Corona im Kontext: Zur Literaturgeschichte der Pandemie. Martina Stemberger

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Corona im Kontext: Zur Literaturgeschichte der Pandemie - Martina Stemberger


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      Martina Stemberger

      Corona im Kontext: Zur Literaturgeschichte der Pandemie

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      Umschlagabbildung: Sergej Amin

      PD Dr. Martina Stemberger ist Romanistin, Slawistin und Komparatistin; sie lehrt Literatur- und Medienwissenschaft an der Universität Wien.

      © 2021 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

      Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

      Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetztes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

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      Internet: www.narr.de eMail: [email protected]

      ISSN 2626-0697

      ISBN 978-3-89308-464-7 (Print)

      ISBN 978-3-89308-467-8 (ePub)

      Intro

      „Es ist ja Corona nicht bloß ein Virus, sondern auch eine eigene Textgattung geworden […]“: Scherzhaft schlägt Schuh (2021) vor, Corona gleich „als Textsorte in die Maturaprüfung aufzunehmen“. Für eine literarhistorische Perspektive auf die sich als neues transversales Genre etablierende Corona-Literatur ist es aktuell zu früh; noch ist nicht einzuschätzen, wie die „post-pandemic fiction“ (Bohjalian 2020) sich entwickeln, ob „Sci-fi and Corona-Lit“ im Lauf der 2020er zu „a new genre of storytelling“ zusammenfinden werden (Bloom 2020). Und doch ist es von Interesse, schon jetzt einen Blick auf diese Literatur zu richten, die die Corona-Krise in Echtzeit zu verarbeiten versucht. Die Spanische Grippe, die ein langes Pandemic Century (Honigsbaum 2020) eröffnet, wird im Kontrast zu Corona zeitversetzt literarisiert; nachträglich markiert die „vergessene Pandemie“ (Crosby 2003) eine künstlerische „rupture as violent as the parting of the Red Sea“ (Spinney 2018: 261). Ist im Corona-Kontext, wie Elizabeth Outka vermutet, mit einem ähnlichen „shake-up of form“ (zit. Vincent 2020) zu rechnen? Läutet, wie Beigbeder (2021: 13f.) in Anbetracht einer „comme le coronavirus“ mutierenden Literatur spekuliert, die Pandemie den Beginn einer innovativen „littérature du XXIe siècle“ ein?

      In diesem Sinne bietet dieser Dialoge-Band ein unweigerlich nicht exhaustives, doch repräsentatives Panorama rezenter Corona-Literatur. Wie wird eine bis in die Antike zurückreichende Tradition der Epi-/Pandemieliteratur in einem neuen gesellschaftlichen und medialen Kontext transformiert? Wie werden politische und wissenschaftliche Corona-Diskurse, aber auch Verschwörungsnarrative reflektiert? Wie Krankheit und konkret Covid erzählen? Angesichts einer globalen und doch kulturspezifisch akzentuierten Krise werden diese Fragen anhand einer Vielfalt von Beispielen aus unterschiedlichen Sprachen und Genres diskutiert, vom parodistischen Lockdown-Tagebuch aus Frankreich bis zum deutschen Corona-Thriller, von US-Pandemielyrik bis zum russischen philosophischen Corona-Roman. Neben einem internationalen Bestseller wie Fang Fangs Wuhan Diary werden zahlreiche im deutschen Sprachraum noch kaum bekannte Texte präsentiert; über Europa, die USA und Kanada hinaus kommen Autor*innen u. a. aus Lateinamerika, China und Indien, Israel und dem Libanon zu Wort. Neben individuellen Werken werden literarische Kollektivprojekte – so eine Auswahl seit Frühjahr 2020 florierender Decameron-Variationen – vorgestellt.

      „Lesen gegen die Pest?“ Die Pandemie als literarisches Ereignis

      Von Anfang an erscheint die Corona-Pandemie auch als literarisches Ereignis. „Lisez […]“, empfiehlt Emmanuel Macron in seiner von 35 Millionen französischen TV-Zuschauer*innen verfolgten Ansprache vom 16. März 2020. Ein weiteres Mal bewährt sich „Lezen tegen de pest“ (Jan Baetens, KUL) als Krisenbewältigungsstrategie, ist doch alles schon „dans les livres“, so François-Henri Désérable (TC 46–50); Jacques Drillon schlägt eine Runde Applaus für „Alexandre Dumas, Charles Baudelaire et Marcel Proust“ vor (TC 519). Von ihrer Rettung „par les livres“ berichtet auch die Laienleserschaft (Kronlund 2020b). Zwischen „Your Quarantine Reader“ (The New York Times), „Coronavirus: de Sophocle à Stephen King […]“ (France Info) und „The 20 Best Pandemic Movies, Books, Docs And Games […]“ (Esquire) ist für jede*n etwas dabei; nicht nur in der Literatur manifestiert sich die krisenbedingt gesteigerte „Fiktionsbedürftigkeit“ des Menschen (Iser 1993: 16).

