Corona im Kontext: Zur Literaturgeschichte der Pandemie. Martina Stemberger

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Corona im Kontext: Zur Literaturgeschichte der Pandemie - Martina Stemberger


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erst 1722 erscheint; auch Orhan Pamuk hatte bei der Redaktion seines Romans Veba Geceleri („Pestnächte“, 2021) „the good sense to let time do its work“ (Morris 2020). „So gut hätte dieses Buch sein können, wenn der Autor sich Zeit gelassen hätte“, bemerkt Truijens (2020) zu Daan Heerma van Voss’ Coronakronieken; freilich sei deren Aktualität „auch etwas wert“. Mitten aus dem Geschehen heraus erzählt Kike Mateu seine Geschichte als Paciente cero (2020); aus der Position eines auch physisch involvierten „spectateur engagé“ analysiert Le Goff die „grands discours“ einer Société malade (2021: 11). Doch insgesamt dominiert die Skepsis gegenüber einem wohlfeilen „Trend“, so Inga Kuznecova (Tolstov 2020), selbst Autorin eines Corona-Romans. In Naturkatastrophen-Metaphorik wird vor der drohenden „surproduction“ gewarnt, bevor die große „vague“ richtig startet (Gariépy 2020).

      Jenes Unbehagen kompensieren Strategien präventiver Selbstlegitimation: Die engagierte Widmung – so bei Sizemore (2020): „for the first responders, the high risk, and the whistle blowers“ – gehört ebenso zum Corona-Paratext wie der Hinweis auf den karitativen Zweck; in Zeiten der crise veröffentlicht auch Gallimard seine dazugehörigen Tracts digital kostenlos. V. a. in der populären Domäne sind Gesundheitswünsche Usus: „Bleiben oder werden Sie gesund!“, richten der Leserschaft Sund/Biel (2020: 264) aus, die mit ihrem „ANTI-MIKROBIELL“ präparierten Cover ein kurioses Exempel pandemischer Paratextualität bieten. Über derlei Gesten hinaus stellt sich die komplexere Frage, was diese Echtzeit-Krisenliteratur leisten kann, will und soll. „Hoffnung verbreiten“, „unterhalten und […] Mut machen“ möchte das zitierte Corona-Ende (ibid.: 6); auf delectare et prodesse – „delight and consolation“, aber auch Reflexion der „true […] story“ – setzt das Decameron Project der New York Times (DP IX, XV). Jenem „Mangel an Vorstellungskraft“, der sich hinter „fehlende[r] Solidarität“ verbirgt (Giordano 2020: 40), gilt es auf dem Weg der Literatur beizukommen, spielerische Schule anti-egozentrischer Imagination.

      Von Contagion bis Corona World: Corona-Literatur im medialen Kontext

      „We ‚imagine‘ this kind of disaster all the time […]“, gibt Yu (2020) zu bedenken. Aus pandemischem Anlass wird die Relation zwischen Realität und Fiktion neu verhandelt: Signifikant der Fall von Peter Mays Thriller Lockdown, 2005 als „extremely unrealistic“ abgelehnt, im Frühjahr 2020 eilig nachgereicht (zit. Elassar 2020). „Für mich ist die Science-Fiction am Ende, alles, was man sich nach dieser Pandemie vorstellt, wird zu wenig sein“, befürchtet Rafael Gumucio (zit. Espinoza 2020). Und doch sind es entsprechende Fiktionen, die einen „frame of reference“ (Ma 2018: 29), nur scheinbar paradoxen „comfort“ stiften (Vincent 2020); in der Tat verbessert filmische „Pandemic practice“ individuelle Krisenresilienz (Scrivner/Johnson et al. 2021). Der Literatur ist diese Einsicht nicht neu: Seine „disaster preparedness“ verdankt Emily St. John Mandels Protagonist allerlei „action movies“ (2015: 21). Ein Film wie Wolfgang Petersens Outbreak (1995) wird als Medium populärer Bewusstseinsbildung valorisiert, ob drohender „apocalypse fatigue“ kontroverse Strategie (Spinney 2018: 282). Trotz SARS und Ebola habe man sämtliche „serious preparations“ vernachlässigt, so Žižek: „the only place we dealt with them was in apocalyptic movies like Contagion“ (2020: 64). Eben Steven Soderberghs u. a. von SARS und der Influenzapandemie 2009 inspirierter Film (2011) wird im Coronajahr 2020 zum Bestseller.

      Bereits die Prä-Corona-Epi-/Pandemieliteratur reflektiert nicht nur filmische Fiktion: Mit „a near-religious fervor“ lässt Ling Ma ihren Antihelden „every iteration of Warcraft“ spielen. „Just in case the apocalypse happened?“, erkundigt sich eine Ko-Überlebende: „For when the apocalypse happened“, korrigiert der WoW-Fan (2018: 4f.). Von der Corona-Krise profitiert Plague Inc. (2012): Zunächst explodieren die Downloadzahlen in China; Ndemic Creations warnt indes davor, das Videospiel mit der Realität zu verwechseln: „We would always recommend that players get their information directly from local and global health authorities.“ Ende Februar 2020 wird Plague Inc. in China verboten, während es den US-Centers for Disease Control and Prevention als legitimes Vehikel popularisierter „serious public health topics“ gilt (Khan 2013). Angesichts der aktuellen Pandemie setzt die Produktionsfirma mit The Cure (2020) auf ein PR-trächtiges Konterprogramm. Nicht überraschend nutzt dieses Genre, das virtuell kathartische Kontrolle bietet, schon die frühe Corona-Fiktion: Zum Kampf mit SARS-CoV-2 lädt Fauci’s Revenge; Corona World schickt eine Krankenschwester als neue Superheldin los. Auf ironische Computerspielästhetik setzt die Punkrock-Band ZSK mit ihrem Clip „Ich habe Besseres zu tun“, Hommage an den Star-Virologen der Charité.

