Bildung und Glück. Micha Brumlik

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Bildung und Glück - Micha Brumlik


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Bildungssystem, in dem sich niemand für seine Herkunft schämen muß bzw. in dem alle – trotz unterschiedlicher Herkunft – auf mindestens einige Gehalte der ihnen zugeschriebenen Tradition stolz sein können. Wie das Verhältnis von Repräsentation und Artikulation von Migrantenkulturen im Bildungswesen im einzelnen umgesetzt wird, wird auch in Zukunft Gegenstand politischen Streits sein. Worauf es ankommt, ist die Behauptung, daß die Theorie der interkulturellen Bildung neben ihrem Beharren auf Chancengleichheit, auf Toleranz und Erweiterung von sozialer Wahrnehmungsfähigkeit den Fragen von Selbstachtung, Selbstrespekt und Selbstwert – also wiederum Begriffen, die einer Semantik moralischer Gefühle entspringen – bisher noch nicht genügend Aufmerksamkeit gewidmet hat.14

      Trauer, Schande, Scham, Schuld und Verantwortung, Gedenken und Erinnerung waren die zentralen Begriffe der Gedenkstättenpädagogik; Probleme der moralischen Motivation, bedeutsamer affektiver Beziehungen und einer loyalitätsgebundenen Moral die Hauptthemen der Weiterentwicklung des sozialkognitivistischen Paradigmas; Selbstachtung und Selbstrespekt die wichtigsten Bezugspunkte einer interkulturellen Bildung, die die Herstellung materieller Chancengleichheit, eines universalistischen Verfassungspatriotismus15 und einer kulinarischen Erweiterung von Lebenschancen nicht für das Ende der Debatte hält. In allen drei Feldern rückte die Frage nach den „moralischen Gefühlen“ ins Zentrum: bei der Gedenkstättenpädagogik in ihrer begrifflichen und sachlichen Begründung; bei der sozialpädagogischen Moralerziehung als Ausweg aus der Erklärungsschwäche eines reinen Kognitivismus; bei der interkulturellen Bildung als politisch-moralische Hypothese über eine bisher weitgehend übersehene wesentliche Dimension.

      Eine auf einer Theorie moralischer Gefühle aufbauende grundbegriffliche und forschungsbezogene Neuorientierung wird die normative Grundlegung der Pädagogik nicht unberührt lassen. In einer Zeit, in der eine blinde und oftmals staatstreue Wertediskussion sowie der anschwellende Ruf nach einer Erneuerung der Erziehung zu politischer Loyalität nach wie vor die öffentliche Debatte bestimmen, kommt es darauf an, jene Charaktereigenschaften intellektueller und eben affektiver Art zu identifizieren, die es Kindern und Heranwachsenden ermöglichen, zu Wertzumutungen aller Art reflektiert Stellung zu beziehen und ein gutes, weil selbstbestimmtes und auf andere bezogenes, ja glückliches Leben zu führen. Ich bezeichne diese Charaktereigenschaften mit einem bewußten Rückgriff auf die antike Bildungstheorie als „Tugenden“. Tugenden lassen sich – unabhängig davon, ob man das klassische Gespann von Gerechtigkeit, Mut, Klugheit, Besonnenheit sowie Glaube, Liebe und Hoffnung oder einen anderen Kanon in Betracht zieht – als das Ensemble jener individuellen Verhaltensdispositionen analysieren, deren Zusammenspiel ein befriedigendes menschliches Leben verheißt.

      In der antiken Philosophie bezeichnete der Begriff Tugend (griechisch „Arete“, lateinisch „virtus“) ganz allgemein die spezifische Leistungsfähigkeit oder Tauglichkeit – heute sprechen wir von Funktionalität – von Dingen, Organen, Menschen oder auch Handlungen, von der Tauglichkeit des Leibes, eines Nutztieres, der Dienlichkeit argumentativer Praxis, ja sogar von Diebstählen. Bei Aristoteles erst wird Tugend zum Begriff für eine spezifisch menschliche Eigenschaft, zu einer anthropologischen Kategorie. Vor allem aber stehen die so ausgewiesenen menschlichen Fähigkeiten für ihn immer im Horizont der Frage nach dem Glück.16

