Herausforderungen der Wirtschaftspolitik. Dirk Linowski

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Herausforderungen der Wirtschaftspolitik - Dirk Linowski


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Die (historisch neue) Alterung der Bevölkerung Deutschlands wird quasi-deterministisch Auswirkungen auf unsere sozialen Sicherungssysteme haben müssen. Einer geringer werdenden Anzahl von Menschen im Arbeitsalter steht – zumindest für eine Transitionsperiode, die mindestens eine Generation andauern wird – eine größer werdende Anzahl von Menschen gegenüber, die nicht in Beschäftigungsverhältnissen stehen (wobei deren überwiegender Teil das Arbeitsleben bereits hinter sich gelassen hat). Dies betrifft ebenso die „Einwanderung“ in die deutschen Sozialversicherungssysteme, die kurz- und mittelfristig die Gesamtbudgetverteilung der deutschen Volkswirtschaft in Richtung Konsumption zulasten von Investitionen verschieben wird.

      In Deutschland wird eine rege Debatte darüber geführt, ob und wie die Lebensarbeitszeit gestreckt bzw. verlängert werden kann und wie zukünftige Arbeits- und Lebensmodelle aussehen können. Tatsächlich ist Europa aber weit entfernt von einer auch nur näherungsweisen Konvergenz der Lebensarbeitszeit, die in direkter Beziehung zum Rentenbezug steht. So betrug im Jahr 2018 die durchschnittliche Lebensarbeit in Deutschland 38,4 Jahre (Männer arbeiteten im Durchschnitt ca. 4 Jahre länger als Frauen); in Schweden lag der Durchschnittswert bei 41,7 und in Italien bei 31,6 Jahren. Hauptursachen für die unterschiedlichen Lebensarbeitszeiten sind das nicht einheitliche Renteneintrittsalter und die Ausprägung der Jugendarbeitslosigkeit. Auch wenn die Definition eines gemeinsamen EU-Renteneintrittsalters aus zahlreichen Gründen problematisch ist, wäre diese ein sinnvoller erster Schritt zu einer weitergehenden Harmonisierung. Es wird sonst im besten Fall eine politische Herausforderung bleiben, die Bevölkerungen von Ländern mit hoher Lebensarbeitszeit im gegebenen Fall zu überzeugen, sich solidarisch mit Bevölkerungen mit geringerem Renteneintrittsalter bzw. kürzerer Lebensarbeitszeit zu zeigen.

      3.1 Kranken- und Pflegeversicherung

      Bei der heutigen Organisation des Gesundheitswesens in Deutschland wird ein Anstieg der Gesundheitskosten mit zunehmender Alterung der Bevölkerung nicht aufzuhalten sein, es sei denn, es werden drastische Leistungseinschränkungen in der Grundsicherung in Betracht gezogen.1 Die GesundheitsausgabenGesundheitsausgaben ohne Arzneimittelausgaben für einen 60-jährigen waren im Jahre 2016 etwa 2,8-mal und die eines 80-jährigen etwa 5,7-mal so hoch wie für einen 30-jährigen; qualitativ ähnliche Relationen existieren bei Arzneimittelausgaben. Ihr längeres Leben, Schwangerschaften und Geburten erklären intuitiv, dass (wenn auch nicht in welchem Maße) bei Frauen höhere Kosten vorliegen als bei Männern.[34]

      Interessant ist jedenfalls immer zu wissen, wer untersucht hat sowie was und wie untersucht wurde. Die bereits gestellte Frage „Cui bono?“ führt dabei nicht immer zu einer Antwort, aber oft in die richtige Richtung. Das Gesundheitswesen absorbierte im Jahr 2018 ca. 11,2% des BIPs der Bundesrepublik Deutschland.[35] Es sind dabei nicht nur die Alterung, sondern ebenso die Lebensbedingungen und Eigenheiten unseres Gesundheitssystems, die die Kosten nach oben treiben. Um profitabel zu sein, brauchen Krankenhäuser wie Arztpraxen Kranke und keine Gesunden: Es ist somit nicht überraschend, dass die Behandlungshäufigkeit besonders dort hoch ist, wo sich viele Ärzte befinden.

      Mit monokausalen Aussagen kommen wir aber auch hier nicht weiter: Von 1990 bis 2019 hat sich die Anzahl der berufstätigen Ärzte in Deutschland von ca. 237.700 auf ca. 402.100 fast verdoppelt2 [36], wobei der Anstieg der Ärzteschaft einerseits auf einer altersbedingt erhöhten Nachfrage nach ärztlichen Leistungen beruhte, andererseits aber auch neue Nachfrage generierte.

      Besonders betroffen von dieser Entwicklung sind die privaten Krankenversicherungen (deren Gründung auch als Ausdruck einer früheren Entsolidarisierung der Gesellschaft betrachtet werden kann), deren zukünftige Existenz mittelfristig durchaus in Frage steht. Die Kosten pro Bürger bzw. Versicherten betreffend ist statistischer Schrecken aller Kassen übrigens nicht der moderat rauchende und/oder trinkende Arbeiter oder Angestellte, sondern der gesundheitsbewusste, gebildete Mensch.[37] Es gibt natürlich auch Studien, die genau das Gegenteil behaupten.