      Pandemie als Palimpsest: Zur Intertextualität der Corona-Literatur

      Zwischen Klassik, SF, Kino und Computerspiel entfaltet sich die moderne Epi-/Pandemieliteratur bereits vor Corona in einem dichten intertextuellen Spannungsfeld. Camus lässt seinen Erzähler eine lange Kulturgeschichte der Seuche rekapitulieren, darunter die „peste de Constantinople“ (2020: 51), die Prokopios von Caesarea dokumentiert; sein eigener Roman wird zur Quelle einer veritablen Contagion des imaginaires (Palud 2014). Mit gesteigerter Gewalt fegt der gefürchtete Wind von Oran (Camus 2020: 195f.) durch Fabien Clouettes Novelle Une épidémie (2013), fantomatisches Text-„labyrinthe“ (2017: 80); wie bei Camus gilt: „L’épidémie n’est pas finie […]“ (ibid.: 63) – hier knüpft die Corona-Literatur an. Erik Eising führt den aus Lutz Seilers Kruso (2014) entkommenen „Herr[n] Bendler“ mit „Herr[n] Doktor Rieux“ zusammen, der von einem „ähnlichen Fall in Oran“ zu berichten weiß, „schlimmer eigentlich“, da „die Pest und das Coronavirus“ dann doch „zwei völlig verschiedene Dinge“ sind (2021: 35–37). In illustrer Runde wird die Verortung der Pandemie diskutiert, bevor dem immer stärker hustenden Rieux Covid zum Verhängnis wird (71–73). Und dennoch erlebt Camus’ Held eine multiple Corona-Auferstehung – ebenso sein Schöpfer selbst.

      „Camus könnte das, wenn er nicht schon Die Pest geschrieben hätte“, so Kuznecova auf die Frage, welchem kanonischen Autor ein Corona-Roman zuzutrauen wäre (Tolstov 2020). Diverse Pandemienarrative werden ‚prophetisch‘ recodiert: So Dean Koontz’ Thriller The Eyes of Darkness (1981) – nur dass das fatale Coronavirus namens „Wuhan 400“ in der Kalte-Kriegs-Erstfassung noch „Gorki 400“ hieß (Brunfaut 2020); einen Corona-„Tsunami“ schildert Deon Meyers Koors (2016) bzw. Fever (2017). „Prophetic Israeli sci-fi novel […] predicted current pandemic“ (Bloom 2020), nämlich Hamutal Shabtais 2020 (1997); rückwirkend wird Aleksej Sal’nikovs Petrovy v grippe i vokrug nego („Die Petrovs in der Grippe und rundherum“, 2017) zum „[e]rsten Roman über das Coronavirus“ erklärt (Smirnov 2020). Erst recht durch das Corona-Prisma rezipiert werden 2020 veröffentlichte themenverwandte Texte, Xabi Molias Des jours sauvages mit seinem Influenzaplot wie Sébastien Spitzers Roman La Fièvre, der die Gelbfieberepidemie in Memphis 1878 literarisiert.

      „Nur die Pest“? Ljudmila Ulickajas Eine Seuche in der Stadt

      Aufschlussreich ist die zeitversetzte Rezeption von Ljudmila Ulickajas Eine Seuche in der Stadt (Čuma, ili OOI v gorode), vor mehr als vier Jahrzehnten verfasst, im Frühjahr 2020 publiziert. Ulickaja selbst etabliert die Verbindung zur Pest; fungiert bei Camus die Epidemie als Metapher für den Nationalsozialismus, wird das historische Seuchensujet hier rekontextualisiert. Rasch bestätigt sich der „Verdacht auf Pest“ (2021: 34) bei einem Mikrobiologen, der in der stalinistischen Sowjetunion unter politischem Hochdruck (ebendieser provoziert den fatalen Laborunfall) an einem Vakzin forscht. Mit seiner behördlich angeordneten Dienstreise schleppt Rudolf Mayer die ‚Seuche in die Stadt‘; kurz nach seiner Ankunft in Moskau stirbt er an Lungenpest. „Wenn keine außerordentlichen Maßnahmen ergriffen werden, besteht die Gefahr einer Epidemie“ (35f.): Dafür steht in der UdSSR des Jahres 1939 ein seinerseits außerordentlicher Organismus zur Verfügung – der Geheimdienst NKVD, der sofort seine „Schwarze[n] Raben“ (d. h. Häftlingstransporter) ausschickt (45). „Vermutlich war dies das einzige


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