Herausforderungen der Wirtschaftspolitik. Dirk Linowski
Читать онлайн книгу.ist direkt mit den Schwierigkeiten verbunden, die Funktionsfähigkeit des Rechtsstaats, wie wir ihn kennen und schätzen, aufrechtzuerhalten.Hoffnung macht hier der Ende 2020 tatsächlich noch gelungene Vertrag über einen geordneten Austritts Großbritanniens aus der EU in Folge des Ergebnisses des Mitte 2016 abgehaltenen Referendums.Hier ist Zurückhaltung angebracht, Solidarität „nur“ von den anderen EU-Mitgliedstaaten einzufordern. Die Entscheidungsfindung deutscher Bundesregierungen in den vergangenen ca. 20 Jahren wurde und wird in unseren Nachbarländern oft mit derjenigen von „Big Gorilla” USA verglichen; mit anderen Worten: Deutschland trifft unilaterale Entscheidungen und die kleinen Länder bzw. deren Regierungen müssen folgen, ob sie wollen oder nicht. Dies betrifft die nach dem Unfall von Fukushima im Frühjahr 2011 abrupt eingeleitete „Energiewende“ sowie die Entscheidung der deutschen Bundesregierung im Sommer 2015, die deutschen Grenzen mit der Begründung, eine humanitäre Katastrophe zu verhindern, zu öffnen. Unabhängig davon, ob diese Sichtweise zahlreicher Nachbarn stimmt oder nicht: Es gilt das aus dem Englischen kommende Sprichwort Perception is Reality (wobei diese „Erkenntnis“ u.a. bereits im alten China gewonnen und von Menzius formuliert wurde).
2 Entwicklung von Strategien, mit MigrationMigrationsströmen innerhalb der EU und insbesondere aus Nordafrika und dem Nahen Osten kommend umzugehen: Ende 2020 existierte weder ein Konsensus noch eine schlüssige Strategie, wie diese Flüchtlingsströme (und die Sicherung der EU-Außengrenzen) für die europäischen Empfängerstaaten beherrschbar gemacht werden können. Die südeuropäischen Staaten, die seit mehr als 10 Jahren am meisten unter der Wirtschaftskrise leiden, werden mit diesem Problem auch finanziell von den reichen und stabilen Nordländern, die keine relevanten Außengrenzen der EU haben, zu sehr allein gelassen. Hier existiert in mehrerlei Hinsicht ein Bezug zur globalen Umweltkrise.
3 Entwicklung von (gesamteuropäischen?) Strategien zum Umgang mit Russland: Mehrere osteuropäische Staaten wie Polen, Estland, Lettland und Litauen fühlen sich von Russland permanent bedroht, auch wenn Russland behauptet, keinerlei Angriffsgelüste gegenüber der NATO zu verspüren. RusslandRussland bzw. seine politische Elite fühlt sich wiederum von der NATO, die ihrerseits behauptet, nur Verteidigungsaktivitäten zu verfolgen, bedrängt und bedroht. Tatsächlich finden wir uns inzwischen in einer gefährlichen Gemengelage wieder, bei der ein Zufall durchaus zu einer Eskalation zwischen dem Westen und Russland führen kann: eine Situation, die noch vor wenigen Jahren kaum jemand für möglich gehalten hätte. Auch hier gilt für jede der unterschiedlichen Perspektiven: Perception is Reality.
Filmtipp:
Diese Sicht der Dinge ist im Film „Rashomon“ des japanischen Regisseurs Akira Kurosawa aus dem Jahre 1950 meisterhaft dargestellt. Kurosawa geht noch einen Schritt weiter: Seine Akteure haben nicht nur unterschiedliche Sichtweisen der Realität, sondern sie erfuhren unterschiedliche Realitäten.
Diese drei Eckpunkte wären Anfang 2014 vermutlich für die Mehrzahl der in diesem Text vorgestellten politischen Argumentationen hinreichend gewesen. Tatsächlich stellt sich das Gesamtbild sieben Jahre später deutlich komplizierter dar. Zusätzlich zu den drei erstgenannten prägen weitere sechs Entwicklungen seit Kurzem unser Bewusstsein und unsere Wahrnehmung einer instabiler gewordenen Welt:
1 Die Preise von Rohstoffen, insbesondere Erdöl (vgl. den Langfrist-Rohölchart in Abb. 1.1), Erdgas, Industrie- und Edelmetallen, aber auch von Agrarrohstoffen und Halbprodukten wie Stahl schwanken seit dem Ausbrechen der Finanzkrise teils dramatisch. So sind diese in den Jahren 2014 und 2015 sehr stark gefallen, bevor sie sich im Verlauf des Jahres 2016 wieder moderat erholten, um zu Beginn des Jahres 2020 wieder zu kollabieren, um sich kurz darauf wieder zu erholen… Niedrige Rohstoffpreise sollten uns als Importeure von Rohstoffen nicht zum Jubeln verleiten, sondern mögliche politische Krisen in rohstoffexportierenden und von den betreffenden Erlösen abhängigen Staaten antizipieren lassen. Kurz- und mittelfristig dürften am wenigsten Russland (vgl. Kapitel 12), dafür aber zahlreiche Golfstaaten, darunter Saudi-Arabien, ebenso Venezuela, Nigeria, Brasilien und diverse andere Schwellenländer stärker betroffen sein.