      Eifrig wiederentdeckt wird die Epidemieklassik, allen voran „Boccaccio, Defoe, García Márquez, the usual suspects“ (Carlos Fonseca, Stars 378). „Camus versus Garcia Marquez“, ruft L’Express zum „match littéraire“ (Payot 2020) – als Sieger geht der Autor der Pest (1947) hervor. Albert Camus’ Parabel wird zum internationalen Corona-Bestseller; Hype, der ikonoklastische Konterpositionen provoziert: „Ich mag Camus nicht“, proklamiert Emmanuel de Waresquiel (Dupont 2020), während Mario Vargas Llosa La Peste zum „mediocre book“ erklärt (Stars 33). Insgesamt wird ein traditioneller Kanon reaffirmiert, aber auch um Epi-/Pandemietexte aus nationalen Corpora erweitert. Dazu kommt die einschlägige Populärliteratur: Der Vergleich mit Stephen Kings The Stand (1978) macht immerhin sicher, dass Corona „no Captain Trips“ ist (Yoss, Stars 421); schon am 8. März 2020 stellt der Erfinder des fiktiven Influenza-Supervirus via Twitter klar: „No, coronavirus is NOT like THE STAND. […] Keep calm and take all reasonable precautions.“

      Gegen die neue ‚Pest‘ wird nicht nur gelesen, sondern auch geschrieben: Auf der Laienebene schlägt die Stunde der „écriture thérapie“ (Mourgues 2021); nach freilich schwer verifizierbaren Angaben greift während des Lockdowns „[u]n Français sur dix“ zur Feder bzw. Tastatur (Gary 2020). Einen „big spike in submissions“ bestätigt Literaturagentin Juliet Mushens (zit. Vincent 2020); in Indien kommen in kurzer Zeit Hunderte von Corona-Werken, oft von „first-time writers“, auf den Markt (Sharma 2020). Sogar Selbstverlagsanbieter wie Kobo schreiten notgedrungen zur ‚Triage‘ (Gariépy 2020). Abseits editorialer Zwänge favorisieren niedrigschwellige digitale Formate eine Explosion von „user-created media content“ (Foss 2020): „En attendant, écrivons“, lädt Matthieu Corpataux auf Facebook ein; der Corona-Boom von Online-Fanfiction bringt Portale an ihre technischen Grenzen (Stemberger 2021: 30f.). Zwischen Lady-Macbeth-Handwasch-Meme, #amoreaitempidelcoronavirus oder auch Twitter-„coronamerone“ sind es die sozialen Medien, über die Klassik in die Breitenkultur diffundiert.

      Als erste weltweite „catastrophe that is experienced online“ (Fonseca, Stars 378) aktualisiert die „Skype Pandemic“ (Zoglin 2020) Potential wie Paradoxa digitaler Demokratizität. Zwar wird auch so manches professionelle Corona-Opus – von Fang Fangs Wuhan Diary bis zu Marlene Streeruwitz’ „Covid-19-Roman“ So ist die Welt geworden – zunächst online publiziert; zugleich werden die Exzesse einer „geschwätzigen“ Pandemie (Le Goff 2021: 11f.) beklagt: „Das ist der Nachteil der digitalen Technologie, […] dass jeder zu allem seine Meinung äußern kann, und bevorzugt zu dem, was er nicht kennt“, ironisiert Régis Debray (TC 320). Vor dem Hintergrund einer für Krisenzeiten charakteristischen Expansion des literarischen Feldes (Ribeiro 2020: 388) stellt sich zwischen Verteidigung künstlerischer Autonomie und Revendikation gesellschaftlicher Relevanz die Frage nach Status und Funktion der Literatur mit neuer Virulenz.

      „… delight and consolation“? Vom Unbehagen


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