Sie über sich. Paul Metzger
Читать онлайн книгу.die Grenzen des Kanons festgelegt werden“,15 nicht aber im Kanon selbst unterschieden werden kann. Daraus folgt: „Die abweisenden Aussagen der Schrift zur Homosexualität gehören zum Gesetz, sind aber als solche nicht unwichtig, sondern gerade zur Geltung zu bringen.“16
Jegliche Relativierung der Homosexualität kann es deshalb angesichts des klaren Schriftzeugnisses nicht geben. Ob eine homosexuelle Beziehung in gegenseitiger Liebe und Verantwortung geführt wird, spielt deshalb keine Rolle: „Wenn die Autoren sagen, daß es für eine homosexuelle Beziehung entscheidend ist, ob sie in Liebe zu Gott und Menschen gelebt wird, so ist demgegenüber darauf hinzuweisen, daß, wer Gott liebt, auch seine Gebote hält (Jh 14,15.21; 15,10; I Jh 2,3f; 3,22–24; 5,2f).“17
Die Phalanx an neutestamentlichen Belegstellen zeigt den Umgang mit den biblischen Texten: Ohne ein Interesse an deren jeweiligem Kontext und besonderer Situation werden sie als gleichbleibend gültige Wahrheit und Gesetz aufgefasst. Diese Position repristiniert nur den Text, sie bemüht sich kaum um ein echtes Verstehen dessen, was er zu seiner Zeit und in seiner Situation zum Ausdruck bringen wollte.
Während die EKD zu einer hermeneutisch differenzierten Position kommt, nämlich die Frage der Homosexualität „vom Gesamtzeugnis der Bibel her“ zu betrachten, und so festzuhalten, dass „für die Gestaltung einer homosexuellen (wie jeder anderen zwischenmenschlichen) Beziehung entscheidend ist, ob sie in Liebe zu Gott und Menschen gelebt wird,“18 sehen die Kritiker des Textes die beschriebene „Spannung zwischen dem biblischen Widerspruch gegen homosexuelle Praxis als solche und der Bejahung ihrer ethischen Gestaltung gemäß dem Willen Gottes“19 nicht gegeben, da sie „in den biblischen Texten selber nicht enthalten ist und deshalb auch nicht ,ausgehalten‘ werden muß.“20
Der differenzierten Position der EKD und ihres hermeneutisch verantworteten Umgangs mit der Bibel wird damit vorgeworfen, dass sie ein Verfahren benutzt (die historische Kritik), das „weitreichende Folgen haben könnte. Wenn sich diese Art zu denken und zu argumentieren durchsetzt, wird es in Zukunft möglich sein, auch in anderen Fragen, mit denen die Kirche konfrontiert ist, trotz eindeutiger Verbote und Weisungen in der Heiligen Schrift nach einer Möglichkeit zu suchen, verantwortlich mit dem umzugehen, was die Bibel als Sünde bezeichnet.“21
Während also die erwähnte Leitfrage aus dem Jahr 1994 nach dem Zusammenhang von Schriftautorität und Umgang mit Homosexualität von den Autoren der EKD entdramatisiert wird, stehen evangelikale Theologen in der Gefahr, die Frage in Richtung status confessionis zu verschärfen.
Tatsächlich eingetreten ist dies 2013 in der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens. In einer „Stellungnahme zur Öffnung der Pfarrhäuser für homosexuell lebende Pfarrer“22 erklärte der Leiter des „Evangelisationsteams“, Lutz Scheuffler, einem selbst gegründeten „Missionswerk“ mit Vereinsstatus, den status confessionis, weil ein Kirchenleitungsbeschluss der Landeskirche in seelsorglich begründeten Ausnahmefällen gestattet hatte, dass homosexuelle Pfarrer mit ihren Partnern im Pfarrhaus leben dürfen. Scheuffler begründet seine Forderung Landesbischof, Kirchenleitung und Landessynode nicht mehr als geistliche Leitung der Landeskirche anzuerkennen und gleichzeitig eine Bekenntnissynode einzuberufen, indem er auf das abweichende Schriftverständnis verweist. Er zitiert die „Sächsische Bekenntnis-Initiative“, die sich mit dem Gründungsmitglied „Evangelisationsteam“ als Reaktion auf den Kirchenleitungsbeschluss formierte: „Nach unserem Schriftverständnis ist praktizierte Homosexualität mit der Heiligen Schrift nicht vereinbar.“23
Ob damit wirklich der Kern des Protests getroffen ist oder andere Faktoren hier eine – vielleicht größere – Rolle spielen, braucht im vorliegenden Zusammenhang nicht weiter zu interessieren. Wichtig ist aber zu sehen, dass die Autorität der Schrift in bestimmten „Gebrauchsformen“ gegenwärtig für verschiedene Kräfte in den verschiedenen Kirchen immer noch eine absolut zentrale Rolle im Argumentationszusammenhang spielt.
