Ruhelos. William Boyd

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Ruhelos - William  Boyd


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und setzten sich nebeneinander an den Mannschaftstisch. Sie fragte ihn – ohne zu wissen, warum –, ob er bei der Air Force sei, er sehe aus wie der typische RAF-Mann. Nein, sagte er spontan, bei der Navy, und in seine Augen trat ein merkwürdiger Ausdruck der Angst. Er verdächtigte sie, wurde ihr klar. Und er sprach sie nicht mehr an.

      Nach einem Monat Aufenthalt wurde sie eines Abends aus ihrem Zimmer ins Hauptgebäude gerufen. Man brachte sie zu einer Tür, wieder unter dem Dach, sie klopfte an und trat ein. Romer saß am Schreibtisch, eine Zigarette in der Hand, vor sich eine Flasche Whisky und zwei Gläser.

      »Hallo, Eva«, sagte er, ohne sich von seinem Platz zu erheben. »Ich wollte mich erkundigen, wie Sie vorankommen. Einen Drink?« Er zeigte auf einen Stuhl, und sie setzte sich. Romer redete sie immer mit Eva an, auch im Beisein von Leuten, die sie Eve nannten. Anscheinend sahen die anderen darin eine Art Kosenamen; sie vermutete jedoch, dass es für Romer eine kleine Machtdemonstration war, eine sanfte Erinnerung daran, dass er im Unterschied zu allen anderen ihren wahren Hintergrund kannte.

      »Nein, danke«, sagte sie zu der Flasche, die er ihr hinhielt.

      Romer schenkte ihr trotzdem ein und schob ihr das Glas hin.

      »Unsinn … Ich bin beeindruckt, aber ich kann nicht allein trinken.« Er prostete ihr zu. »Ich höre, Sie kommen gut zurecht.«

      »Wie geht es meinem Vater?«

      »Ein bisschen besser. Die neuen Tabletten scheinen zu helfen.«

      Ist das wahr, oder ist das eine Lüge?, fragte sich Eva. Ihre Ausbildung zeigte allmählich Wirkung. Dann wieder dachte sie: Nein, eine solche Lüge würde mir Romer nicht auftischen, weil ich das herausbekommen könnte. Also beruhigte sie sich ein wenig.

      »Warum durfte ich nicht zum Fallschirmspringen?«

      »Solange Sie für mich arbeiten, brauchen Sie das nicht, das schwöre ich Ihnen … Ihr Akzent ist wirklich gut. Hat sich sehr verbessert.«

      »Und Selbstverteidigung?«

      »Zeitverschwendung.« Er trank und schenkte sich nach. »Stellen Sie sich vor, Sie kämpfen um Ihr Leben: Sie haben Klauen und Zähne – Ihre Instinkte nützen Ihnen mehr als jedes Training.«

      »Muss ich um mein Leben kämpfen, wenn ich für Sie arbeite?«

      »Sehr, sehr unwahrscheinlich.«

      »Was muss ich also für Sie tun, Mr Romer?«

      »Bitte nennen Sie mich Lucas.«

      »Was muss ich also für Sie tun, Lucas?«

      »Was müssen wir tun, Eva. Am Ende Ihrer Ausbildung wird sich das alles zeigen.«

      »Und wann wird das sein?«

      »Wenn ich den Eindruck habe, dass Sie hinreichend ausgebildet sind.«

      Er stellte noch ein paar allgemeine Fragen, manche hatten mit den Verhältnissen in Lyne zu tun – war jemand zu freundlich oder neugierig gewesen, hatte jemand Fragen nach ihrer Anwerbung gestellt, hatte das Personal sie auffällig behandelt und so weiter. Sie lieferte ihm wahrheitsgemäße Antworten, und er hörte zu, nachdenklich, an seinem Whisky nippend, an seiner Zigarette ziehend, fast wie ein Vater, der sich überzeugen will, ob Lyne die passende Schule für sein begabtes Kind ist. Dann drückte er die Zigarette aus, stand auf, ließ die Whiskyflasche in die Jackentasche gleiten und ging zur Tür.

      »War sehr schön, Sie wiederzusehen, Eva«, sagte er. »Machen Sie weiter so.« Und damit verließ er den Raum.