      Stolpersteine bei wissenschaftlichen Studien und ihrer Methodik

      Wie bereits gesehen werden Statistiken oft benutzt, um Zusammenhänge darzustellen. Das Vorliegen von Kausalität, d.h. das Nachweisen eines Ursache-Wirkungszusammenhanges, zu zeigen, ist in den Sozialwissenschaften indes zumeist sehr schwierig (wenn nicht gar unmöglich).

      Als Beispiel diene die für die meisten von Ihnen vermutlich intuitiv nachvollziehbare Aussage, dass die Ausgaben eines Landes für sein Gesundheitssystem und die Lebenserwartung seiner Bewohner in einem direkten Zusammenhang stehen. Der vermutete Zusammenhang ist: Je mehr ein Land für sein Gesundheitssystem ausgibt, umso länger leben dort die Menschen.

      Nach kurzem Nachdenken ergeben sich allerdings bereits viele Fragen:

       Könnte es nicht sein, dass die längere Lebenserwartung die höheren Gesundheitsausgaben auslöst, weil alte Menschen kränker sind oder öfter krank werden als junge?

       Könnten nicht andere Ursachen (Ernährung, Klima, Kriegsvermeidung) die längere Lebenserwartung besser erklären?

       Woher kennt man überhaupt die Lebenserwartung von Menschen, die noch leben? (Diese Frage haben wir schon erörtert. Aus medizinischer Sicht: Eigentlich kann man hierzu doch nur für tote Menschen Aussagen treffen.)

       Woher weiß man, wie hoch die Gesundheitsausgaben sind? Was ist eine Gesundheitsausgabe? Wie geht man mit unterschiedlichen Preisen von z.B. Gesundheitsdienstleistungen um?

       und, und, und …

      Nicht überraschend ist, dass (nicht nur) in Deutschland das Pflegefallrisiko mit dem Alter steigt. In den Altersgruppen bis 60 Jahre ist es, vor allem weil es kaum noch den Körper ruinierende Berufe gibt (dies war vor 50 Jahren übrigens noch anders) sehr gering; danach steigt es aber steil an. Die Anzahl der über 80-jährigen in Deutschland wird c.p. von heute knapp 6 Mio. (eigene Berechnung) auf 9 Mio. im Jahr 2050 ansteigen. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung geht von einer notwendigen Verdreifachung des Beitragssatzes zur PflegeversicherungPflegeversicherung bis 2030 aus.[38] Alles ceteris paribus natürlich!

      In den Pflegeheim Rating Reporten, die das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung, die Philips GmbH und das Institute for Healthcare Business erstellen, wurde u.a. im Jahre 2014 geschätzt, dass die Zahl der Pflegebedürftigen von 2,6 Millionen im Jahre 2015 bis zum Jahre 2030 auf 3,5 Millionen Menschen steigen wird. Im Bericht für 2019 wurden für 2030 bereits 4,4 Mio. Pflegebedürftigen geschätzt.[39]

      In den folgenden 15–20 Jahren müssten damit ca. 100 Mrd. Euro in den Ausbau der stationären Pflege investiert werden, damit genügend Heimplätze für die wachsende Zahl der Pflegebedürftigen vorhanden sein werden. In der stationären Pflege müssten schließlich bis zu 475.000 Pflegefachstellen hinzukommen.[40] Die „Pflegeindustrie“ wird also wachsen, mit Auswirkungen hin zu Essensversorgern, Wäschereien und – Stichwort Windeln – Müllentsorgern.

      3.2 Rentenversicherung

      Die AltersvorsorgeAltersvorsorge in Deutschland stützt sich auf drei Säulen. Säule 1 bildet die gesetzliche, für alle Beschäftigten verpflichtende Rentenversicherung, durch die die Versicherten Anspruch auf eine Altersrente erwerben. Säule 2 besteht aus der betrieblichen, d.h. vom Arbeitgeber mitfinanzierten bzw. -organisierten Altersversorgung. Säule 3 bildet die private Vorsorge in Form eines eigenverantwortlich angesparten Vermögens, das im Alter „entspart“ werden kann.

      Die gesetzliche Rentenversicherung gehört wie die Kranken-, Unfall-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung zu den seit Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland schrittweise eingeführten Bismarck’schen Sozialgesetzen.

      Im Jahre 1954 wurde das sogenannte Umlageprinzip eingeführt: Die jüngeren Generationen kommen seitdem für die Renten der Alten auf und erwerben selbst einen Anspruch auf eine zukünftige Rente (Stichwort Generationenvertrag). Die eingezahlten Beiträge werden also nicht gespart, sondern sofort auf die laufenden Rentenzahlungen umgelegt, wobei sie durch Steuermittel „aufgestockt“


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