Herausforderungen der Wirtschaftspolitik. Dirk Linowski

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Herausforderungen der Wirtschaftspolitik - Dirk Linowski


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auch nicht alle arbeiten.)[31]

      Seit Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre sind in allen wichtigen Industrieländern die Einkommen des oberen Fünftels der Einkommenspyramide bedeutend stärker gestiegen als die des „Restes“. Dass wir quantitativ zwar keine amerikanischen Verhältnisse – bereits 2016 verdienten amerikanische Spitzenmanager mehr als das 300-fache eines durchschnittlichen (!) Arbeiter- oder Angestelltengehaltes – haben, uns aber offensichtlich auch an obszöne Gehälter von Angestellen in der Spitzengruppe gewöhnt haben, können Sie leicht nachprüfen, indem Sie die öffentlich zugänglichen Vorstandgehälter von VW, Siemens, BASF usw. mit normalen guten Gehältern vergleichen. Sehr empfohlen sei Ihnen Nobelpreisträger Joseph Stiglitz’ Buch „Der Preis der Ungleichheit“.

      Arbeiten mit geschätzten Durchschnittswerten

      Natürlich bleibt die Ermittlung von Durchschnitten sinnvoll. Jedenfalls in einem ersten Schritt. Echte Statistiker mögen sich wegen der Hemdsärmlichkeit des Vorgehens bei den folgenden Beispielen die Haare raufen und zahlreiche methodische Einwände erheben: Hier geht es aber einzig und allein darum, „vernünftige“ und interpretierbare Schätzwerte bezüglich der Dimension der in Frage stehenen Größen zu ermitteln. Beachten Sie, dass die Input-Zahlen stets bewusst einfach gewählt wurden.

      Wenn Sie zum Beispiel einen schnellen Schätzwert für die durchschnittliche Anzahl der Todesfälle pro Tag in Deutschland ermitteln wollen, bietet sich an, die Gesamtbevölkerung durch die approximative Lebenserwartung zu dividieren, um eine erwartete Anzahl von Todesfällen pro Jahr zu schätzen: Wir nehmen bei 80 Millionen Menschen in Deutschland eine durchschnittliche Lebenserwartung von 80 Jahren an; ermitteln 1.000.000 Todesfälle pro Jahr und dividieren großzügig aufgerundet durch 400 als Näherungswert für die Anzahl der Tage im Jahr, auch um die Abweichung von der Gleichverteilung der Jahrgänge etwas zu korrigieren. Unser Schätzwert beträgt 2.500 Tote pro Tag in Deutschland und ist damit nicht sehr weit vom „echten“ Wert entfernt. Statista gibt für das Schaltjahr 2018 954.874 Todesfälle in Deutschland und damit durchschnittlich 2.608,945 Tote pro Tag an. Unsere Schätzung ist mit etwas weniger als 5% Abweichung von diesem wahren Wert also ganz brauchbar. (Beachten Sie, dass es saisonale Unterschiede gibt: Der Monat mit den durchschnittlich höchsten Todeszahlen war in den letzten Jahrzehnten in Deutschland der März).

      Bei Geldbeträgen fehlt uns zumeist die Vorstellungskraft, was große absolute Summen für ein Gemeinwesen bedeuten. Wenn also berichtet wird, dass Deutschland bei der Finanzierung des WHO-Haushaltes „in dem Zweijahreshaushalt 2016/17 mit rund 158,5 Millionen US-Dollar pro Jahr einen Anteil von 6,4%“ trägt, bedeutet dies, dass der Beitrag Deutschlands zur WHO bei weniger als 1 US-Dollar pro Bundesbürger und Jahr lag. Da sich der Wechselkurs zwischen Euro und US-Dollar in dieser Zeit zwischen 1,08 US-Dollar und 1,24 US-Dollar pro Euro bewegte, erschwert eine exakte Angabe; unabhängig davon landen wir aber bei weniger als einem Euro pro Person und Jahr. Wenn Deutschland 525 Millionen Euro für die internationale Zusammenarbeit bei der Entwicklung von Impfstoffen und Medikamenten gegen das Coronavirus bereitstellen will (Nachricht vom 5. Mai 2020), sind dies etwas mehr als 6 Euro pro Person und Jahr usw.

      Als im Jahre 2018 von 12 bis 15 Milliarden Euro die Rede war, die Deutschland auf Grund des Brexits mehr pro Jahr an den EU-Haushalt überweisen sollte, entsprach dies immerhin schon 150 bis 180 Euro pro Person (Kinder und Rentner eingeschlossen) und Jahr. Überlegen Sie selbst, ob z.B. die Aussage, dass es sich um 321,48 Euro pro Erwerbstätigen in Deutschland und Jahr handelte, zielführender ist und welche Annahmen (Gleichsetzung von Teilzeitbeschäftigen und Vollzeitbeschäftigten u.v.m.) dahinständen.

      Unabhängig von der Sinnhaftigkeit dieser Zahlungen wird leicht ersichtlich, dass es sich hier um volkswirtschaftlich nicht wirklich dramatische Größen handelt. Diese qualitative Aussage kann so nicht gemacht werden, wenn die staatlichen Kredite und Garantien in Folge der Corona-Krise betrachtet werden, die sich fast ausnahmslos im fünfstelligen Eurobetrag pro Person bewegen.