      Eva schlief sehr unruhig in ihrem Schlupfloch am Fluss, alle zwanzig Minuten etwa wurde sie wach. Der kleine Wald um sie war voller Geräusche – Rascheln, Knacken, melancholische Eulenschreie –, aber sie hatte keine Angst; sie war nur eines von vielen Nachtwesen, das seine Ruhe wollte. Noch vor Morgengrauen wachte sie auf, weil sie sich erleichtern musste. Sie ging zum Fluss, ließ die Hosen herunter und kackte in das schnell dahinströmende Wasser. Jetzt konnte sie das Toilettenpapier benutzen und anschließend sorgfältig verscharren. Auf dem Rückweg zu ihrem Schlafbaum blieb sie stehen und schaute sich um, durchforschte den mondbeschienenen Wald mit den krummen grauen Baumstämmen, die einen losen Kreis um sie bildeten wie ein halb verfallener, löchriger Palisadenzaun; die Blätter über ihr raschelten trocken im Nachtwind. Sie kam sich vor wie in einer anderen Welt, wie in einem Traumzustand, einsam und verloren in der schottischen Landschaft. Niemand wusste, wo sie war, nicht einmal sie selbst. Aus irgendeinem Grund dachte sie an Kolja, ihren lustigen, launischen, ernsten kleinen Bruder, und für einen Augenblick befiel sie tiefe Traurigkeit. Sie tröstete sich mit dem Gedanken, dass sie all das für ihn tat, und machte eine kleine Trotzgeste, wie um zu zeigen, dass sein Tod nicht umsonst gewesen war. Auch empfand sie eine gewisse widerstrebende Dankbarkeit für Romer, dass er sie dazu gedrängt hatte. Vielleicht, dachte sie, als sie sich wieder in die Mulde legte, hatte Kolja mit Romer über sie gesprochen – vielleicht hatte Kolja ihn auf die Idee gebracht, sie eines Tages anzuwerben.

      Sie würde wohl kaum wieder einschlafen, dazu war sie viel zu munter, aber während sie so dalag, wurde ihr bewusst, dass sie noch nie so allein gewesen war, und sie fragte sich, ob auch das Teil der Übung war – so völlig allein gelassen zu werden, nachts in einem fremden Wald an einem fremden Fluss, und zu sehen, wie sie damit zurechtkam –, denn das hatte ja nichts mit Pfadfinderei und Orientierungskunst zu tun, es war nur eine Methode, jemanden für ein paar Stunden ganz auf sich selbst zurückzuwerfen. Sie lag da, bildete sich ein, dass es schon heller wurde, dass die Morgendämmerung bevorstand, und ihr wurde bewusst, dass sie die ganze Nacht ohne Angst überstanden hatte. Vielleicht, dachte sie, ist das der eigentliche Ertrag dieses Spiels, das Sergeant Law mit mir veranstaltet.

      Die Morgendämmerung kam überraschend schnell – Eva hatte keine Ahnung, wie spät es war; die Uhr hatte man ihr abgenommen, aber es kam ihr absurd vor, nicht auf den Beinen zu sein, während die Welt um sie erwachte, also ging sie zum Fluss, wo sie pinkelte, Gesicht und Hände wusch, Wasser trank, ihre Feldflasche füllte und das restliche Käsesandwich aß. Sie saß am Ufer, kauend, trinkend, und kam sich wie ein tierisches Wesen vor, ein menschliches Tier voller Instinkte und Reflexe, so wie sie es nie zuvor empfunden hatte. Es war lächerlich, wenn sie es bedachte: Sie hatte nur eine Nacht im Freien verbracht, eine balsamisch milde Nacht zudem, ausreichend gekleidet und mit Proviant versorgt, aber zum ersten Mal in den zwei Monaten ihres Aufenthalts in Lyne empfand sie so etwas wie Dankbarkeit für die seltsame Prozedur, der man sie aussetzte. Sie machte sich auf den Weg, flussabwärts, mit stetigem gemessenem Schritt und im Herzen ein Gefühl der Erhebung und Befreiung, das sie niemals für möglich gehalten hätte.

      Nach einer Stunde etwa kam sie zu einem befestigten Weg, der sie aus dem Tal herausführte. Zehn Minuten später nahm sie ein Farmer in seiner Ponykutsche mit und brachte sie bis zur Straße nach Selkirk. Von dort waren es noch zwei Meilen bis zur Stadt, und wenn sie erst in Selkirk war, konnte sie herausfinden, wie weit sie von Lyne entfernt war.

      Ein Touristenpaar aus Durham nahm sie bis nach Innerleithen mit, und dort nahm sie ein Taxi, um die letzten paar Meilen bis Lyne zurückzulegen. Sie ließ das Taxi eine halbe Meile vor der Einfahrt halten, bezahlte den Fahrer und umrundete den Berg, der dem Haus gegenüberlag, um sich von den Wiesen her zu nähern, als hätte sie nur einen kurzen Vormittagsbummel gemacht.

      Beim Näherkommen sah sie Sergeant Law und den Laird auf dem Rasen vor dem Gutshaus stehen und nach ihr Ausschau halten. Sie öffnete die Pforte zur Brücke über den Fluss und schritt ihnen entgegen.

      »Sie sind die Letzte, Miss Dalton«, sagte Law. »Trotzdem ein Lob. Sie waren am weitesten entfernt.«

      »Allerdings hatten wir nicht gedacht, dass Sie um den Cammlesmuir herumgehen«, sagte der Laird augenzwinkernd. »Oder, Sergeant?«

      »Wohl wahr, Sir. Miss Dalton ist immer für Überraschungen gut.«

      Sie ging in die Kantine, wo man ihr eine kalte Mahlzeit aufgehoben hatte – Büchsenschinken und Kartoffelsalat. Aus einer Karaffe schenkte sie sich Wasser ein und stürzte es hinunter, dann noch ein Glas. Sie saß allein da und zwang sich, langsam zu essen und nicht zu schlingen, obwohl sie einen Bärenhunger hatte. Sie war hochzufrieden


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