Bildung und Glück. Micha Brumlik

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Bildung und Glück - Micha Brumlik


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überstrapaziertes Unterschichtmilieu hingewiesen haben – nur sehr vage aus.31 Die wohlfeile Polemik vor allem gegen die permissive Erziehung gestattet es, den Begriff der „Autorität“ aufzuwerten, ohne autoritär zu wirken, während das in der Sache absolut gerechtfertigte Plädoyer für eine demokratische Erziehung oft keinem anderen Zweck dient, als die konservative Parole „Mut zur Erziehung“ zu assimilieren und eine neue „Autorität“ zu fordern.

      Bei dieser Debatte geht es erstens um die pauschale Behauptung einer allgemeinen Verunsicherung von Eltern und Erziehern, Kindern und Jugendlichen, zweitens um die unausgewiesene Rede von „Autorität“ sowie drittens um die unscharfe Rede von „Werten“ und „Werteerziehung“. Daß in bezug auf Erziehungsfragen Verunsicherung herrscht, ist unbestritten. Ob diese Verunsicherung zugenommen hat, könnten wir nur anhand eines Zeitreihenvergleichs beurteilen, für den uns die Vergleichsdaten aus den zwanziger, dreißiger, vierziger, fünfziger und sechziger Jahren fehlen. Wie viele Eltern sich faktisch aus ihrer Rolle als Erzieher zurückgezogen haben, wissen wir nicht. Sogar wenn wir entsprechende Einstellungsuntersuchungen hätten, wüßten wir immer noch nicht, ob sich diese Eltern im Alltag auch tatsächlich so verhalten. Möglich wäre ja immerhin, daß Eltern sich zwar verunsichert fühlen und in reflexiven Situationen meinen, nicht mehr zu erziehen, sich aber tatsächlich sehr wohl erzieherisch verhalten. Da über diesen Fragenkomplex kaum empirische Forschungen vorliegen – nicht zuletzt deshalb, weil klinische Untersuchungen im Alltag von Familien extrem aufwendig sind –, muß hier ein eindeutiges Urteil bis auf weiteres ausstehen. Die wenigen Forschungen, die hierzu vorliegen,32 motivieren dazu, den Strukturen der sozialisatorischen Interaktion mehr zuzutrauen, als es die Befürworter eines jederzeit bewußten Erziehens tun. Obwohl alle möglichen definitorischen Anstrengungen zur Bestimmung des Erziehungsbegriffs vorgenommen werden und immer wieder klargestellt wird, daß eine zeitgemäße Erziehung im wesentlichen im Aushandeln von Bedürfnissen und im Verzicht auf Gehorsam besteht – trotz der klaren Ablehnung autoritärer Erziehungsstile wollen nicht wenige der neuen Werteerzieher unbegründet am Begriff der „Autorität“ festhalten. Dabei ist bezeichnend, daß eine wissenschaftliche Klärung des Begriffs „Autorität“ in aller Regel entfällt. Schlägt man beliebige Lexika auf, so wird man im allgemeinen für den Begriff „Autorität“ Umschreibungen wie etwa „Würde“ und „Ansehen“ finden. Demnach kann es in der Sache nur darum gehen, daß Eltern, die sich im familiären Alltag eines demokratischen Verhaltens befleißigen, aus nicht nur motivationalen Gründen wünschen, von ihren Kindern anerkannt zu werden. Die entscheidende Frage lautet dann, als was sie anerkannt werden wollen: als Personen, denen im Zweifelsfall fraglose Folgebereitschaft gezollt wird, oder als Partner, deren Argumente gehört werden? Geht es um letzteres, ist der Begriff „Autorität“ fehl am Platz, geht es um ersteres, läuft die Polemik gegen den permissiven Erziehungsstil ins Leere. Die Verwendung des Begriffs „Autorität“ verhindert in diesem Zusammenhang lediglich, daß das Paradigma des demokratischen Erziehungsstils zur vollen Entfaltung kommt.