      Arbeiten mit Wachstumsraten

      Wir sind es gewöhnt, Wachstum vorauszusetzen. Dies betrifft das BIP, die Bevölkerung, und die reale „Vermehrung“ von Geld, die auf ertragreichen Investitionen beruht.

      Auch wenn die meisten Menschen in der Euro-Zone seit ca. 10 Jahren kaum noch wissen, was nominale Zinsen sind bzw. waren, haben fast alle schon einmal die Zinseszinsformel gesehen.

      Wir ersetzen nun den Zins verallgemeinernd durch eine durchschnittliche Wachstumsrate g. Dann lautet die allgemeine Wachstumsformel

      wobei V0 den Startwert zum Zeitpunkt t = 0 und VT den Wert der Variable V nach T Perioden darstellen. Die durchschnittliche Wachstumsrate g ermittelt sich durch Umstellen von (*).

      Laut Statista waren in den Studienjahren 2009/10 2.121.190 Studierende und 2019/2020 2.897.336 Studierende an deutschen Hochschulen eingeschrieben. Wir erhalten somit für den Zeitraum von 2009/2010 bis 2019/2020 ein durchschnittliches jährliches Wachstum der Anzahl der Studierenden in Höhe von 3,16%. Um dieses sinnvoll einordnen zu können, benötigen wir allerdings weitere Informationen: Wie entwickelte sich insbesondere die Teilpopulation, zu der die Studienanfänger gehören, insgesamt? Wir abstrahieren nun vom Sondereffekt des Zuzuges von mehr als 1 Million überwiegend junger Flüchtlingen seit 2015 und vergleichen vereinfacht die Anzahl der Geburten im ersten gesamtdeutschen Jahre 1991 mit der Anzahl der Geburten im Jahre 2001 (die 2019 ein Studium hätten aufnehmen können): Hier fand ein Rückgang von 830.019 auf 734.475 statt. Die Anzahl der Studierenden stieg also von 2009 bis 2019 „auf Kosten des Restes“ um mehr als 4% pro Jahr.

      Fehler 1. und 2. Art und statistische Tests

      Nehmen Sie an, dass Sie Kreditsachbearbeiter bei einer Bank sind. Sie können nun zwei Arten von Fehlern machen. Sie genehmigen einen Kredit an einen Kunden, der sich später als schlechter Kunde erweist und Sie verweigern einem Kunden, der ein guter Kunde gewesen wäre, den Kredit. Zwischen Ihrer Entscheidung und der Erkenntnis, ob Ihre Nullhypothese „Der Kunde ist ein guter Kunde.“2 korrekt war oder nicht, liegt eine Zeitperiode.

      Sie können also, wie überall im Leben, das Falsche tun und das Richtige nicht tun. Beobachten können Sie allerdings nur den sogenannten Fehler 1. Art, wenn sie später feststellen, dass Ihr Kunde nicht vertragsgemäß zurückzahlt, dass Sie also das Falsche getan haben. Von einem Kunden, dem Sie den Kredit verweigert haben, können Sie nur ahnen, dass er vielleicht doch ein guter Kunde gewesen wäre und dass Sie somit das Richtige nicht getan haben.

      Tatsächlich sind aber beide Fehler interdependent: Um dies zu verstehen, genügt es zu fragen, wieviele Kunden Ihre Bank haben wird, wenn Sie absolut sicher sein wollen, keinen schlechten Kunden zu haben? Die Antwort ist, dass Sie keinen Kunden haben werden. Je kleiner der Fehler 1. Art, die Bereitschaft, etwas falsch zu machen, um so größer ist also der Fehler 2. Art, das Richtige nicht zu machen.

      Die Werte von α = 1% oder α = 5%, die im Allgemeinen bei wissenschaftlichen Studien und Meinungsumfragen verwendet werden, sind dabei lediglich Konventionen. Tatsächlich sollte der Fehler 1. Art Ihre Fehlertoleranz in einem speziellen Fall widerspiegeln. Diese wird bei Sicherheitssystemen von Kraftwerken und Schnellzügen sicherlich nicht 1% sein können und bei Investments in Startups gern oberhalb von 50% liegen können.

      Kommen wir zu einer Anwendung der Interpretation eines Tests. Im Zuge der Corona-Krise wurde regelmäßig über getestete und nichtgeteste Personen geschrieben: Dabei wurde mitunter auch erwähnt, dass Tests fehlerhafte Resultate lieferten. Tatsächlich liegt der Teufel aber auch hier in den Grundproblemen eines jeden statistischen Tests.

      Stellen Sie sich vor, gerade aus dem Urlaub nach Hause zurückgekommen zu sein. Zufällig erfahren Sie, dass in der Gegend, in der Sie Ihren Urlaub verbracht haben, eine seltene, aber sehr gefährliche Krankheit grassierte. Sie entscheiden sich, einen Arzt aufzusuchen und sich einem medizinischen Test zu unterziehen. So ein Test hat nun zwei mögliche Ergebnisse: positiv (Der Test klassifiziert


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