Wilhelm Meisters Lehrjahre. Ein Roman. Ehrhard Bahr

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Wilhelm Meisters Lehrjahre. Ein Roman - Ehrhard Bahr


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sich immer sehnten. Täglich an einem andern Orte zu essen war ihr höchster Wunsch. Diesmal sollte es eine Wasserfahrt werden.

      Das Schiff, womit sie die Krümmungen des angenehmen Flusses hinunterfahren wollten, war schon durch den Pedanten bestellt. Philine trieb, die Gesellschaft zauderte nicht und war bald eingeschifft.

      »Was fangen wir nun an?« sagte Philine, indem sich alle auf die Bänke niedergelassen hatten.

      »Das Kürzeste wäre«, versetzte Laertes, »wir extemporierten ein Stück. Nehme jeder eine Rolle, die seinem Charakter am angemessensten ist, und wir wollen sehen, wie es uns gelingt.«

      [144]»Fürtrefflich!« sagte Wilhelm, »denn in einer Gesellschaft, in der man sich nicht verstellt, in welcher jedes nur seinem Sinne folgt, kann Anmut und Zufriedenheit nicht lange wohnen, und wo man sich immer verstellt, dahin kommen sie gar nicht. Es ist also nicht übel getan, wir geben uns die Verstellung gleich von Anfang zu und sind nachher unter der Maske so aufrichtig, als wir wollen.«

      »Ja«, sagte Laertes, »deswegen geht sich’s so angenehm mit Weibern um, die sich niemals in ihrer natürlichen Gestalt sehen lassen.«

      »Das macht«, versetzte Madame Melina, »dass sie nicht so eitel sind wie die Männer, welche sich einbilden, sie seien schon immer liebenswürdig genug, wie sie die Natur hervorgebracht hat.«

      Indessen war man zwischen angenehmen Büschen und Hügeln, zwischen Gärten und Weinbergen hingefahren, und die jungen Frauenzimmer, besonders aber Madame Melina, drückten ihr Entzücken über die Gegend aus. Letztre fing sogar an, ein artiges Gedicht von der beschreibenden Gattung über eine ähnliche Naturszene feierlich herzusagen; allein Philine unterbrach sie und schlug ein Gesetz vor, dass sich niemand unterfangen solle, von einem unbelebten Gegenstande zu sprechen; sie setzte vielmehr den Vorschlag zur extemporierten Komödie mit Eifer durch. Der polternde Alte sollte einen pensionierten Offizier, Laertes einen vazierenden Fechtmeister, der Pedant einen Juden vorstellen, sie selbst wolle eine Tirolerin machen und überließ den Übrigen, sich ihre Rollen zu wählen. Man sollte fingieren, als ob sie eine Gesellschaft weltfremder Menschen seien, die soeben auf einem Marktschiffe zusammenkomme.

      [145]Sie fing sogleich mit dem Juden ihre Rolle zu spielen an, und eine allgemeine Heiterkeit verbreitete sich.

      Man war nicht lange gefahren, als der Schiffer stillehielt, um mit Erlaubnis der Gesellschaft noch jemand einzunehmen, der am Ufer stand und gewinkt hatte.

      »Das ist eben noch, was wir brauchten«, rief Philine, »ein blinder Passagier fehlte noch der Reisegesellschaft.«

      Ein wohlgebildeter Mann stieg in das Schiff, den man an seiner Kleidung und seiner ehrwürdigen Miene wohl für einen Geistlichen hätte nehmen können. Er begrüßte die Gesellschaft, die ihm nach ihrer Weise dankte und ihn bald mit ihrem Scherz bekanntmachte. Er nahm darauf die Rolle eines Landgeistlichen an, die er zur Verwunderung aller auf das artigste durchsetzte, indem er bald ermahnte, bald Histörchen erzählte, einige schwache Seiten blicken ließ und sich doch im Respekt zu erhalten wusste.

      Indessen hatte jeder, der nur ein einziges Mal aus seinem Charakter herausgegangen war, ein Pfand geben müssen. Philine hatte sie mit großer Sorgfalt gesammelt und besonders den geistlichen Herrn mit vielen Küssen bei der künftigen Einlösung bedroht, ob er gleich selbst nie in Strafe genommen ward. Melina dagegen war völlig ausgeplündert, Hemdenknöpfe und Schnallen und alles, was Bewegliches an seinem Leibe war, hatte Philine zu sich genommen; denn er wollte einen reisenden Engländer vorstellen und konnte auf keine Weise in seine Rolle hineinkommen.

      Die Zeit war indes auf das angenehmste vergangen, jedes hatte seine Einbildungskraft und seinen Witz aufs möglichste angestrengt, und jedes seine Rolle mit angenehmen und unterhaltenden Scherzen ausstaffiert. So kam man an dem Ort an, wo man sich den Tag über aufhalten wollte, [146]und Wilhelm geriet mit dem Geistlichen, wie wir ihn, seinem Aussehn und seiner Rolle nach, nennen wollen, auf dem Spaziergange bald in ein interessantes Gespräch.