      Was heißt endlich Werteerziehung? Die Soziologie unterscheidet schulmäßig zwischen Normen und Werten33 und will damit ausdrücken, daß Normen jene Verhaltensmaßgaben sind, die um der Verwirklichung eines von mehreren Personen für wichtig gehaltenen Gutes willen etabliert worden sind. Gilt etwa persönlicher Respekt als das wünschbare und schützenswerte Gut, so beschreibt „Höflichkeit“ die Normen, die im zwischenmenschlichen, alltäglichen Umgang zu beachten sind. Die schulmäßige Unterscheidung führt zu der Frage, welche „Werte“ in einer menschlichen Sozialität nicht nur faktisch vorfindlich, sondern auch normativ akzeptabel sind. Die Werte „Reichtum“, „sexuelle Attraktivität“, „Liebe zur Heimatgemeinde“, „Vorrang der eigenen Rasse“, „Toleranz“, „Pünktlichkeit“ etc. sind offensichtlich weder gleichermaßen legitim noch gleichermaßen weitreichend. „Werte“ der persönlichen Lebensführung sind einerseits von „Werten“ des öffentlichen Zusammenlebens zu unterscheiden, während andererseits faktische, legale und legitime „Werte“ auseinanderzuhalten sind. Wie weit eine dezentrierte, demokratische Gesellschaft überhaupt noch beliebige „Werte“ verkörpern und durchsetzen kann, ist in politischer Soziologie und Philosophie strittig. Ob der Wertepluralismus und die mit ihm einhergehende Verunsicherung nur ein Desaster oder nicht doch eine große Chance darstellt, ist ebenfalls umstritten. Auf jeden Fall: In Gesellschaften dieses Typs dürften nur noch sehr allgemeine, individuelle Lebensweisen, nicht mehr zensierende „Werte“ allgemein akzeptabel sein: vor allem die Würde des Menschen (einschließlich der entsprechenden rechts- und sozialstaatlichen Sicherungen). Diesen soziologischen Befund unterschlägt die „Wertedebatte“. Letzten Endes schrumpfen in demokratischen Gesellschaften die allgemein als legitim erachteten und deswegen positiv sanktionierten Werte zu minimalen Verfahrensgrundsätzen zusammen. Mehr ist weder möglich noch nötig. Was bleibt, sind Vorschläge zur geregelten Auseinandersetzung über Wertkonflikte. Bedarf also die Motivation von Eltern und Lehrern, die bereit sind, sich in diesem Sinn auf sozialisatorische Interaktionen einzulassen, der Semantik von Ordnung, Verantwortung und Grenzen? Tatsächlich ist davon auszugehen, daß diejenigen, die ohnehin demokratisch und partnerschaftlich erziehen, entsprechende Appelle zustimmend oder nachdenklich zur Kenntnis nehmen werden, während derlei Erklärungen an den Eltern derjenigen Kinder, die als delinquent, verhaltensgestört, gewalttätig oder gar als rassistisch angesehen und behandelt werden, resonanzlos vorüberrauschen dürften. In diesen Fällen, das ist Lehrerinnen und Lehrern ebenso vertraut wie Sozialarbeitern, hilft nur die mühsame Praxis am Arbeitsplatz oder ein politisches Handeln, das die Verstetigung des Unterschichtmilieus mit seinen Überforderungen in der Schule durch radikale Reform überflüssig macht. Dieses Thema – das rückständig gegliederte Schulwesen34 in Deutschland und die Ausbreitung von Armut – interessiert die neuen Wertepolitiker jedoch nicht im mindesten. Wie sollte es auch? Eine gehaltvolle bildungspolitische Diskussion würde den trivialen Konsens im luftigen Bereich der Werte sofort zum Einsturz bringen. So einleuchtend die Rede von der Leichtigkeit des Lebens vor 1989 auch war – am Ende handelt es sich wohl doch nur um eine suggestive Floskel, der in der Sache nur wenig entspricht und die nur deshalb verbreitet wird, um ohne weitere Begründung konservative Ideologien zu propagieren. Der beste Sinn, den wir dem Problem der Leichtigkeit und ihrem vermeintlichen Gegenpart, der Verantwortung, geben können, resultiert in der Frage nach dem richtigen Leben.

      Als Resümee kann gelten, daß in komplexen, ausdifferenzierten und pluralistischen Gesellschaften mit konkreten Werten allein nicht auszukommen ist und es mindestens so sehr prinzipieller, eher abstrakter Haltungen und Einstellungen bedarf, etwa der Fähigkeit zur Reflexion, zur Distanz, zum hypothetischen Denken – Eigenschaften, die ich vorläufig als „Tugenden“ bezeichnen möchte. Womöglich läßt sich dem, was als „Leichtigkeit“ kritisiert wird, ja doch noch ein guter Sinn verleihen, womöglich läßt sich die Leichtigkeit sogar rehabilitieren. Denn „Leichtigkeit“ – paradox genug – ist keineswegs einfach zu vollziehen, sondern bedarf der Übung und Disziplin. Im oben beschriebenen Sinn „leicht“ zu leben, bedarf ebensosehr einer Anstrengung wie eines Weges, die Bürde des menschlichen Lebens besser, d. h. distanzierter zu tragen. Die Leichtigkeit scheint den jeweiligen Ancien Régimes unauflöslich anzuhaften – Regimes, unter denen das gute Leben, Leben und Überleben davon abhingen, daß man in Distanz zu seinen Rollen und Lebensentwürfen stand. Die folgenden Zeilen wurden 1910 geschrieben und kommen in einem Drama, in einer Farce vor, die im Ancien Régime, im Österreich der Kaiserin Maria Theresia spielt. Die Hauptfiguren dieses Stücks sind durch gesellschaftliche Zwänge und ökonomische Rücksichtnahmen an der Entfaltung ihres Lebens behindert und versuchen, dies mit Fassung zu tragen. In Richard Strauss’ und Hugo von Hofmannsthals Rosenkavalier bekundet die Marschallin, eine Frau in den Dreißigern, die weiß, daß sie noch am selben Tag von ihrem siebzehnjährigen Geliebten verlassen werden wird, diesem auf seine Treueschwüre:

      „Nicht quälen will ich dich mein Schatz.

      Ich sag, was wahr ist, sags zu mir so gut wie zu dir.

      Leicht will ichs machen dir und mir.

      Leicht muß man sein:

      mit leichtem Herz und leichten Händen,

      halten und nehmen, halten und lassen …

      Die nicht so sind, die straft das Leben und


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