Rohölpreisentwicklung der Sorte BRENT von 1985–2020 in US-Dollar pro Barrel1 (Eigene Darstellung: Daten von Refinitiv)
1 Terrorism is back. Die durch die terroristischen Attacken im November 2015 in Paris geprägte westliche Wahrnehmung, ist, weil stark zeitpunktbezogen und europazentriert, irreführend. Die Angriffe von Paris waren „nur“ ein schreckliches Ereignis innerhalb von wenigen Monaten bzw. Jahren in einer Kette terroristischer Anschläge, die bereits Jahrzehnte andauern. Sie sind in eine Reihe von mörderischen Anschlägen weltweit (in der Türkei, Tunesien, auf russische Touristen in Ägypten, im Libanon, in der Yunnan-Provinz in China u.v.m.) einzuordnen. Den wirtschaftlichen Konsequenzen der Anschläge in Tunesien im Jahr 2015, die praktisch den Zusammenbruch der Haupteinnahmequelle des Landes, des Tourismus’, zur Folge hatte, steht in Europa bisher nichts annähernd Gleichartiges gegenüber. Als Folge werden politische Allianzen im Nahen Osten seit ca. drei Jahren neu gedacht (vgl. Punkt 3 und Punkt 6).
2 Der im Dezember 2010 beginnende sogenannte Arabische Frühling war offensichtlich deutlich mehr Hoffnung als Realität: Der gesamte Nahe Osten (englisch: Middle East) und große Teile Nordafrikas werden entweder (wieder) von diktatorischen Regimes „regiert“ oder sie sind in Anarchie und Bürgerkrieg abgeglitten. Allianzen sind, sofern überhaupt vorhanden, oft kurzlebig und zweckgebunden. Zu den „Überraschungen“ der vergangenen Jahre zählten die wechselseitigen (temporären?) Annäherungen zwischen Saudi-Arabien, Israel und Russland. Die geopolitische Situation im Nahen Osten und hier insbesondere der seit dem Jahr 2011 andauernde Syrienkonflikt ist wiederum direkt mit der Flüchtlings- bzw. Migrationsproblematik und der RusslandRusslandpolitik der EU bzw. ihrer Nationalstaaten verwoben.
3 Anfang des Jahres 2020 war der US-Dollar fraglos die Weltleitwährung Nummer eins. Die Schwankungen des Wechselkurses von US-Dollar und Euro, der zweitwichtigsten Weltwährung, waren in den vergangenen Jahrzehnten aber immens (s. Abb. 1.2). So verlor der US-Dollar gegenüber dem Euro z.B. von 2002 bis 2008 innerhalb von ca. 6 Jahren fast die Hälfte seines Wertes, um sich danach wieder auf relativ niedrigem Niveau zu erholen (vgl. Exkurs zu Kapitel 14).
Wechselkurs US-Dollar pro Euro 1985–2020 (Eigene Darstellung: Daten von Refinitiv)
Tatsache ist, dass die Dominanz der US-Währung mittelfristig zur Disposition steht: So wurde die Währung der Volksrepublik China, der Renminbi (RMB), im Jahre 2016 fünfte Reservewährung des Internationalen Währungsfonds (IWF). Dies hatte zunächst einen eher symbolischen Wert, da China bereits einen Großteil seiner Handelsgeschäfte, und das nicht nur mit Entwicklungsländern, in RMB abschließt. Zusammen mit der Ankündigung der chinesischen Zentralregierung, Chinas Währung schrittweise frei konvertierbar zu machen, wird dies Auswirkungen auf die internationale politische Machtbalance haben. Währung ist Macht: Im günstigen Fall dürfen wir langfristig die Herausbildung eines stabilen Oligopols zwischen US-Dollar, Euro und RMB erwarten.
1 Mit dem Brexit hat Anfang 2021 eine der wirtschaftlich und militärisch stärksten Nationen die EU verlassen. Es wird im optimistischen Fall nur einige wenige Jahre dauern, bis sich zwischen Großbritannien und der (Rest-)EU ein „normales“ und hoffentlich freundschaftliches Nachbarschafts- und Arbeitsverhältnis herausgebildet haben wird. Deutschland als bevölkerungsstärkstes Land und wirtschaftliches Zentrum der Europäischen Union wird teilweise für die EU-Nettozahlungen Großbritanniens einstehen und zudem zusätzliche Ausgaben in den Verteidigungshaushalt einstellen müssen, um der Selbstverpflichtung, in Zukunft zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in die Verteidigung zu investieren, wenigstens mittelfristig zu genügen. In diesem Kontext wird häufig der Ruf nach einem Kerneuropa und damit verbunden nach der Stärkung bzw. „(Re-)Vitalisierung“ der von de Gaulle und Adenauer initiierten deutsch-französischen Achse laut.[2] Diese Diskussion ist jedoch nicht neu, sondern derzeit weit hinter dem zurück, was Charles de Gaulle angedacht hatte, als er als französischer Präsident Anfang der 1960er