Wiederum zeigt sich, dass ethische Streitpunkte die neuen Frontlinien der Diskussion darstellen, während die klassischen Konfessionsgrenzen eher zum theoretischen Problem geworden sind.
Die am 30. Juni 2017 erfolgte Abstimmung des Deutschen Bundestages zur Frage einer „Ehe für alle“ macht dies sehr deutlich. Zwischen den Konfessionen verlaufen hierzu keine klaren Linien. Weder haben alle römisch-katholischen Christen mit „Nein“ gestimmt, wie dies „ihr“ Lehramt eigentlich vorschreibt, noch haben alle evangelischen Christen mit „Ja“ gestimmt, obwohl der Rat der EKD die Entscheidung begrüßt hat.24 In beiden konfessionellen Lagern gibt es im Gegenteil Gegner und Befürworter, sodass diese Abstimmung wiederum ein Beleg für die zuvor formulierte These ist,25 dass die klassischen Konfessionsgrenzen – zumindest in Deutschland – in Auflösung begriffen sind und im Alltag für immer weniger Menschen eine signifikante Relevanz besitzen.
1.4. Fazit
Die drei ausgeführten Beispiele zur Frage der Schriftautorität im Hinblick auf kirchliche Fragen der Gegenwart haben gezeigt, dass annähernd jede kontroverse Diskussion an verschiedenen Punkten auf die biblischen Texte zurückgreift, um von dort Orientierung zu gewinnen. Dass dieser Rückgriff im Rahmen des Christentums legitim ist und dass er stattfindet, wird kaum diskutiert, wie er aber erfolgt, dafür umso heftiger.
Vereinfacht beschrieben stehen sich dabei auf der einen Seite diejenigen gegenüber, die Schriftzitate ohne hermeneutische Überlegung in die Diskussionen der Gegenwart einbringen und diese im Status einer unfehlbaren Autorität zum Argument erklären. Die Bibel ist für sie meist undifferenziert „Heilige Schrift“ oder „Wort Gottes“, das unmittelbar in der Gegenwart Anwendung finden kann und Gehorsam im Glauben verlangen darf. Biblische Zitate werden – durchaus nicht immer spannungsfrei – hier aneinandergereiht, miteinander kombiniert und als unmittelbar einsichtiges und schlagendes Argument aufgebaut.
Dagegen stehen auf der anderen Seite diejenigen, die diese Unmittelbarkeit den Schriftzitaten nicht zuerkennen können, sondern oft komplexer argumentierend versuchen, der Bibel ihren „eigentlichen“, „wirklichen“ Sinn abzulauschen. Mittels historischer Kritik und hermeneutischer Anstrengung soll das in die Gegenwart eingebracht werden, was der Text eingedenk seiner kontextuellen Bedingtheit eigentlich sagen wollte.
Beide Positionen werden in der Praxis der Diskussion kaum in ihrer Reinheit bewahrt bleiben können, der unterschiedliche Zugang ist aber bemerkenswert. In der Betrachtung der unterschiedlichen Umgangsweisen mit biblischen Texten in aktuellen Diskussionen wird allerdings oft vergessen, dass der Konsens, nach dem die Bibel überhaupt etwas in diesen gegenwärtigen Diskussionen zu sagen hat, fundamental ist. Deshalb ist zunächst zu fragen: Woher kommt eigentlich die Rede von der Autorität der Schrift? Warum ist sie gerade im evangelischen Raum so wichtig und deshalb so heftig umstritten?
2. Die Autorität der Schrift in historischer Perspektive – Schlaglichter
Was ist die Bibel?
„Die literarischen Denkmäler einer vorderasiatischen Stammesreligion des Altertums und die einer Kulturreligion der hellenistischen Epoche, das ist die Bibel. Also ein menschliches Dokument wie ein anderes, das auf eine besondere Beachtung und Betrachtung einen apriorischen dogmatischen Anspruch nicht machen kann.“1 So antwortet Karl Barth, der „Kirchenvater“ des 20. Jahrhunderts.2
Was ist die Heilige Schrift?
„Jede heilige Schrift ist nur ein Mausoleum der Religion, ein Denkmal, daß ein großer Geist da war, der nicht mehr da ist; denn wenn er noch lebte und wirkte, wie würde er einen so großen Wert auf den toten Buchstaben legen, der nur ein schwacher Abdruck von ihm sein kann?“3 So antwortet Friedrich D.E. Schleiermacher, der „Kirchenvater“ des 19. Jahrhunderts.
Obwohl Barth und Schleiermacher gewöhnlich als theologische Antipoden gesehen werden, scheinen sie bezüglich der Bibel bzw. der Heiligen Schrift die gleiche Auffassung zu teilen. Auf den ersten Blick scheint die Bibel für beide im Hinblick auf die christliche Theoriebildung keine Autorität darzustellen.4
2.1. Das Initialereignis
Ganz anders klingt dies