Wilhelm Meisters Lehrjahre. Ein Roman. Ehrhard Bahr

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Wilhelm Meisters Lehrjahre. Ein Roman - Ehrhard Bahr


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in den Wald gekommen, in welchen Wilhelm sehr verstimmt eintrat, weil die Äußerungen des Laertes ihm die Erinnerung an sein Verhältnis zu Marianen wieder lebendig gemacht hatten. Sie fanden nicht weit von einer beschatteten Quelle, unter herrlichen alten Bäumen, Philinen allein an einem steinernen Tische sitzen. Sie sang ihnen ein lustiges Liedchen entgegen, und als Laertes nach ihrer Gesellschaft fragte, rief sie aus: »Ich habe sie schön angeführt; ich habe sie zum Besten gehabt, wie sie es verdienten. Schon unterwegs setzte ich ihre Freigebigkeit auf die Probe, [122]und da ich bemerkte, dass sie von den kargen Näschern waren, nahm ich mir gleich vor, sie zu bestrafen. Nach unsrer Ankunft fragten sie den Kellner, was zu haben sei, der mit der gewöhnlichen Geläufigkeit seiner Zunge alles, was da war, und mehr als da war, hererzählte. Ich sah ihre Verlegenheit, sie blickten einander an, stotterten und fragten nach dem Preise. ›Was bedenken Sie sich lange‹, rief ich aus, ›die Tafel ist das Geschäft eines Frauenzimmers, lassen Sie mich dafür sorgen!‹ Ich fing darauf an, ein unsinniges Mittagmahl zu bestellen, wozu noch manches durch Boten aus der Nachbarschaft geholt werden sollte. Der Kellner, den ich durch ein paar schiefe Mäuler zum Vertrauten gemacht hatte, half mir endlich, und so haben wir sie durch die Vorstellung eines herrlichen Gastmahls dergestalt geängstigt, dass sie sich kurz und gut zu einem Spaziergange in den Wald entschlossen, von dem sie wohl schwerlich zurückkommen werden. Ich habe eine Viertelstunde auf meine eigene Hand gelacht und werde lachen, sooft ich an die Gesichter denke.« Bei Tische erinnerte sich Laertes an ähnliche Fälle; sie kamen in den Gang, lustige Geschichten, Missverständnisse und Prellereien zu erzählen.

      Ein junger Mann von ihrer Bekanntschaft aus der Stadt kam mit einem Buche durch den Wald geschlichen, setzte sich zu ihnen und rühmte den schönen Platz. Er machte sie auf das Rieseln der Quelle, auf die Bewegung der Zweige, auf die einfallenden Lichter und auf den Gesang der Vögel aufmerksam. Philine sang ein Liedchen vom Kuckuck, welches dem Ankömmling nicht zu behagen schien; er empfahl sich bald.

      »Wenn ich nur nichts mehr von Natur und Naturszenen hören sollte«, rief Philine aus, als er weg war; »es ist nichts [123]unerträglicher, als sich das Vergnügen vorrechnen zu lassen, das man genießt. Wenn schön Wetter ist, geht man spazieren, wie man tanzt, wenn aufgespielt wird. Wer mag aber nur einen Augenblick an die Musik, wer ans schöne Wetter denken? Der Tänzer interessiert uns, nicht die Violine, und in ein Paar schöne schwarze Augen zu sehen tut einem Paar blauen Augen gar zu wohl. Was sollen dagegen Quellen und Brunnen und alte, morsche Linden!« Sie sah, indem sie so sprach, Wilhelmen, der ihr gegenübersaß, mit einem Blick in die Augen, dem er nicht wehren konnte, wenigstens bis an die Türe seines Herzens vorzudringen.

      »Sie haben recht«, versetzte er mit einiger Verlegenheit, »der Mensch ist dem Menschen das Interessanteste und sollte ihn vielleicht ganz allein interessieren. Alles andere, was uns umgibt, ist entweder nur Element, in dem wir leben, oder Werkzeug, dessen wir uns bedienen. Je mehr wir uns dabei aufhalten, je mehr wir darauf merken und teil daran nehmen, desto schwächer wird das Gefühl unsers eignen Wertes und das Gefühl der Gesellschaft. Die Menschen, die einen großen Wert auf Gärten, Gebäude, Kleider, Schmuck oder irgendein Besitztum legen, sind weniger gesellig und gefällig; sie verlieren die Menschen aus den Augen, welche zu erfreuen und zu versammeln nur sehr wenigen glückt. Sehn wir es nicht auch auf dem Theater? Ein guter Schauspieler macht uns bald eine elende, unschickliche Dekoration vergessen, dahingegen das schönste Theater den Mangel an guten Schauspielern erst recht fühlbar macht.«

      Nach Tische setzte Philine sich in das beschattete hohe Gras. Ihre beiden Freunde mussten ihr Blumen in Menge herbeischaffen. Sie wand sich einen vollen Kranz und setzte ihn auf; sie sah unglaublich reizend aus. Die Blumen [124]reichten noch zu einem andern hin; auch den flocht sie, indem sich beide Männer neben sie setzten. Als er unter allerlei Scherz und Anspielungen fertig geworden war, drückte sie ihn Wilhelmen mit der größten Anmut aufs Haupt und rückte ihn mehr als einmal anders, bis er recht zu sitzen schien. »Und ich werde, wie es scheint, leer ausgehen«, sagte Laertes.

