Ruhelos. William Boyd

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Ruhelos - William  Boyd


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Ich will nur, dass du meine Geschichte sorgfältig liest – gebrauch deinen Verstand. Deinen scharfen Verstand. Auch ich habe Fragen an dich. Jede Menge Fragen. Es gibt Sachen, von denen ich selber nicht weiß, ob ich sie verstehe …« Dieser Gedanke schien sie zu beunruhigen. Sie ging mit finsterer Miene hinaus. Ich goss mir Wein nach, dann dachte ich ans Blasröhrchen – Vorsicht. Meine Mutter kam mit einem neuen Hefter herein, den sie mir gab. Mich packte eine innere Wut, weil ich wusste, dass sie es absichtlich tat – mir ihre Geschichte in Raten zu liefern wie eine TV-Serie. Sie wollte mich bei der Stange halten, ihre Enthüllungen hinauszögern, damit die ganze Wirkung nicht mit einem Mal verpuffte. Statt des großen Erdbebens eine Serie kleiner Erschütterungen – das wollte sie. Um mich auf Trab zu halten.

      »Warum gibst du mir nicht den ganzen Kram auf einmal?«, sagte ich gereizter, als ich wollte.

      »Ich arbeite noch dran«, erwiderte sie ungerührt, »mache ständig kleine Änderungen. Es soll so gut werden wie nur möglich.«

      »Wann hast du das alles geschrieben?«

      »In den letzten zwei Jahren. Du siehst ja, dass ich laufend ergänze und streiche und umschreibe, damit alles klar und deutlich wird. Ich möchte, dass es stimmig wirkt. Bring es in Ordnung, wenn du willst – du kannst viel besser schreiben als ich.«

      Sie presste meinen Arm, aber mit Gefühl – um mich zu trösten, vermutlich: Meine Mutter mochte körperliche Kontakte nicht sonderlich, daher fiel es schwer, ihre seltenen Affektbezeugungen zu deuten.

      »Schau nicht so verdattert«, sagte sie. »Jeder hat seine Geheimnisse. Keiner weiß auch nur annähernd über den anderen Bescheid, egal wie nahe oder vertraut sie sich sind. Ich bin sicher, du hast Geheimnisse vor mir. Hunderte, Tausende. Fass dich an die eigene Nase – das mit Jochen hast du mir monatelang verschwiegen.« Sie streckte die Hand aus und strich mir übers Haar – was sehr ungewöhnlich war. »Mehr hab ich nicht im Sinn, Ruth, glaub mir. Ich will dir nur meine Geheimnisse anvertrauen. Du wirst verstehen, warum ich so lange damit warten musste.«

      »Wusste Dad Bescheid?«

      Sie zögerte. »Nein. Er wusste nichts.«

      Ich dachte eine Weile darüber nach, über meine Eltern und wie ich sie immer gesehen hatte. Kannst du alles vergessen, sagte ich mir.

      »Hat er nichts geahnt?«, fragte ich. »Nicht das Geringste?«

      »Ich glaube nicht. Wir waren sehr glücklich, das ist alles, was zählt.«

      »Warum hast du dann beschlossen, mir das alles zu erzählen? Mir deine Geheimnisse anzuvertrauen, so ganz aus heiterem Himmel?«

      Sie seufzte, schaute umher, wedelte fahrig mit den Händen, fuhr sich durchs Haar, trommelte mit den Fingern auf den Tisch.

      »Weil«, sagte sie schließlich, »weil ich glaube, dass jemand versucht, mich umzubringen.«

      Ich fuhr nach Hause, nachdenklich, langsam, vorsichtig. Jetzt war ich wohl ein wenig klüger, aber langsam machte mir die Paranoia meiner Mutter mehr zu schaffen als die Tatsache ihres seltsamen Doppellebens. Sally Gilmartin war – und daran musste ich mich erst noch gewöhnen – Eva Delektorskaja. Aber warum sollte jemand versuchen, eine sechsundsechzigjährige Frau und Großmutter, die in einem abgelegenen Dorf in Oxfordshire wohnte, umzubringen? Die Sache mit Eva Delektorskaja ging ja noch an, dachte ich, aber die Mordgeschichte ließ sich schon viel schwerer verdauen.

      Ich holte Jochen bei Veronica ab, und wir liefen durch Summertown zur Moreton Road. Der Sommerabend war schwül, die Blätter an den Bäumen wirkten müde und schlaff. Seit drei Wochen hochsommerliche Hitze, dabei hatte der Sommer gerade erst angefangen. Jochen war es zu heiß, also zog ich ihm das T-Shirt aus, und wir liefen Hand in Hand, ohne zu reden, jeder in seine Gedanken vertieft.

      Am Tor fragte er: »Ist Ludger noch da?«

      »Ja. Er bleibt ein paar Tage.«

      »Ist Ludger mein Daddy?«

      »Um Gottes willen, nein. Ganz bestimmt nicht. Ich sagte dir doch – dein Vater heißt Karl-Heinz. Ludger ist sein Bruder.«

      »Oh.«

      »Warum hast du geglaubt, er könnte dein Vater sein?«

      »Er ist aus Deutschland. Und du hast gesagt, ich bin in Deutschland geboren.«

      »Das stimmt auch.«

      Ich hockte mich hin und schaute ihm in die Augen, nahm ihn bei den Händen.

      »Er ist nicht dein Vater. Ich würde dich niemals belügen, mein Schatz. Dir sage ich immer die Wahrheit.«

      Er wirkte zufrieden.

      »Komm, drück mich«, sagte ich, und er legte die Arme um meinen Hals und küsste mich auf die Wange. Ich nahm ihn auf den Arm und trug ihn bis zu unserer Treppe und dann die Treppe hinauf. Als ich ihn absetzte, sah ich Ludger durch die Glastür der Küche. Er kam aus dem Badezimmer und lief durch den Korridor auf uns zu, Richtung Esszimmer. Er war nackt.

      »Bleib hier«, sagte ich zu Jochen und lief schnell durch die Küche, um Ludger abzufangen. Ludger rubbelte sich das Haar mit einem Handtuch und summte vor sich hin, während er auf mich zulief, sein Schwanz pendelte dabei hin und her.

      »Ludger.«

      »Oh«, sagte er. »Hi, Ruth.« Und ließ sich Zeit mit dem Bedecken seiner Blöße.

      »Würdest du das unterlassen, Ludger? Bitte nicht in meinem Haus.«

      »Sorry. Ich dachte, du wärst weg.«

      »Es kommen Schüler an die Tür, zu allen Zeiten. Sie können hineinsehen. Das ist eine Glastür.«

      Er reagierte mit seinem dreckigen Grinsen. »Wär doch eine nette Überraschung. Aber dich stört’s nicht.«

      »Doch, es stört mich. Bitte lauf nicht nackt herum.« Ich machte kehrt und holte Jochen herein.

      »Entschuldige, Ruth«, rief er mir weinerlich nach. Er konnte sich denken, dass ich stocksauer war. »Ich hab mir nichts dabei gedacht, ich war doch Pornodarsteller. Aber ich laufe nicht mehr nackt herum. Versprochen.«

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