Der feine Unterschied. Philipp Lahm

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Der feine Unterschied - Philipp Lahm


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Europameister geworden ist.

      Ich habe Klinsmann als Spieler gekannt, aber ich bin ihm nie begegnet, höchstens einmal als Balljunge. Er ist nach einer sehr erfolgreichen Karriere als Stürmer nach Amerika gegangen und hat dort im Sportmanagement gearbeitet. Das lässt sich nicht verleugnen, als er sich mit dem Team, das er zusammengestellt hat, der Mannschaft präsentiert.

      Klinsmann bringt als Manager Oliver Bierhoff und als Co-Trainer Jogi Löw mit. Er kündigt an, dass er die Strukturen der Nationalmannschaft von Grund auf erneuern und nebenbei auch den DFB reformieren will. Er hat auch ein paar Schlagworte im Programm, die super klingen. »Powerfußball« soll die Mannschaft in Zukunft spielen, die Spielweise soll offensiver als bisher sein, schnell und nach vorne, fast & furious.

      Ich bin ein bisschen skeptisch. Ich glaube, das ist normal. Immer wenn was Neues auf einen zukommt, ist man ein bisschen skeptisch. Ein neuer Trainer stellt erst mal immer die Verhältnisse auf den Kopf.

      Neuer Trainer, neue Vorlieben, neuer Druck. Jeder Trainer muss zuerst mal deine Qualität erkennen und dich aufstellen, und du musst im richtigen Moment deine Leistung bringen, sonst bist du wieder raus – das geht ganz schnell. Wenn du das erste Spiel gut spielst und das zweite schlecht, stehst du beim dritten schon wieder unter Druck. Du musst also konstant Leistung bringen. Du darfst dich nicht verletzen, nicht zum falschen Zeitpunkt krank werden. Das alles spielt eine Rolle, bis du endlich Stammspieler bist.

      Ich denke, dass meine Chancen gut sind, auch beim neuen Bundestrainer. Ich habe sowohl in der Bundesliga als auch in der Nationalmannschaft gut gespielt. Aber hat Klinsmann nicht gesagt, er wird die Mannschaft von Grund auf erneuern, den ganzen DFB reformieren? Vielleicht spielt er ohne Außenverteidiger, wer weiß.

      Aber als Jürgen Klinsmann im August 2004 seinen Kader für das Länderspiel gegen Österreich bekannt gibt, bin ich genauso dabei wie eine ganze Riege von jungen Spielern. Basti Schweinsteiger steht im Kader, Lukas Podolski, Andreas Hinkel, Kevin Kurányi. Und von der ersten Minute an, nachdem der neue Bundestrainer seinen Tarif durchgegeben hat, weht ein anderer Wind als zuvor. Klinsmann bringt aus Amerika Fitnesstrainer mit, er trennt sich von Personal, das seit vielen Jahren zum Inventar der Nationalmannschaft gehörte. Er ernennt Michael Ballack anstelle von Oliver Kahn zum Kapitän. Klinsmann begründet das damit, dass er keinen Torhüter als Kapitän haben möchte.

      Alles, was im Training angefasst wird, hat plötzlich Hand und Fuß. Das gesamte Trainerteam weiß, was es will. Wir wärmen uns konzentriert mit entsprechenden »Exercises« auf, dann folgen Schnellkraftübungen. Die Bilder, auf denen wir mit Gummibändern die Muskulatur trainieren, kursieren in allen Medien und werden zu Symbolen für den Epochensprung, den die Ankunft von Jürgen Klinsmann bedeutet.

      Einmal pro Jahr führt Klinsmanns Team Fitnesstests durch. Dabei werden Ausdauer, Schnelligkeit, Beweglichkeit und Kraft jedes einzelnen Spielers gecheckt – unvergessen, als der eine oder andere sich damit abmühen muss, auch nur einen einzigen Klimmzug zustande zu bringen.

      Klinsmann und sein Team sammeln wie wild Daten, sie untermauern jede Übung mit sportwissenschaftlichen Fakten und Recherchen der teameigenen Analyseabteilung. Kommunikation wird ganz groß geschrieben. Klinsmann selbst spricht permanent mit allen Spielern. Jedes Gespräch zielt auf Motivation. Motivation ist Klinsmanns großes Thema. Er selbst versprüht tonnenweise Leidenschaft, und er versucht, diese Leidenschaft an uns weiterzugeben und sie zu kanalisieren. Schnelles Spiel, schönes Spiel, offensives Spiel, erfolgreiches Spiel. Das ist das neue Mantra der Deutschen Nationalmannschaft.