      Gleichwohl: Wer von Tugenden hört, fühlt sich schnell an „Werte“ erinnert, an moralisierende Zumutungen der Gesellschaft, sich so oder so zu verhalten. Eben darum geht es nicht. Es geht vielmehr um die Frage, über welche Fähigkeiten, heute spricht man von Handlungskompetenzen oder auch von „Schlüsselqualifikationen“, Individuen verfügen müssen, um sich gesellschaftlichen Zumutungen gegenüber behaupten und ein glückliches Leben im Verein mit anderen anstreben zu können. Damit ähnelt die Tugendlehre auf den ersten Blick der in den späten sechziger Jahren entwickelten Konfliktpädagogik sowie der emanzipatorischen Erziehung, die ja vor allem auf die Stärkung individueller Kritikfähigkeit setzten. Auf den zweiten Blick unterscheidet sie sich von beiden erheblich. Sie unter- und überbietet nämlich beide Positionen. Anders als die klassenkampftheoretisch ansetzende Konfliktpädagogik verfügt sie über keine politischen Vorgaben mehr, anders als die emanzipatorische Erziehung aber traut sie sich gleichwohl zu, die Frage nach dem „Wozu“ der Emanzipation zu stellen, ohne sie indes abschließend beantworten zu wollen. Anders auch als die stark von moralischen, christlichen Fragestellungen bestimmten Pädagogiken der achtziger und neunziger Jahre mit ihrem Akzent auf Frieden, Verschonung der Umwelt sowie Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern und Generationen nimmt die Theorie der Tugenden den unvertretbaren Glücksanspruch der Individuen ernst. Sie verhält sich damit zu Forderungen einer universalistischen Moral positiv, aber nicht mehr naiv. Sie weiß, daß auch das allgemeine Wohl nur zu erzielen ist, wenn jenseits aller wertenden Vorgaben Lebensglück und Lebenssinn der einzelnen nicht nur berücksichtigt werden, sondern im Zentrum politischer und pädagogischer Bemühungen stehen. Genauer: Sie weiß, daß umfassende Gerechtigkeit in einer Gesellschaft nur zu erreichen ist, wenn dieses Ziel mit den Wünschen und Ansprüchen der Individuen auf ein erfülltes Leben wenigstens nicht kollidiert und dazu in einem fruchtbaren Spannungsverhältnis steht. Daß keine Politik Glück – sei es individuell oder kollektiv – herstellen kann, ist die leidvolle Lehre aus der Geschichte des Kommunismus im zwanzigsten Jahrhundert. Daß das Streben nach dem Glück jedoch, wenn es der materiellen und gesetzlichen Absicherung ermangelt, schnell in massives Unglück umschlagen kann, das lehren nicht nur bald fünfzehn Jahre Neoliberalismus. Daß eine Gesellschaft, die die Frage nach dem Glück nicht öffentlich stellt und sie ganz und gar im Umkreis des Privaten hält, stagniert, war und ist die Herausforderung, die der Feminismus einer patriarchalisch geprägten Welt nach wie vor stellt.

      Niemand hat die inneren Spannungen, die einer materialistischen Tugendlehre innewohnen, genauer gesehen als der heute bisweilen für veraltet gehaltene Bertolt Brecht. Am Ende der Flüchtlingsgespräche läßt er seinen Helden Kalle sagen: „Ich fordere Sie auf, sich zu erheben und mit mir anzustoßen auf den Sozialismus – aber in solch einer Form, daß es hier im Lokal nicht auffällt. Gleichzeitig mache ich Sie darauf aufmerksam, daß für dieses Ziel allerhand nötig sein wird. Nämlich die äußerste Tapferkeit, der tiefste Freiheitsdurst, die größte Selbstlosigkeit und der größte Egoismus.“17

      Das Thema der Tugenden, der persönlichen Eigenschaften zumal von Politikern, hat in den letzten Jahren besonders in Deutschland eine überraschende Aktualität gewonnen. Der eine hat kurz nach seinem Amtsantritt sein politisches Amt als Finanzminister fluchtartig aufgegeben, der andere gibt die Rolle des „elder statesman“: Erinnert sich noch jemand an die bittere Auseinandersetzung zwischen Oskar Lafontaine und dem damaligen Kanzler Helmut Schmidt in den frühen achtziger Jahren, als dieser – schon damals besorgt um den „Standort Deutschland“ – Disziplin, Fleiß und Ausdauer forderte? Der Chef der saarländischen SPD hielt dem Kanzler damals vor, lediglich „Sekundärtugenden“ gefordert zu haben, mit denen man ebenso gut ein Konzentrationslager leiten könne. Schmidt, als ehemaliger Wehrmachtsoffizier verständlicherweise tief getroffen, reagierte beleidigt. Dabei hatte Lafontaine, der bei den Jesuiten in die Schule gegangen ist, ganz recht. Die Tradition der abendländischen Tugendlehre bezieht bezüglich der Unterschiede von Primär- und Sekundärtugenden keine andere Position. Unter den „Kardinaltugenden“, so meinte etwa Thomas von Aquin im dreizehnten Jahrhundert, sei die vornehmste die Klugheit, die Gerechtigkeit die zweite, die Tapferkeit die dritte, Zucht und Maß aber die vierte.18 „Klugheit“ bedeutet bei Thomas nicht die Fähigkeit zum vorsichtigen Abwägen, sondern die Fähigkeit zum Erkennen der Wahrheit.

      Aber sogar wenn Lafontaine gegen Schmidt recht gehabt hätte – was spricht in einer weitgehend von Traditionsschwund, Pluralismus und Multikulturalismus bestimmten Gesellschaft dafür, den alten abendländischen und zopfig gewordenen Tugenddiskurs wieder aufzunehmen? Sollte Helmut Kohls vor zwanzig Jahren pathetisch verkündete „geistig-moralische Wende“, die glücklicherweise eine Wortblase blieb, vor derlei Begriffen nicht ebenso warnen wie die letztlich konservativen Appelle der Kommunitaristen, die zur Lösung aller Gegenwartsprobleme immer nur das „Ehrenamt“ anzubieten haben?19 Über Tugenden und ihre Theorie zu reden ist schon allein deshalb sinnvoll, weil sie nach Lage der Dinge das einzige Programm darstellen, das eine materialistische Ethik zeitgemäß zu Wort kommen läßt. Man mag zu dem britischen Soziologen Anthony Giddens, der sich zum intellektuellen Sprachrohr


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