      »Mitnichten«, versetzte Philine. »Ihr sollt Euch keinesweges beklagen.« Sie nahm ihren Kranz vom Haupte und setzte ihn Laertes auf.

      »Wären wir Nebenbuhler«, sagte dieser, »so würden wir sehr heftig streiten können, welchen von beiden du am meisten begünstigst.«

      »Da wärt ihr rechte Toren«, versetzte sie, indem sie sich zu ihm hinüberbog und ihm den Mund zum Kuss reichte, sich aber sogleich umwendete, ihren Arm um Wilhelmen schlang und einen lebhaften Kuss auf seine Lippen drückte. »Welcher schmeckt am besten?« fragte sie neckisch.

      »Wunderlich!« rief Laertes. »Es scheint, als wenn so etwas niemals nach Wermut schmecken könne.«

      »So wenig«, sagte Philine, »als irgendeine Gabe, die jemand ohne Neid und Eigensinn genießt. Nun hätte ich«, rief sie aus, »noch Lust, eine Stunde zu tanzen, und dann müssen wir wohl wieder nach unsern Springern sehen.«

      Man ging nach dem Hause und fand Musik daselbst. Philine, die eine gute Tänzerin war, belebte ihre beiden Gesellschafter. Wilhelm war nicht ungeschickt, allein es fehlte ihm an einer künstlichen Übung. Seine beiden Freunde nahmen sich vor, ihn zu unterrichten.

      Man verspätete sich. Die Seiltänzer hatten ihre Künste schon zu produzieren angefangen. Auf dem Platze hatten [125]sich viele Zuschauer eingefunden, doch war unsern Freunden, als sie ausstiegen, ein Getümmel merkwürdig, das eine große Anzahl Menschen nach dem Tore des Gasthofes, in welchem Wilhelm eingekehrt war, hingezogen hatte. Wilhelm sprang hinüber, um zu sehen, was es sei, und mit Entsetzen erblickte er, als er sich durchs Volk drängte, den Herrn der Seiltänzergesellschaft, der das interessante Kind bei den Haaren aus dem Hause zu schleppen bemüht war und mit einem Peitschenstiel unbarmherzig auf den kleinen Körper losschlug.

      Wilhelm fuhr wie ein Blitz auf den Mann zu und fasste ihn bei der Brust. »Lass das Kind los!« schrie er wie ein Rasender, »oder einer von uns bleibt hier auf der Stelle!« Er fasste zugleich den Kerl mit einer Gewalt, die nur der Zorn geben kann, bei der Kehle, dass dieser zu ersticken glaubte, das Kind losließ und sich gegen den Angreifenden zu verteidigen suchte. Einige Leute, die mit dem Kinde Mitleiden fühlten, aber Streit anzufangen nicht gewagt hatten, fielen dem Seiltänzer sogleich in die Arme, entwaffneten ihn und drohten ihm mit vielen Schimpfreden. Dieser, der sich jetzt nur auf die Waffen seines Mundes reduziert sah, fing grässlich zu drohen und zu fluchen an: die faule, unnütze Kreatur wolle ihre Schuldigkeit nicht tun; sie verweigere, den Eiertanz zu tanzen, den er dem Publiko versprochen habe; er wolle sie totschlagen, und es solle ihn niemand daran hindern. Er suchte sich loszumachen, um das Kind, das sich unter der Menge verkrochen hatte, aufzusuchen. Wilhelm hielt ihn zurück und rief: »Du sollst nicht eher dieses Geschöpf weder sehen noch berühren, bis du vor Gericht Rechenschaft gibst, wo du es gestohlen hast; ich werde dich aufs äußerste treiben; du sollst mir nicht entgehen.« Diese [126]Rede, welche Wilhelm in der Hitze, ohne Gedanken und Absicht, aus einem dunklen Gefühl oder, wenn man will, aus Inspiration ausgesprochen hatte, brachte den wütenden Menschen auf einmal zur Ruhe. Er rief: »Was hab ich mit der unnützen Kreatur zu schaffen! Zahlen Sie mir, was mich ihre Kleider kosten, und Sie mögen sie behalten; wir wollen diesen Abend noch einig werden.« Er eilte darauf, die unterbrochene Vorstellung fortzusetzen und die Unruhe des Publikums durch einige bedeutende Kunststücke zu befriedigen.

      Wilhelm suchte nunmehr, da es stille geworden war, nach dem Kinde, das sich aber nirgends fand. Einige wollten es auf dem Boden, andere auf den Dächern der benachbarten Häuser gesehen haben. Nachdem man es allerorten gesucht hatte, musste man sich beruhigen und abwarten, ob es nicht von selbst wieder herbeikommen wolle.

      Indes war Narziß nach Hause gekommen, welchen Wilhelm über die Schicksale und die Herkunft des Kindes befragte. Dieser wusste nichts davon, denn er war nicht lange bei der Gesellschaft, erzählte dagegen mit großer Leichtigkeit und vielem Leichtsinne seine eigenen Schicksale. Als ihm Wilhelm zu dem großen Beifall Glück wünschte, dessen er sich zu erfreuen hatte, äußerte er sich sehr gleichgültig darüber. »Wir sind gewohnt«, sagte er, »dass man über uns lacht und unsre Künste bewundert; aber wir werden durch den außerordentlichen Beifall um nichts gebessert. Der Entrepreneur zahlt uns und mag sehen, wie er zurechtekömmt.« Er beurlaubte sich darauf und wollte sich eilig entfernen.

      Auf die Frage, wo er so schnell hinwolle, lächelte der


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