      »Ich finde diese Übung«, sagte der Unbekannte, »unter Schauspielern, ja in Gesellschaft von Freunden und Bekannten, sehr nützlich. Es ist die beste Art, die Menschen aus sich heraus und durch einen Umweg wieder in sich hinein zu führen. Es sollte bei jeder Truppe eingeführt sein, dass sie sich manchmal auf diese Weise üben müsste, und das Publikum würde gewiss dabei gewinnen, wenn alle Monate ein nicht geschriebenes Stück aufgeführt würde, worauf sich freilich die Schauspieler in mehreren Proben müssten vorbereitet haben.«

      »Man dürfte sich«, versetzte Wilhelm, »ein extemporiertes Stück nicht als ein solches denken, das aus dem Stegreife sogleich komponiert würde, sondern als ein solches, wovon zwar Plan, Handlung und Szeneneinteilung gegeben wären, dessen Ausführung aber dem Schauspieler überlassen bliebe.«

      »Ganz richtig«, sagte der Unbekannte, »und eben was diese Ausführung betrifft, würde ein solches Stück, sobald die Schauspieler nur einmal im Gang wären, außerordentlich gewinnen. Nicht die Ausführung durch Worte, denn durch diese muss freilich der überlegende Schriftsteller seine Arbeit zieren, sondern die Ausführung durch Gebärden und Mienen, Ausrufungen und was dazu gehört, kurz das stumme, halblaute Spiel, welches nach und nach bei uns ganz verlorenzugehen scheint. Es sind wohl Schauspieler in Deutschland, deren Körper das zeigt, was sie denken und fühlen, die durch Schweigen, Zaudern, durch Winke, durch zarte, anmutige Bewegungen des Körpers eine Rede [147]vorzubereiten und die Pausen des Gesprächs durch eine gefällige Pantomime mit dem Ganzen zu verbinden wissen; aber eine Übung, die einem glücklichen Naturell zu Hülfe käme und es lehrte, mit dem Schriftsteller zu wetteifern, ist nicht so im Gange, als es zum Troste derer, die das Theater besuchen, wohl zu wünschen wäre.«

      »Sollte aber nicht«, versetzte Wilhelm, »ein glückliches Naturell, als das Erste und Letzte, einen Schauspieler, wie jeden andern Künstler, ja vielleicht wie jeden Menschen, allein zu einem so hoch aufgesteckten Ziele bringen?«

      »Das Erste und Letzte, Anfang und Ende, möchte es wohl sein und bleiben; aber in der Mitte dürfte dem Künstler manches fehlen, wenn nicht Bildung das erst aus ihm macht, was er sein soll, und zwar frühe Bildung; denn vielleicht ist derjenige, dem man Genie zuschreibt, übler daran als der, der nur gewöhnliche Fähigkeiten besitzt; denn jener kann leichter verbildet und viel heftiger auf falsche Wege gestoßen werden als dieser.«

      »Aber«, versetzte Wilhelm, »wird das Genie sich nicht selbst retten, die Wunden, die es sich geschlagen, selbst heilen?«

      »Mitnichten«, versetzte der andere, »oder wenigstens nur notdürftig; denn niemand glaube die ersten Eindrücke der Jugend überwinden zu können. Ist er in einer löblichen Freiheit, umgeben von schönen und edlen Gegenständen, in dem Umgange mit guten Menschen aufgewachsen, haben ihn seine Meister das gelehrt, was er zuerst wissen musste, um das Übrige leichter zu begreifen, hat er gelernt, was er nie zu verlernen braucht, wurden seine ersten Handlungen so geleitet, dass er das Gute künftig leichter und bequemer vollbringen kann, ohne sich irgendetwas [148]abgewöhnen zu müssen, so wird dieser Mensch ein reineres, vollkommneres und glücklicheres Leben führen als ein anderer, der seine ersten Jugendkräfte im Widerstand und im Irrtum zugesetzt hat. Es wird so viel von Erziehung gesprochen und geschrieben, und ich sehe nur wenig Menschen, die den einfachen, aber großen Begriff, der alles andere in sich schließt, fassen und in die Ausführung übertragen können.«

      »Das mag wohl wahr sein«, sagte Wilhelm, »denn jeder Mensch ist beschränkt genug, den andern zu seinem Ebenbild erziehen zu wollen. Glücklich sind diejenigen daher, deren sich das Schicksal annimmt, das jeden nach seiner Weise erzieht!«

      »Das Schicksal«, versetzte lächelnd der andere, »ist ein vornehmer, aber teurer Hofmeister. Ich würde mich immer lieber an die Vernunft eines menschlichen Meisters halten. Das Schicksal, für dessen Weisheit ich alle Ehrfurcht trage, mag an dem Zufall, durch den es wirkt, ein sehr ungelenkes Organ haben. Denn selten scheint dieser genau und rein auszuführen, was jenes beschlossen hatte.«

      »Sie scheinen einen sehr sonderbaren Gedanken auszusprechen«, versetzte Wilhelm.

      »Mitnichten! Das meiste, was in der Welt begegnet, rechtfertigt meine Meinung. Zeigen viele Begebenheiten im Anfange nicht einen großen Sinn, und


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