen (die Forschung ist hier zum Teil allerdings schon deutlich weiter).
Die klassische Lehrbuchargumentation steht nicht nur im Widerspruch zu dem, was Sie täglich wirtschaftlich erleben. Ein intellektueller Vordenker der sogenannten Libertaristen, Peter Thiel, wird unter anderem derart zitiert: „Kreative Monopole ermöglichen neue Produkte, von denen alle profitieren. WettbewerbWettbewerb bedeutet keinen Profit, für niemanden.“ Weiter: Monopole haben „einen schlechten Ruf“ jedoch nur, „weil Wettbewerb eine Ideologie ist.“[13]
Zur qualitativ gleichen Schlussfolgerung, wenngleich auf anderen Wegen, kommt der Schweizer Ökonom Mathias Binswanger. Ausgangspunkt von Binswangers Überlegungen ist die Beobachtung, dass der Preismechanismus für (eine gewisse) Effizienz sorgt, wenn Markt und Wettbewerb zusammenfallen. Markt und Wettbewerb sind aber verschiedene Dinge, die sich keinesfalls bedingen. So gibt es im Sport zumeist Wettbewerb, aber keinen Markt und Kartelle oder Monopole kontrollieren einen Markt, auf dem kein Wettbewerb herrscht. In seinem Buch „Sinnlose Wettbewerbe: Warum wir immer mehr Unsinn produzieren“ legt Binswanger dar, dass gerade Kennzahlensysteme, die im Hochschulbereich und im Gesundheitswesen angewendet werden, zumeist das Gegenteil dessen bewirken, was sie tatsächlich bewirken sollen. Indem hoch qualifizierte Ärzte und Universitätsprofesoren permanent nachweisen müssen, dass sie erfolgreich tätig sind, werden sie nicht nur Teil einer Bürokratie, sondern sie haben vor allem weniger Zeit für ihre eigentliche Kerntätigkeit zur Verfügung. Aus der Tatsache, dass Teilaspekte von Qualität messbar sind, folgt nicht, dass Qualität als Ganzes messbar ist! Um zu entscheiden, ob etwas insgesamt gut ist oder nicht, gibt es zumeist nur ein „Gefühl“ (vgl. wiederum Erkenntnisse des altchinesischen Philosophen Menzius, auf die in Kapitel 13 kurz Bezug genommen wird).
Binswanger verweist darauf, dass Albert Einstein heute nie mehr Professor hätte werden können (wie zahlreiche andere Geistesriesen in der Mathematik und Physik ebenso nicht): Er zeigt, dass der permanenten Kontrolltätigkeit bzw. der Kennziffernverwendung ein bedenkliches Menschenbild zugrunde liegt, das vereinfacht besagt, dass Menschen nur auf Zuckerbrot und Peitsche reagieren. Aus der Tatsache, dass vielleicht 5% oder 10% der Richter, Ärzte oder Lehrer faul sind, werden die verbleibenden 90% oder 95% von ihrer Organisation mit einem „mechanisierten Misstrauen“ konfrontiert, das oft die Freude an der Arbeit verdirbt. Intrinsische Motivation oder Freude kommt in diesem System nicht vor. Ohne Freude an der Arbeit sinkt aber die Qualität geistiger Arbeit.
Letztlich wird mit Verweis auf Kennzahlensysteme versucht, persönliche Verantwortung zu reduzieren, da Entscheidungen, so falsch sie ex post gewesen waren, (pseudo-)objektiv begründet wurden. Gerade im Gesundheitssystem wurden Ziel (Menschen gesund machen) und Nebenbedingung (die Kosten dafür dürfen nicht aus dem Ruder laufen) bisweilen ins Groteske vertauscht. Karitative Dinge wie Blutspenden wurden durch bezahlte Blutspenden ersetzt, welche insgesamt durch eine schlechtere Blutqualität als zuvor charakterisiert waren usw., usw.
Lesen Sie bei Interesse auch Kapitel 1 und 2 in Hal Varians und Carl Shapiros Buch „Information Rules“, in dem vor mehr als 20 Jahren dargestellt wurde, dass Industrien bzw. Produkte, die durch hohe Fixkosten (die zumeist und dann zum größten Teil Sunk Costs sind) und niedrige variable Kosten charakterisiert sind, zur Bildung von temporären Monopolen tendieren müssen.
Eine Konsequenz dieser technologischen Entwicklung ist, dass einzelne Unternehmen finanziell und intellektuell (!) derart mächtig geworden sind, dass es selbst größeren Staaten schwerfällt, mit ihnen auf Augenhöhe zu verhandeln. Ende 2020 war jedes der Unternehmen Apple, Amazon, und Microsoft teurer (technisch durch die Marktkapitalisierung ausgedrückt) als der gesamte DAX30 (oder synonym DAX), zudem machten diese drei Unternehmen zusammen mit Google und Facebook im wichtigsten US-Börsenindex S&P 500 ca. ein Viertel der gesamten US-Marktkapitalisierung aus.[14]
Diese Entwicklung kam natürlich nicht aus dem Nichts. In Tabelle 1.1 werden die Börsenkapitalisierungen der teuersten Firmen weltweit im Jahr 2004 und im Jahr 2014 gegenübergestellt.
2004 | 2014 | ||||
Börsenwert in Mrd. US-Dollar | Börsenwert in Mrd. US-Dollar | ||||
1 | General Electric (USA) | 331 | 1 | Apple (USA) | 612 |
2 | Microsoft (USA) | 308 | 2 | Exxon Mobil (USA) | 425 |
3 | Exxon Mobil (USA) | 290 | 3 | Google (USA) | 390 |
4 | Pfizer (USA) | 262 | 4 | Microsoft (USA) | 370 |
5 | Citigroup (USA) | 240 | 5 |
Berkshire Hathaway |