      Jogi Löw erweist sich schon bei den ersten Trainingseinheiten als gewiefter Taktiker. Es ist interessant, was er über jede einzelne Position zu sagen weiß, vor allem für einen Spieler, dem bisher kein Trainer Anregungen gegeben hat, wie er die Position des linken Verteidigers vielleicht interpretieren könnte. Wir schauen uns Spielszenen auf Video an. Vor allem die Bilder eigener Aktionen und Fehler finde ich enorm aufschlussreich und wertvoll.

      Wir Defensivspieler trainieren vor allem mit Löw. Klinsmann, der selbst Stürmer war, kümmert sich vor allem um die Offensive. Auf dem Programm stehen Spielzüge, die mit dem Torabstoß beginnen und möglichst rasch vor das gegnerische Tor führen.

      Aber auch das Gefühl jedes Einzelnen für die Mannschaft wird geschärft. Zum Beispiel trainieren wir das Spiel elf gegen null. Der Gegner besteht nur aus mannsgroßen, farbigen Schablonen, die auf dem Feld aufgestellt werden. Die Spieler müssen dann durch die Formationen des Gegners durchpassen, das Mittelfeld überwinden, nach außen spielen, flanken, ein Tor erzielen.

      Auch defensiv wird diese Methode angewandt. Sie soll der Mannschaft vor allem vor Augen führen, wie jede Position mit jeder anderen zusammenhängt. Die Mannschaft stellt sich in Position, der Trainer ruft: »Der Ball ist bei dem gelben Mann«, und die Mannschaft muss sich entsprechend verschieben, muss sich so positionieren, dass der gelbe Mann keinen Anspielpartner hat – bis zum nächsten Kommando.

      Auch das Spiel, mit dem jedes Training beendet wird, wird meistens noch mit Zusatzaufgaben versehen – maximal zwei Ballkontakte, jeder zweite Pass muss nach vorne gespielt werden, oder Ähnliches. Plötzlich ist das Training mit der Nationalmannschaft enorm anspruchsvoll, vielseitig und unterhaltsam.

      Oliver Bierhoff, ein BWL-Absolvent, der selbst Torschützenkönig in der Serie A gewesen war, schafft mit genauem Gefühl für die Bedürfnisse von Profis ein Umfeld in der Nationalmannschaft, das nach den dürren Verhältnissen davor wie ein modernes Schlaraffenland wirkt. Plötzlich ist dafür gesorgt, dass alle Nationalspieler die Möglichkeit haben, etwas anderes zu tun, als nach dem Training auf ihr Zimmer zu verschwinden und Computer zu spielen.

      Außerdem formuliert der Trainerstab schon beim ersten Treffen mit den Spielern sein ehrgeiziges Ziel: »Wir wollen«, sagt Klinsmann in seinem im Kern amerikanisch gefärbten Schwäbisch, »bei der WM im eigenen Land Weltmeister werden.«

      Vielleicht glauben zu diesem Zeitpunkt noch nicht alle Nationalspieler daran, dass es mit diesem Ziel tatsächlich etwas auf sich haben könnte. Aber jeder hört die Botschaft, die Jürgen Klinsmann in die Welt setzen möchte: Hier werden keine kleinen Brötchen gebacken.

      Da wir als Gastgeber der WM automatisch spielberechtigt sind, müssen wir keine Qualifikationsspiele austragen. Stattdessen testen wir viel, Klinsmann will alle möglichen Kandidaten für seine WM-Mannschaft ausprobieren und der Mannschaft um die Leitwölfe Ballack, Kahn, Lehmann, Frings, Schneider in den kommenden zwei Jahren einen neuen Stamm verpassen.

      Wir gewinnen gegen Österreich, spielen unentschieden gegen Brasilien, gewinnen gegen den Iran und gehen kurz vor der Winterpause auf eine Asientournee. Ich erinnere mich an Südkorea, wo wir bei knapp über null Grad 1:3 verlieren, und an das nächste Spiel in Thailand, das wir zwei Tage später bei 35 Grad im Schatten 5:1 gewinnen.

      Als wir von Bangkok zurück nach Frankfurt fliegen, um zu Hause Weihnachten zu feiern, denke ich mir, dass ich gar kein Geschenk haben will, weil das Jahr 2004 für mich schon ein einziges Geschenk war. Da kann ich noch nicht ahnen, dass ich 2005 kein einziges Länderspiel bestreiten werde.

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